Mein ist die Stunde der Nacht
Zusammen mit Detective Sam Regan versucht sie, dem Killer auf die Spur zu kommen. Und sie ahnt bald Furchtbares.
Bei der Preisverleihung schliesslich wird Jean Detective Sam Regan vorgestellt, der hartnäckig in einem Jahre zurückliegenden Mord an einer jungen Frau ermittelt. Gibt es eine Verbindung zwischen diesem Fall und dem Schicksal der toten Schulfreundin? Noch ahnt niemand, dass der Killer, der sich die "Eule" nennt, bei der Preisverleihung unter den Anwesenden ist und schon sein letztes Opfer auserkoren hat.
Eine Serie von Frauenmorden erschtert New York. Alle Opfer sind ehemalige Absolventinnen derselben Eliteschule. Als die Historikerin Jean Sheridan zu einem Ehemaligen-Treffen reist, beschleicht sie ein grausamer Verdacht: Der Killer - die Eule - befindet sich mitten unter ihnen.
Die Historikerin Jean Sheridan reist zu einem Ehemaligen-Treffen in ihre Heimatstadt, bei dem sie und sechs andere aus ihrem Jahrgang ausgezeichnet werden sollen. erschattet wird das Treffen von der Nachricht, dass eine der sechs ein paar Tage zuvor tot in ihrem Pool aufgefunden wurde - die ffte ihres Jahrgangs, die auf rselhafte Weise ums Leben gekommen ist.
Bei der Preisverleihung schlieich wird Jean Detective Sam Regan vorgestellt, der hartnkig in einem Jahre zurkliegenden Mord an einer jungen Frau ermittelt. Gibt es eine Verbindung zwischen diesem Fall und dem Schicksal der toten Schulfreundin?
Noch ahnt niemand, dass der Killer, der sich die "Eule" nennt, bei der Preisverleihung unter den Anwesenden ist und schon sein letztes Opfer auserkoren hat.
ZUM DRITTEN MAL innerhalb eines Monats war er nach Los Angeles gekommen, um ihren Tagesablauf zu beobachten. "Ich weiß genau, wann du kommst und wann du gehst", flüsterte er, während er im Badehaus wartete. Es war eine Minute vor sieben. Die Morgensonne drang durch die Baumkronen und ließ den kleinen Wasserfall, der sich in das Becken ergoss, funkeln und glitzern.
Er fragte sich, ob Alison spürte, dass ihr nur noch eine Minute auf dieser Erde blieb. Hatte sie vielleicht eine vage Vorahnung, gab es eine unbewusste Stimme, die ihr einflüsterte, an diesem Morgen nicht schwimmen zu gehen? Aber selbst wenn dem so sein sollte, würde es ihr nichts mehr nützen. Es war zu spät.
Die verglaste Schiebetür öffnete sich, und sie trat auf die Terrasse. Sie war jetzt achtunddreißig Jahre alt und ungleich attraktiver als vor zwanzig Jahren. Ihr Körper, sonnengebräunt und wohl geformt, kam in dem Bikini gut zur Geltung. Ihre Haare, jetzt honigblond, rahmten und milderten ihr etwas kantiges Kinn.
Sie warf das Handtuch, das sie über dem Arm getragen hatte, auf einen der Liegestühle. Die unstillbare Wut, die in ihm gebrodelt hatte, schwoll zu ungebremstem Hass an, doch wurde sie gleich darauf ebenso rasch ersetzt durch das befriedigende Gefühl, genau zu wissen, was er in den nächsten Augenblicken tun würde. Er hatte einmal ein Interview gesehen, in dem ein waghalsiger Kunsttaucher gesagt hatte, der Moment vor dem Absprung - mit dem Bewusstsein, sein Leben zu riskieren - sei ein unbeschreiblicher Nervenkitzel, dem er sich wie unter Zwang immer wieder aussetzen müsse.
