Maurice mit Huhn
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Maurice mit Huhn von Matthias Zschokke
LESEPROBE
Irgendwann hat Maurice damit begonnen,sich seine eigenen Gedanken zu machen. Je länger er sich darin übte, destoschwerer tat er sich damit. Zu allem fiel ihm das eine oder andere ein,gleichzeitig aber auch immer dessen Gegenteil, weswegen er, weil er sichimmerzu selbst ins Wort fiel, schließlich die Lust verlor, überhaupt noch etwaszu sagen. Andere, die mit ihm älter geworden waren, redeten im Unterschied zuihm mehr und mehr. Flavian Karr zum Beispiel, dem vor Verzweiflung mit denJahren sämtliche Haare oben auf dem Kopf ausgefallen waren, hatte sichangewöhnt, so lange auf seine Gegenüber einzureden, bis die beim besten Willennicht mehr zuhören mochten und sich gemartert auf ihren Stühlen zu windenbegannen. Obwohl Flavian seine verheerende Wirkung jeweils durchausregistrierte, schaffte er es nicht, mit dem Reden aufzuhören. Er war in die entgegengesetzte Richtung von Maurice gerannt. Beide wußten sich nicht weiterzuhelfen. Wenn sie aufeinandertrafen, redete der Redner zwar durchausinteressant, doch der Schweiger wollte partout nicht einmal mehr dasInteressanteste hören, weil er längst gesättigt war von all dem Interessanten,das er im Lauf der Jahre erzählt bekommen hatte und das ihm hochzukommen oder,freundlicher ausgedrückt, über den Kopf zu wachsen drohte. Viele können, werdensie mitten in eine Gesellschaft geschmissen und fangen dort in ihrer Not an zusprechen, damit nicht mehr aufhören. Ihr Redeflußreißt sie mit. Trinken sie außerdem noch Alkohol dazu, schwillt ihre Rede an zueinem tosenden Strom. Das dumme Zeug selbst auszuhalten, das einem unteranderem in diesem Strom mit aus dem Maul stürzt, ist fast noch schwerer, alsden Mund zu halten und es, das dumme Zeug, in seinem Inneren einzusperren undes dort drin glucksen zu hören.
Wenn Maurice durch die dunklenStraßen geht, auf dem Weg zum Restaurant, in dem er sich mit Flavian zumAbendessen
Wonach könnte ich mich bei Flavianerkundigen, damit er ins Erzählen gerät? Und falls er nicht anspringt, waskönnte umgekehrt ich ihm berichten, das uns den Abend erträglich machen würde ? Zwar liebe ich ihn und er liebt mich, nur: warumbloß müssen wir uns treffen? Es wird einmal mehr entsetzlich. »Wir wollenunseren Freunden nicht lästig fallen«, genau, genau. Ich habe die letzten Monatewieder mit nichts als Aufstehen und Insbettgehenvertrödelt, ohne daß mir auch nur eine Minute darauszur Erzählung geronnen wäre. Und er? Er wird sich ebenso hohl zu diesem Treffenschleppen wie ich. Jetzt haben wir uns vielleicht länger als ein Jahr nichtmehr gesehen - oder sind es zwei, oder möglicherweise erst ein paar Wochen -,und trotzdem weiß ich beim besten Willen nichts Neues mitzuteilen. Umgekehrtwill ich auch nichts von ihm wissen. Und doch ist er mein bester Freund. Ichweiß, was und wie er denkt, und er weiß, was und wie ich denke. Wir verwirreneinander nicht mehr durch überraschende Äußerungen. Im Gegenteil: Der Vorwurfoder das Kompliment, hin und wieder noch nie dageweseneAnsichten ans Tageslicht zu befördern, perlt an ihm wie an mir aufs entschiedenste ab. Wir reden, wie man in unserem Alter,unserer Region, unserem Milieu halt so redet. Denken und fühlen tun wirwomöglich anderes, aber es gelingt uns nicht, unser Denken und Fühlen in eigeneWorte zu fassen. Diejenigen, die sich bemühen, in eigene Worte zu fassen, wassie denken und fühlen, halten wir für ausgemachte Einfaltspinsel. Manchmalsteigt das gärende Gemenge aus meinem Innern hoch und würgt mich im Hals. Ichmöchte dann blöken wie ein Schaf, muhen wie ein Rind, winseln wie ein Hund, umdem Empfinden, das mich plagt, Ausdruck zu verleihen. Aber ich tue es nicht.Und wenn ich Flavian in die Augen schaue - was man nicht tun sollte, einemguten Bekannten oder gar einem Freund in die Augen schauen, weil man dabei oftfurchtbar erschrickt -, sehe ich, daß auch er schieran sich erstickt und nicht weiß, wie sich ausdrücken. Er sehnt sich wie wiralle nach einem Zustand, in dem sein Inneres mit seinem Äußeren im Einklangruht. Er denkt, vielleicht sei so ein Zustand woanders zu finden, in Burmabeispielsweise. Er weiß nichts von Burma. Gegen Mitternacht wird er fragen:Trinken wir noch ein Glas zum Abschluß? Und ich werdesagen ja, gern.
