Mein italienisches Herz
'Ein Schicksalsschlag führt die junge Italienerin Giovanna nach New York. Der Unterschied zwischen ihrer sonnendurchfluteten, duftenden, in tausend Farben blühenden Heimat und der steinernen, lauten, maßlos in den Himmel wachsenden Metropole könnte kaum...
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Produktinformationen zu „Mein italienisches Herz “
'Ein Schicksalsschlag führt die junge Italienerin Giovanna nach New York. Der Unterschied zwischen ihrer sonnendurchfluteten, duftenden, in tausend Farben blühenden Heimat und der steinernen, lauten, maßlos in den Himmel wachsenden Metropole könnte kaum größer sein. Aber Giovanna ist eine Kämpfernatur. Und findet ein neues Glück, wo sie es am wenigsten vermutet hätte.
Klappentext zu „Mein italienisches Herz “
Ein Schicksalsschlag führt die junge Italienerin Giovanna nach New York. Der Unterschied zwischen ihrer sonnendurchfluteten, duftenden, in tausend Farben blühenden Heimat und der steinernen, lauten, maßlos in den Himmel wachsenden Metropole könnte kaum größer sein. Aber Giovanna ist eine Kämpfernatur. Und findet ein neues Glück, wo sie es am wenigsten vermutet hätte.
Lese-Probe zu „Mein italienisches Herz “
Mein italienisches Herz von Laurie FabianoProlog
Hoboken,Hoboken, NewNew Jersey,Jersey, 19851985
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»Wir wohnten in der Elizabeth Street Nummer 202.« Meine Großmutter löste ihren Blick von der Videokamera und schaute mich an. »Wieso machst du nichts mit deinem Haar? Und warum gehst du nicht zur Kosmetikerin?«
Ich ignorierte das, denn es war keine Frage, sondern ein immer wiederkehrender Refrain. »Nanny, versuch doch mal still zu sitzen. Du gerätst mir ständig aus dem Bild.«
Ich stand zum zehnten Mal auf, um die Kamera neu zu positionieren. Meine Großmutter saß in einer roten Polyesterbluse auf dem Sofa. Sie hatte sich ihr blond gefärbtes Haar legen lassen, so dass zwei Locken ihr Gesicht einrahmten, das von einer Brille mit Goldrahmen dominiert wurde. Sie war achtzig Jahre alt und konnte sich zwar an Einzelheiten erinnern, die mehr als fünfzig Jahre zurücklagen, aber nicht an ihr Mittagessen.
»Wie viele Fragen kommen denn noch?«, jammerte Nanny gespielt.
Mit dem Alter war Nanny milder geworden. Sie grüßte auch Leute, die sie nicht gut kannte, und zeigte ihren Enkeln gegenüber mehr Zuneigung. Zwei Jahrzehnte hatte es gedauert, aber mit achtundzwanzig stand ich meiner Großmutter so nahe, wie ich es mir früher nicht hätte vorstellen können. Doch stur war sie immer noch, und es würde all meine Manipulations- und Überredungskünste erfordern, das auf Film zu bannen, was ich von ihr wollte.
»Wir haben doch gerade erst angefangen«, erwiderte ich bemüht sanft und geduldig.
»Ich weiß sowieso nicht, was das soll«, grummelte sie.
»Das hab ich dir doch schon erklärt. Mein Gedächtnis ist nicht so gut wie deins. Du willst doch auch nicht, dass ich die Fakten durcheinanderbringe, wenn ich diese Geschichten eines Tages meinen Kindern erzähle.«
»Manche Sachen solltest du lieber nicht erzählen.«
Eins
Giovanna Costa klammerte sich an den Arm ihres Vaters, als er sie den Gang hinunterführte. Fast alle aus dem winzigen Fischerort hatten sich in der Kirche Santa Maria di Porto Salvo versammelt. Sie lächelten, und manche tuschelten. Giovanna fragte sich, was sie wohl zu flüstern hatten, ging aber davon aus, dass es das Übliche war. Bemerkungen wie »Finalmente, das wurde aber auch Zeit!« und »Warum haben sie überhaupt so lange gewartet?«.