Bei mir ist es anders, dachte er. Es ist der Augenblick, bevor ich mich ihnen zeige, der mich in höchste Erregung versetzt. Ich weiß, dass sie sterben werden, und sobald sie mich sehen, wissen sie es ebenfalls. Sie begreifen, was ich ihnen antun werde.
Alison betrat das Sprungbrett und streckte sich. Er sah zu, wie sie ein paar Mal wippte, wie um das Brett zu testen, und dann ihre Arme ausstreckte.
Er
In diesem Sekundenbruchteil trafen sich ihre Blicke. Er sah den Ausdruck auf ihrem Gesicht, bevor sie in das Wasser eintauchte: blankes Entsetzen, weil sie wusste, dass es keine Möglichkeit gab zu entkommen.
Noch bevor sie wieder an die Oberfläche gelangt war, hatte er sie erreicht. Er presste sie an seine Brust und musste lachen, als sie um sich schlug und mit den Beinen strampelte. Wie dämlich sie sich anstellte. Anstatt sich in das Unvermeidliche zu fügen. "Jetzt wirst du sterben", flüsterte er mit ruhiger Stimme.
Ihre Haare klebten in seinem Gesicht und nahmen ihm die Sicht. Ungeduldig schüttelte er sie fort. Nichts sollte ihn von dem Vergnügen ablenken, ihren Kampf ums Überleben zu verfolgen.
Es würde nicht mehr lange dauern. Nach Luft ringend, hatte sie den Mund geöffnet und Wasser geschluckt. Er spürte ihr letztes verzweifeltes Aufbäumen, den letzten Versuch, von ihm loszukommen, dann die letzten schwachen Zuckungen, als ihr Körper zu erschlaffen begann. Er presste sie an sich, wie um herauszufinden, was in ihr vorging. Betete sie? Flehte sie Gott an, ihr Leben zu retten? Erblickte sie jenes ominöse Licht, von dem Menschen, die dem Tode nahe gewesen waren, immer wieder berichteten?
Er wartete drei volle Minuten, bevor er sie losließ. Mit zufriedenem Lächeln sah er zu, wie ihr Körper auf den Boden des Beckens sank.
Es war fünf nach sieben, als er aus dem Becken kletterte. Er zog ein Sweatshirt, Shorts, Laufschuhe und eine Mütze an und setzte eine dunkle Sonnenbrille auf. Er hatte bereits die Stelle ausgewählt, an der er das Erkennungszeichen für seinen Besuch hinterlassen würde, die Visitenkarte, die bisher alle übersehen hatten.
Sechs Minuten nach sieben joggte er die ruhige Straße entlang, ein frühmorgendlicher Fitnessfanatiker in einer Stadt voller Fitnessfanatiker.
2
SAM DEEGAN HATTE an diesem Nachmittag gar nicht die Absicht gehabt, die Akte von Karen Sommers zu öffnen. Er hatte in der untersten Schublade seines Schreibtischs gewühlt, auf der Suche nach einer Schachtel Erkältungstabletten, die er nach seiner Erinnerung dort deponiert hatte. Als der schon abgegriffene und merkwürdig vertraute Aktendeckel zum Vorschein kam, zögerte er kurz, nahm ihn dann mit einem Seufzen heraus und schlug ihn auf. Sein Blick fiel auf das Datum, und er dachte, es müsse wohl doch eine Art unbewusste Absicht gewesen sein, die ihn zu der Akte geführt hatte. Nächste Woche, am Columbus Day, würde es genau zwanzig Jahre her sein, dass Karen Sommers ermordet worden war.
Die Akte hätte eigentlich bei den anderen ungelösten Fällen aufbewahrt werden müssen, aber drei aufeinander folgende Staatsanwälte von Orange County hatten seinem Wunsch nachgegeben, sie in Reichweite zu behalten. Vor zwanzig Jahren war Sam als erster Beamter vor Ort gewesen, nachdem eine völlig verstörte Frau angerufen und in den Hörer geschrien hatte, ihre Tochter sei erstochen worden.