In orientalischen Dampfbädern, indenen man dem Vernehmen nach von Bademeistern eingeseift, geschrubbt, geknetetund gewalkt wird, soll sich, wie ich gelesen habe, der Türsteher am Ausgang vomfrisch Gereinigten mit der Redewendung verabschieden: Werde gesund schmutzig.So irgendwo verabschiedet zu werden würde mir gefallen. Ich mag öffentlicheBadehäuser. Einmal habe ich mich in der Adresse vertan und geriet in eine Artdämmriges Schlachthaus, wo etwa fünfzig nackte ältere Herren, zum Teilübereinander, in verschieden warmen Bottichen lagen und gemeinsam irgendeinFirmenjubiläum zu feiern schienen. In der kleinsten, heißesten Wanne sah esgeradezu aus, als steckten die Kollegen vor lauter Platzmangel ineinander drin.Ich wußte kaum, wohin mit mir, und blieb, erstarrtwie ein verschämtes Schulmädchen, am Eingang stehen. In der Hoffnung, in derDampfstube etwas mehr Raum für mich zu finden, suchte ich die auf. Doch dort,im dichten Dunst, war das Gedränge noch größer, so daßeinem nichts anderes übrigblieb, als sich beherztzwischen der vielen schlüpfrigen Haut durchzuzwängen, um von der einen Ecke indie andere zu flutschen und in die Sauna zu gelangen, wo es den meisten offenbarzu trocken und zu heiß war. Da setzte ich mich auf eine Pritsche und tropfteverwirrt vor mich hin. Neben mir saß ein bejahrter Einzelgänger, wohl derProkurist der Firma, der kurz vor seiner Pensionierung zu stehen schien, undmusterte traurig unsere beiden Bäuche, während ihm die Hitze mehr und mehr zuKopf stieg. Als er blau anzulaufen drohte, wurde mir unheimlich zumute, und ichmachte mich, um nicht fremdem Sterben beiwohnen zu müssen, aus dem Staub.Seither frage ich mich, ob das möglicherweise einer dieser berüchtigtenSexclubs gewesen war, von denen man manchmal liest, und ob ich wohl dieeinmalige Gelegenheit verpaßt habe, an einersodomitischen Orgie teilzunehmen. Falls ja, muß ichgestehen, daß ich mir diese immer irgendwieprickelnder vorgestellt habe. Das fiel mir eben ein zum »Werde gesund schmutzig«, erzählt Maurice seinem langjährigen Freund zum Abschied, nachdem sie beidemüde, ja zu Tode erschöpft sind von der Erkenntnis, leer und nichtssagend zu sein. Flavian nimmt ihn in seine Arme undsagt gerührt, du auch, mein Lieber, mein Allerliebster, du auch, werde gesundschmutzig.
© Ammann Verlag& Co., Zürich. Alle Rechte vorbehalten.
- Autor: Matthias Zschokke
- 2006, 1, 239 Seiten, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Zurcher, Patricia
- Verlag: Ammann
- ISBN-10: 3250600903
- ISBN-13: 9783250600909
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