Nunzio strahlte ihr vom Altar aus entgegen. Er war groß, größer sogar noch als Giovanna, und im Sonnenlicht, das durchs Fenster fiel, schimmerte sein dunkelrotes Haar fast golden, so dass sie unwillkürlich an eine brennende Kerze denken musste. Selbst aus dieser Entfernung spürte sie seine Wärme und sah den Ausdruck seiner Augen. Sein Blick richtete sie auf und zog sie beide in ihre ganz eigene Welt, in der sie sich ohnehin meist befanden.
Das Dorf Scilla war ihr pezzo di cielo caduto in terra, ihr Stück vom Himmel, das auf die Erde gefallen war. Sie wohnten in Chianalea, dem ältesten Viertel der Stadt, das den Fischern vorbehalten war. Gassen mit Kopfsteinpflaster führten zu Steinhäuschen, die sich ums Wasser drängten. Das kristallklare blaue Meer schwappte an ihre Haustüren, und ihre Boote waren direkt an der Türschwelle festgemacht. Ihre Hintertüren und Höfe führten in enge Gassen und Wege, die sich den Hügel hinaufwanden.
Scilla lag auf drei Ebenen, die gleichzeitig die drei Stadtviertel ausmachten. Der Ort ragte ins Meer. An der Spitze stand die Ruine einer Burg, die seit ihrer Erbauung 500 n. C. von zahllosen Invasoren und Kirchengesandten besetzt und bewohnt worden war. Auf der einen Seite der Ruine lag Chianalea, auf der anderen das halbmondförmige Marina Grande. Dort standen die Häuser etwas zurückgesetzt vom Meer, und auf dem Sandstrand trockneten die Netze der Fischer. Oberhalb von Chianalea lag San Giorgio, der neuere Teil der Stadt, wo das Rathaus und der Dorfplatz über die prächtige kalabrische Küste und die Äolischen Inseln Siziliens blickten. Und über San Giorgio erstreckten sich Gehöfte und Zitronenhaine bis zum Gipfel der Berge.
Dort wuchsen Giovanna und Nunzio auf, miteinander verflochten wie die Äste der indischen Feigenbäume auf dem Dorfplatz, bei denen man kaum sagen konnte, wo der eine anfing und der andere aufhörte. Ein Leben ohne Nunzio konnte Giovanna sich nicht vorstellen. Ihr Vater und seine Mutter waren Geschwister. Ihre Häuser lagen zwei Türen, ihre Geburtstage zwei Monate auseinander. Obwohl Nunzio schon in Giovannas frühesten Erinnerungen vorkam, erkannte sie erst mit sechs, dass er untrennbar zu ihrem Leben gehörte. Da hievte er gerade Körbe voller Stinte aus dem Fischerboot seines Onkels an Land. Als Nunzio sich umdrehte, um sie zu grüßen, rutschte er aus und schleuderte die Fische in die Luft. Giovanna lachte. Sie hatte schon mit sechs Jahren ein herzhaftes, leicht heiseres Lachen. Und Nunzio wurde nicht wütend, sondern wiederholte das Ganze so lange, bis Giovanna vor lauter Lachen keine Luft mehr bekam.
Wenn Giovanna und Nunzio keine Pflichten zu erledigen hatten, waren sie im Wasser. Sie schwammen zu einem der vielen Felsen an der Küste von Scilla und nutzten ihn als Ausgangspunkt zum Tauchen. Das klare Wasser bot ihnen ein buntes Kaleidoskop aus vielen verschiedenen Fischen und Korallen. Im Laufe der Jahre konnten sie immer länger die Luft anhalten und die Riffe und Wracks unter Wasser erkunden.
Am Anfang hatten sich Giovannas Vater und ihre Tante noch versichert, dass es nur eine Sandkastenliebe wäre. Schließlich gab es jetzt eine Straße nach Scilla, und man war nicht mehr gezwungen, untereinander zu heiraten. Aber mit jedem Tag wurde offensichtlicher, dass Giovanna und Nunzio durch das Schicksal und nicht nur die Umstände miteinander verbunden waren. Wenn jemand Bemerkungen machte, wiederholten Giovannas Vater und ihre Tante nur stoisch, was ihr eigener Vater über das Heiraten innerhalb der Familie gesagt hatte: »Dadurch wird das Blut dicker.«
Als Giovanna mit vierzehn in die Pubertät kam, durften sie ihre Zeit nicht mehr allein miteinander verbringen. Doch da sie Verwandte und Nachbarn waren, sahen sie sich jeden Tag mehrfach. Ihre einsamen Abenteuer allerdings hatten ein Ende.