Wenige Minuten später, als er das Haus an der Mountain Road in Cornwall-on-Hudson betreten hatte, waren im Schlafzimmer des Opfers bereits eine Reihe von zu Hilfe geeilten Menschen versammelt gewesen, denen das Grauen im Gesicht geschrieben stand. Ein Nachbar hatte sich über das Bett gebeugt und versucht, eine vollkommen nutzlose Mund-zu-Mund-Beatmung durchzuführen. Andere hatten sich bemüht, die verstörten Eltern vom grässlichen Anblick der brutal zugerichteten Leiche ihrer Tochter wegzudrängen.
Karen Sommers' schulterlanges Haar war über das Kissen ausgebreitet gewesen. Nachdem er den übereifrigen Helfer beiseite geschoben hatte, war Sam der grauenhaften Stichwunden in Karens Brust und Herz ansichtig geworden, die zu ihrem sofortigen Tod geführt haben mussten. Das Laken war geradezu durchtränkt gewesen mit ihrem Blut.
Er entsann sich, dass er als Erstes gedacht hatte, die junge Frau habe ihren Mörder wahrscheinlich nicht einmal eintreten hören. Vermutlich ist sie überhaupt nicht aufgewacht, dachte er, während er kopfschüttelnd in der Akte blätterte. Die Schreie der Mutter hatten nicht nur die Nachbarn zu Hilfe eilen lassen, sondern auch einen Gärtner und einen Boten, die sich gerade auf dem Nachbargrundstück aufgehalten hatten. Am Tatort hatte daher ein großes Durcheinander geherrscht, wodurch möglicherweise wertvolle Spuren vernichtet worden waren.
Es hatte keinerlei Hinweise auf einen Einbruch gegeben. Gefehlt hatte auch nichts. Karen Sommers, eine zweiundzwanzigjährige Medizinstudentin, hatte ihre Eltern mit einem Besuch überrascht und war über Nacht geblieben. Der erste Verdacht war logischerweise auf ihren Exfreund, Cyrus Lindstrom, gefallen, der im dritten Jahr Jura an der Columbia University studierte. Er hatte zugegeben, dass es Karen gewesen sei, die den Vorschlag gemacht habe, sich fürs Erste zu trennen, aber er hatte gleichzeitig darauf beharrt, dass dies auch sein Wunsch gewesen sei, weil keiner von ihnen zu einer engeren Beziehung bereit gewesen sei. Sein Alibi - er habe in der Wohnung geschlafen, die er mit drei anderen Jurastudenten teilte - war bestätigt worden, obwohl alle drei Wohnungsgenossen zugegeben hatten, vor Mitternacht schlafen gegangen zu sein, und daher nicht mit Bestimmtheit ausschließen konnten, dass Lindstrom die Wohnung nach diesem Zeitpunkt verlassen hatte. Den Schätzungen zufolge war Karen Sommers' Tod zwischen zwei und drei Uhr morgens eingetreten.
Lindstrom war ein paar Mal im Haus der Sommers' zu Besuch gewesen. Er wusste, dass ein Reserveschlüssel unter dem Zierfelsen in der Nähe der hinteren Haustür lag. Er wusste, dass sich Karens Zimmer gleich rechts vom Treppenaufgang befand. Aber damit konnte man nicht beweisen, dass er mitten in der Nacht die fünfzig Meilen von der Ecke Amsterdam Avenue und 104. Straße in Manhattan nach Cornwall-on-Hudson gefahren war und sie ermordet hatte.
"Person of interest", weder verdächtig, noch unverdächtig - so bezeichnen wir heutzutage Leute wie Lindstrom, dachte Sam. Ich war und bin immer noch überzeugt, dass er es gewesen ist. Nie habe ich verstanden, wieso Karens Eltern so zu ihm gestanden haben. Meine Güte, man hätte fast glauben können, sie verteidigten ihren eigenen Sohn.
Unwillig ließ Sam die Akte auf seinen Schreibtisch fallen, erhob sich und ging zum Fenster. Von seinem Standpunkt aus konnte er den Parkplatz überblicken, und er erinnerte sich an einen Vorfall mit einem Häftling, der des Mordes angeklagt war. Der hatte zunächst einen Wärter überwältigt, war dann aus dem Fenster des Gerichtsgebäudes gesprungen, über den Parkplatz gehetzt, hatte einen Mann, der gerade in seinen Wagen steigen wollte, beiseite gestoßen und war davongebraust.
Binnen zwanzig Minuten haben wir ihn wieder eingefangen, dachte Sam. Wieso bin ich nach zwanzig Jahren nicht imstande, den Kerl zu überführen, der Karen Sommers auf dem Gewissen hat? Es war Lindstrom, da bin ich mir immer noch sicher.
Lindstrom hatte es mittlerweile zum New Yorker Staranwalt gebracht. Dafür zu sorgen, dass so ein Schwein von einem Mörder freikommt, darin ist er ein wahrer Meister, dachte Sam. Passt doch wunderbar - schließlich gehört er selber zu der Bande.
Er zuckte die Achseln. Es war ein mieser Tag, regnerisch und ungewöhnlich kalt für Anfang Oktober. Früher habe ich diesen Job geliebt, dachte er, aber das hat sich geändert. Mittlerweile bin ich reif für die Rente. Ich bin achtundfünfzig. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich bei der Polizei gearbeitet. Warum in Gottes Namen sollte ich mich nicht auf die Pensionierung freuen? Ein paar Kilo abnehmen. Die Kinder besuchen und mehr Zeit für die Enkel haben. Bevor man's richtig merkt, sind sie schon auf dem College.
Er spürte leichte Anzeichen von aufkommenden Kopfschmerzen, als er mit der Hand durch seine ausgedünnten Haare fuhr. Kate hatte ihn immer wieder ermahnt, sich das abzugewöhnen, dachte er. Sie hatte behauptet, es schwäche die Haarwurzeln.
Über die unwissenschaftliche Analyse seiner verstorbenen Frau, die damit wohl kaum die wahren Gründe für die fortschreitende Glatzenbildung benannt hatte, musste er unwillkürlich lächeln. Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück und starrte wieder auf die Akte mit der Überschrift "Karen Sommers".
Immer noch besuchte er regelmäßig Karens Mutter Alice, die inzwischen in einer Eigentumswohnung in der Stadt wohnte. Er wusste, dass es tröstend für sie war, das Gefühl zu haben, dass sie immer noch versuchten herauszufinden, wer ihre Tochter auf dem Gewissen hatte, aber es steckte noch mehr dahinter. Sam hatte das Gefühl, dass Alice irgendwann einmal etwas erwähnen könnte, das ihr bisher nicht wichtig erschienen war, etwas, das doch noch einen Hinweis auf denjenigen geben könnte, der in jener Nacht in Karens Zimmer eingedrungen war.
Das ist es, was mich in den letzten Jahren angetrieben hat, mit der Arbeit weiterzumachen, dachte er. Ich wollte diesen Fall unbedingt noch lösen. Aber jetzt kann ich es nicht mehr länger aufschieben.
Er setzte sich, öffnete die unterste Schublade, hielt inne. Es hatte keinen Sinn mehr. Es war an der Zeit, diese Akte zu den übrigen Akten mit den ungelösten Fällen ins Archiv zu geben. Er hatte sein Bestes getan. In den ersten zwölf Jahren nach dem Mord war er jeweils am Jahrestag auf den Friedhof gegangen. Den ganzen Tag lang war er dort geblieben, hinter einem Mausoleum versteckt, und hatte Karens Grab beobachtet. Er hatte sogar ein Mikrofon am Grabstein installiert, um gegebenenfalls irgendetwas einzufangen, was ein Besucher sagen könnte. Es hatte schon Fälle gegeben, bei denen Mörder am Jahrestag des Verbrechens das Grab ihres Opfers aufgesucht und mit ihm über die Tat gesprochen hatten.