Als Giovanna jetzt durch die Kirche schritt, erhaschte sie hier und da einen Blick von den Menschen, die ihren Gang zum Altar bezeugten. Hinter jedem verbarg sich eine Episode ihres Lebens mit Nunzio. Da war Paolo Caruso, der ihr Bein gerettet hatte. Eines Frühlings waren sie und Nunzio die steile Treppe von Chianalea nach San Giorgio hinaufgestiegen, waren über das Plateau und dann durch die Zitronenhaine gerannt, um auf den Gehöften Fisch gegen Ziegenkäse und Milch einzutauschen. Da stürzte Giovanna über eine kleine Steinmauer und riss sich ihr langes, dünnes Bein bis zum Knochen
auf. Paolo hatte als Erster Nunzios Hilferufe gehört und Giovanna auf seinem Rücken nach Hause getragen. Nunzio war nebenher getrottet und hatte ihr tapfer ihre Lieblingslieder vorgesungen, während er sein Hemd gegen die Wunde drückte, um die Blutung zu stoppen.
Dann lächelte Giovanna ihrem älteren Cousin Pasquale zu. Dieser immer noch imposante Mann hatte sie viele Male beschützt. Als Kinder hatten Giovanna und Nunzio zwischen glatten Kieseln und Terrakottascherben nach alten römischen und griechischen Münzen gesucht, die das Meer, vor allem nach einem Sturm, ans Ufer spülte. Diese uralten Münzen, die noch Spuren der Heldenabbildungen trugen, verwendeten sie beim Zielschnipsen in den engen Gassen von Chianalea. Bei einem Spiel nun hatten ältere Jungen sie um ihre kostbaren Münzen gebracht. Als der stämmige Pasquale jedoch an die Tür der Missetäter klopfte, wurde der Schatz schleunigst an die rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben.
Zia Antoinettes zerfurchtes Gesicht fing an zu strahlen, als Giovanna vorbeiging. Sie war die Erste von vielen gewesen, die Nunzio und Giovanna beim Küssen erwischt hatte. Damals hatte sie so heftig mit ihrem Besen auf Nunzio eingeschlagen, dass der später scherzte, ein Kuss von Giovanna würde ihm Schwindel und einen brennenden Hintern verursachen.
Dann ging Giovanna an der Kirchenbank vorbei, die von Nunzios hochschwangerer Schwester Fortunata und ihren sechs Kindern eingenommen wurde. Die älteren Jungen, Orazio und Raffaele, waren bereits Fischer. Sie standen hoch aufgerichtet neben ihrem schmalen, muskulösen Vater Giuseppe Arena. Fortunatas jüngster Sohn Antonio winkte Giovanna von der Bank aus zu.
Da dachte Giovanna auch an die, die nicht mehr da waren. In Gedanken setzte sie ihren in Amerika lebenden Bruder Lorenzo und Nunzios Vater, der zehn Jahre zuvor an Cholera gestorben war, ans Ende des Gangs, zu ihrer Mutter Concetta und Nunzios Mutter Tante Marianna.
Tränen liefen Concetta und Marianna übers Gesicht. Für Giovanna hatten die beiden Schwägerinnen immer wie ein Pärchen Porzellanpuppen ausgesehen: die eine mit dunkelbraunem Haar genau wie sie, die andere mit rotem wie Nunzio. Sie standen sich sehr nahe und hatten sich auch diesmal nicht auf ihre jeweilige Familienseite begeben, sondern saßen Hand in Hand zusammen.