Doch die einzigen Menschen, die je am Todestag vor Karens Grab erschienen waren, waren ihre Eltern gewesen, und er hatte tiefe Scham darüber empfunden, in ihre Privatsphäre eingedrungen zu sein, als er heimlich mitgehört hatte, was sie in Erinnerung an ihre einzige Tochter zueinander gesagt hatten. Vor acht Jahren hatte er es aufgegeben hinzugehen, nachdem Michael Sommers gestorben war und nur noch Alice an dem Grab stand, in dem nunmehr ihr Mann und ihre Tochter lagen. An diesem Tag hatte er sich still entfernt, weil er nicht Zeuge ihrer Trauer sein wollte. Er war nie zurückgekehrt.
Sam stand auf und klemmte sich Karen Sommers' Akte unter den Arm. Sein Entschluss war gefallen. Er würde nie mehr hineinschauen. Und in der nächsten Woche, am zwanzigsten Jahrestag von Karens Tod, würde er sein Gesuch um Pensionierung einreichen.
Und dann werde ich noch einmal auf den Friedhof gehen, dachte er. Nur um ihr mitzuteilen, dass es mir Leid tut, aber dass ich einfach nicht mehr für sie tun konnte.
3
SIE HATTE FAST sieben Stunden für die Fahrt von Washington durch Maryland, Delaware und New Jersey nach Corn-wall-on-Hudson gebraucht. Eine Reise, auf die sich Jean Sheridan nicht besonders gefreut hatte - nicht so sehr wegen der weiten Strecke, sondern weil für sie Cornwall, die Stadt, in der sie aufgewachsen war, mit schmerzvollen Erinnerungen verbunden war.
Was auch immer Jack Emerson - der Vorsitzende des Organisationskomitees für das zwanzigste Klassentreffen ihres Highschool-Jahrgangs - an Überzeugungskraft und Charme aufbieten mochte, sie hatte fest vorgehabt, ihre Teilnahme abzusagen. Arbeit, anderweitige Verpflichtungen, Krankheit - irgendetwas hatte sie vortäuschen wollen, um der Feier zu entgehen.
Sie hatte nicht den geringsten Wunsch, ihren Abschluss an der Stonecroft Academy vor zwanzig Jahren zu feiern, auch wenn sie durchaus dankbar war für das Wissen, das sie dort erworben hatte. Nicht einmal aus der Medaille für "herausragende ehemalige Schülerinnen und Schüler", die sie bekommen sollte, machte sie sich etwas, ungeachtet der Tatsache, dass ihr Stipendium für Stonecroft eine wichtige erste Etappe auf dem Weg zum Stipendium für Bryn Mawr und zu der sich daran anschließenden Promotion in Princeton gewesen war.
Als aber eine Gedenkfeier für Alison in das Programm des Treffens eingefügt worden war, hatte sie unmöglich absagen können.
Alisons Tod hatte immer noch etwas so Unwirkliches, dass es Jean beinahe vorkam, als könne jederzeit das Telefon klingeln und sie die vertraute Stimme hören, die oft in atemberaubendem Tempo abgehackte Sätze hervorsprudelte, als ob alles in zehn Sekunden gesagt werden müsse: "Jeannie! Von dir hört man überhaupt nichts mehr. Du hast mich wohl vergessen. Ich hasse dich. Nein, tu ich nicht. Ich liebe dich. Ich bewundere dich. Du bist so verdammt klug. Nächste Woche ist eine Premiere in New York. Curt Ballard ist einer meiner Kunden. Ein absolut fürchterlicher Schauspieler, sieht aber dermaßen gut aus, dass es niemanden stört. Seine neueste Freundin kommt auch. Wenn ich dir den Namen verrate, fällst du in Ohnmacht. Also, was ist, kannst du am nächsten Dienstag kommen, Cocktails um sechs, dann der Film, danach privates Dinner mit zwanzig oder dreißig oder fünfzig Leuten?"
Alison hatte es immer geschafft, Botschaften dieser Art in nicht mehr als zehn Sekunden zu übermitteln, dachte Jean, und war jedes Mal schockiert gewesen, wenn Jean - in neunzig Prozent aller Fälle - nicht alles stehen und liegen lassen konnte, um nach New York zu eilen und sie zu treffen.
Fast einen Monat war Alison jetzt schon tot. Und so schwer das auch zu begreifen war, die Tatsache, dass sie möglicherweise ermordet worden war, schien geradezu unerträglich. Natürlich hatte sie sich im Laufe ihrer Karriere Feinde gemacht. Niemand gelangt an die Spitze einer der größten Agenturen für junge Talente im ganzen Land, ohne gehasst zu werden. Außerdem waren Alisons messerscharfer Verstand und ihr beißender Sarkasmus schon mit den gefürchteten Bemerkungen der legendären Dorothy Parker verglichen worden. Könnte jemand sie aus bloßer Rachsucht umgebracht haben, jemand, den sie lächerlich gemacht oder gefeuert hatte?
Mir wäre es lieber, wenn sie einen Schwächeanfall gehabt hätte, als sie in das Becken tauchte, dachte Jean. Der Gedanke, dass jemand sie unter Wasser gedrückt haben könnte, ist schwer zu ertragen.
Ihr Blick fiel auf ihre Tasche auf dem Beifahrersitz, und sofort begannen ihre Gedanken um den Briefumschlag zu kreisen, der sich darin befand. Was soll ich tun? Wer hat diesen Brief geschickt und warum? Wie kann jemand etwas von Lily erfahren haben? Steckt sie in Schwierigkeiten? O Gott, was soll ich nur tun? Was "kann" ich überhaupt tun?
Diese Fragen bereiteten ihr schon wochenlang schlaflose Nächte, seitdem sie den Laborbericht erhalten hatte.
Sie hatte jetzt die Stelle erreicht, an der die Straße nach Cornwall von der Route 9W abzweigt. Und in der Nähe von Cornwall befand sich West Point ... Jean spürte, wie es ihr den Hals zusammenschnürte, und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf den herrlichen Oktobernachmittag zu lenken. Die Bäume leuchteten in den schönsten Herbstfarben, gold, orange und glühend rot. Darüber erhoben sich die Berge und strahlten wie immer eine majestätische Ruhe aus. Die Hudson River Highlands. Ich hatte ganz vergessen, wie schön es hier ist, dachte sie.
Doch unweigerlich brachte dieser Gedanke die Erinnerung an die Sonntagnachmittage in West Point zurück, als sie häufig bei solchen Stimmungen wie der heutigen auf den Treppen des Denkmals gesessen hatte. Dort hatte sie ihr erstes Buch angefangen, eine Geschichte von West Point.
Autoren-Porträt von Mary Higgins Clark
Mary Higgins Clark gehört zu den meistgelesenen Autorinnenvon Spannungsliteratur. Sie hat vierundzwanzig Romane geschrieben, die weltweitganz oben auf den Bestsellerlisten standen und für die sie zahlreicheAuszeichnungen erhielt, u.a. den begehrten Edgar Award.
Interview mit Mary Higgins Clark
Sie wurden 1928 als Tochter irischer Einwanderer in New Yorkgeboren. Glauben Sie, es stimmt, dass den Iren das Geschichtenerzählen im Blutliegt und auch Ihnen diese Leidenschaft von Ihren Vorfahren in die Wiege gelegtwurde? Und gibt es in Ihrem Schreiben Elemente, die Sie als "typischirisch" empfinden?
Ich habe immer gesagt, dass meine irische Herkunft der Grunddafür ist, dass ich seit meiner Kindheit Geschichten erzähle. Es gibt einwunderbares Zitat über den irischen Dichter und Dramatiker William Butler Yeats: "...als Ire hatte er einen immerwährenden Sinnfür Tragik, der ihm half, die zeitweiligen Perioden der Freude zu überstehen."
Übrigens: Wirklich spannende Romane vermitteln ihren Lesern immerunterschwellig das Gefühl: "Hier läuft irgendetwas schief". Und wir Irenglauben immer, dass ein Übel im Anmarsch ist, auch wenn gerade alles ganz gutaussieht.