Während Nunzio und Giovanna aufwuchsen, begleitete sie stets das Geplauder und Getratsche ihrer Mütter, die bis spät in die Nacht gemeinsam Leinen webten und stickten. Sie staunten, wie rasch ihre Mütter einen einfachen Faden in haltbare, schöne Stoffe verwandeln konnten. Als Giovanna und Nunzio zwölf waren, hörten sie, wie Concetta und Marianna planten, zwei Tischdecken zusammenzunähen, die sie einzeln angefertigt hatten, um die große Weihnachtstafel zu schmücken. Am Abend, bevor die beiden Einzelteile zusammengenäht werden sollten, nahmen Giovanna und Nunzio heimlich je einen Faden aus den Nähkästen ihrer Mütter und zogen ihn im Licht des Mondes langsam durch ihren Mund. So wurden Concetta und Marianna, die am Tag darauf mit den Fäden die beiden Hälften zusammennähten, unwissentlich zu Komplizinnen beim ersten Treuegelübde ihrer Kinder. Concetta wusste bis heute nicht, warum Giovanna noch eine Woche zuvor darauf bestanden hatte, diese fleckige und zerschlissene Tischdecke mit in ihre Aussteuer zu nehmen.
Giovanna gab ihrem Vater einen Kuss, woraufhin er sich in die Bank neben seine Frau und seine Schwester setzte. Nunzio nahm Giovannas Hand. Sie sahen sich an und versanken in ihrem Blick. Nunzio sagte immer, in Giovannas Augen sähe er das Meer. Er hatte ihr oft erzählt, er würde sich draußen beim Fischen vorstellen, in ihrem Blick zu segeln. Er behauptete, ihre Augen würden vor einem Sturm die Farbe wechseln, genau wie das Meer. Er konnte anhand der Farbe des Wassers den Fang des Tages vorhersagen und an der Farbe von Giovannas Augen ausmachen, ob sie ruhig war oder dunkle Unterströmungen hatte. Für Giovanna hingegen waren Nunzios Augen wie Fenster. Immer wenn sie sich wie eine Gefangene in ihrem Leben fühlte, konnte sie durch diese Fenster fliehen. Durch Nunzios Augen konnte sie klarer und weiter sehen.
»Wir wohnten in der Elizabeth Street Nummer 202.« Meine Großmutter löste ihren Blick von der Videokamera und schaute mich an. »Wieso machst du nichts mit deinem Haar? Und warum gehst du nicht zur Kosmetikerin?«
Ich ignorierte das, denn es war keine Frage, sondern ein immer wiederkehrender Refrain. »Nanny, versuch doch mal still zu sitzen. Du gerätst mir ständig aus dem Bild.«
Ich stand zum zehnten Mal auf, um die Kamera neu zu positionieren. Meine Großmutter saß in einer roten Polyesterbluse auf dem Sofa. Sie hatte sich ihr blond gefärbtes Haar legen lassen, so dass zwei Locken ihr Gesicht einrahmten, das von einer Brille mit Goldrahmen dominiert wurde. Sie war achtzig Jahre alt und konnte sich zwar an Einzelheiten erinnern, die mehr als fünfzig Jahre zurücklagen, aber nicht an ihr Mittagessen.
»Wie viele Fragen kommen denn noch?«, jammerte Nanny gespielt.
Mit dem Alter war Nanny milder geworden. Sie grüßte auch Leute, die sie nicht gut kannte, und zeigte ihren Enkeln gegenüber mehr Zuneigung. Zwei Jahrzehnte hatte es gedauert, aber mit achtundzwanzig stand ich meiner Großmutter so nahe, wie ich es mir früher nicht hätte vorstellen können. Doch stur war sie immer noch, und es würde all meine Manipulations- und Überredungskünste erfordern, das auf Film zu bannen, was ich von ihr wollte.
»Wir haben doch gerade erst angefangen«, erwiderte ich bemüht sanft und geduldig.
»Ich weiß sowieso nicht, was das soll«, grummelte sie.
»Das hab ich dir doch schon erklärt. Mein Gedächtnis ist nicht so gut wie deins. Du willst doch auch nicht, dass ich die Fakten durcheinanderbringe, wenn ich diese Geschichten eines Tages meinen Kindern erzähle.«
»Manche Sachen solltest du lieber nicht erzählen.«
Eins
Giovanna Costa klammerte sich an den Arm ihres Vaters, als er sie den Gang hinunterführte. Fast alle aus dem winzigen Fischerort hatten sich in der Kirche Santa Maria di Porto Salvo versammelt. Sie lächelten, und manche tuschelten. Giovanna fragte sich, was sie wohl zu flüstern hatten, ging aber davon aus, dass es das Übliche war. Bemerkungen wie »Finalmente, das wurde aber auch Zeit!« und »Warum haben sie überhaupt so lange gewartet?«.