Sie mussten einige Absagen hinnehmen, bevor 1975 Ihr ersterThriller "Wintersturm" mit großem Erfolg veröffentlicht wurde. Wiebehält man unter diesen Umständen als Schriftstellerin den Glauben an seineeigenen Fähigkeiten? Hatten Sie Freunde, die Sie in Ihrer Arbeit unterstützten?
Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich eines Tages eineerfolgreiche Schriftstellerin sein würde, auch wenn das im Rückblick jetztvielleicht überheblich klingen mag. Ich bin davon überzeugt, dass es in derAnfangszeit für einen Schriftsteller wichtig ist, sich einerAutorengemeinschaft anzuschließen. Die Aufmunterung und Unterstützung durch Menschen,die die gleichen Ziele verfolgen, schaffen neue Energien und erfüllen einenwieder mit Leben.
Der spürbarste Effekt meines plötzlichen Erfolges war, dasswir nach jahrelangen Sorgen darüber, wie wir unsere Rechnungen bezahlen sollen,das erste Mal Geld hatten. Es war ein Geschenk des Himmels, von heute auf morgenso viel Geld zu haben. Ich konnte den Kredit abbezahlen, den wir für dieAusbildung der Kinder aufgenommen hatten. Da "Wintersturm" soerfolgreich war, bezahlte mein Verleger Simon & Schuster einen sehr hohenPreis für meinen zweiten Roman. Und das war dann wirklich der finanzielleDurchbruch. Aber selbst wenn sich "Wintersturm" nicht so gut verkaufthätte, hätte ich nicht aufgehört, Bücher zu schreiben.
Ihre Tochter Carol ist eine bekannte Schauspielerin undAutorin. Einige Krimis schrieben Sie auch gemeinsam mit ihr, beispielsweise"Gefährliche Überraschung". Gestaltet sich eine Zusammenarbeitzwischen Mutter und Tochter denn nicht besonders schwierig?
Carol und ichgenießen es absolut, miteinander zu schreiben. Es ist extrem hilfreich, mancheIdeen zusammen durchzuspielen. Alle fragen, ob wir nicht wenigstens einengroßen Streit hatten, seit wir zusammen Bücher schreiben. Die Antwort ist sehreinfach: Nein. Wir verfolgen mit unserer Arbeit beide das gleiche Ziel.
Sie selbst haben fünf Kinder, Ihr zweiter Mann brachte vierKinder mit in die Ehe. Insgesamt haben Sie mittlerweile 16 Enkelkinder - mankönnte sich vorstellen, dass Sie von Ihrer Familie rund um die Uhr auf Trabgehalten werden. Aber Sie haben es geschafft, mit Ihren Büchern zu einer internationalenBestsellerautorin zu avancieren. Wann finden Sie die Zeit zum Schreiben? Wasbedeutet das Wort "Disziplin" für Sie?
Ich bin sehrglücklich darüber, eine große Familie zu haben. Meine Kinder, die Kinder meinesMannes und unsere Enkelkinder leben alle nicht weit entfernt von uns. Wir sehensie regelmäßig und verreisen auch ab und zu zusammen. Ich bin eine sehrdisziplinierte Schriftstellerin. In meinem Vertrag ist vorgesehen, dass ich proJahr ein Buch schreibe. Manchmal, wie jetzt beispielsweise, schreibe ichzusätzlich noch ein Weihnachtsbuch mit Carol. Ich habe bisher noch keinenRedaktionsschluss verpasst und habe das auch in Zukunft nicht vor. Wenn icheinen Vertrag über ein neues Buch abschließe, dann schätze ich die Tatsachesehr, dass der Verleger mir in dem Punkt vertraut, dass ich das Manuskriptpünktlich abgebe. Auch das ist für mich Disziplin. So weit, so gut.
Die Fragenstellte Roland Große Holtforth, literaturtest.de.
- Autor: Mary Higgins Clark
- 2004, 431 Seiten, Maße: 14,3 x 22,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Gressmann, Andreas
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453000439
- ISBN-13: 9783453000438
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