Nunzio strahlte ihr vom Altar aus entgegen. Er war groß, größer sogar noch als Giovanna, und im Sonnenlicht, das durchs Fenster fiel, schimmerte sein dunkelrotes Haar fast golden, so dass sie unwillkürlich an eine brennende Kerze denken musste. Selbst aus dieser Entfernung spürte sie seine Wärme und sah den Ausdruck seiner Augen. Sein Blick richtete sie auf und zog sie beide in ihre ganz eigene Welt, in der sie sich ohnehin meist befanden.
Das Dorf Scilla war ihr pezzo di cielo caduto in terra, ihr Stück vom Himmel, das auf die Erde gefallen war. Sie wohnten in Chianalea, dem ältesten Viertel der Stadt, das den Fischern vorbehalten war. Gassen mit Kopfsteinpflaster führten zu Steinhäuschen, die sich ums Wasser drängten. Das kristallklare blaue Meer schwappte an ihre Haustüren, und ihre Boote waren direkt an der Türschwelle festgemacht. Ihre Hintertüren und Höfe führten in enge Gassen und Wege, die sich den Hügel hinaufwanden.
Scilla lag auf drei Ebenen, die gleichzeitig die drei Stadtviertel ausmachten. Der Ort ragte ins Meer. An der Spitze stand die Ruine einer Burg, die seit ihrer Erbauung 500 n. C. von zahllosen Invasoren und Kirchengesandten besetzt und bewohnt worden war. Auf der einen Seite der Ruine lag Chianalea, auf der anderen das halbmondförmige Marina Grande. Dort standen die Häuser etwas zurückgesetzt vom Meer, und auf dem Sandstrand trockneten die Netze der Fischer. Oberhalb von Chianalea lag San Giorgio, der neuere Teil der Stadt, wo das Rathaus und der Dorfplatz über die prächtige kalabrische Küste und die Äolischen Inseln Siziliens blickten. Und über San Giorgio erstreckten sich Gehöfte und Zitronenhaine bis zum Gipfel der Berge.
Dort wuchsen Giovanna und Nunzio auf, miteinander verflochten wie die Äste der indischen Feigenbäume auf dem Dorfplatz, bei denen man kaum sagen konnte, wo der eine anfing und der andere aufhörte. Ein Leben ohne Nunzio konnte Giovanna sich nicht vorstellen. Ihr Vater und seine Mutter waren Geschwister. Ihre Häuser lagen zwei Türen, ihre Geburtstage zwei Monate auseinander. Obwohl Nunzio schon in Giovannas frühesten Erinnerungen vorkam, erkannte sie erst mit sechs, dass er untrennbar zu ihrem Leben gehörte. Da hievte er gerade Körbe voller Stinte aus dem Fischerboot seines Onkels an Land. Als Nunzio sich umdrehte, um sie zu grüßen, rutschte er aus und schleuderte die Fische in die Luft. Giovanna lachte. Sie hatte schon mit sechs Jahren ein herzhaftes, leicht heiseres Lachen. Und Nunzio wurde nicht wütend, sondern wiederholte das Ganze so lange, bis Giovanna vor lauter Lachen keine Luft mehr bekam.
Wenn Giovanna und Nunzio keine Pflichten zu erledigen hatten, waren sie im Wasser. Sie schwammen zu einem der vielen Felsen an der Küste von Scilla und nutzten ihn als Ausgangspunkt zum Tauchen. Das klare Wasser bot ihnen ein buntes Kaleidoskop aus vielen verschiedenen Fischen und Korallen. Im Laufe der Jahre konnten sie immer länger die Luft anhalten und die Riffe und Wracks unter Wasser erkunden.
Am Anfang hatten sich Giovannas Vater und ihre Tante noch versichert, dass es nur eine Sandkastenliebe wäre. Schließlich gab es jetzt eine Straße nach Scilla, und man war nicht mehr gezwungen, untereinander zu heiraten. Aber mit jedem Tag wurde offensichtlicher, dass Giovanna und Nunzio durch das Schicksal und nicht nur die Umstände miteinander verbunden waren. Wenn jemand Bemerkungen machte, wiederholten Giovannas Vater und ihre Tante nur stoisch, was ihr eigener Vater über das Heiraten innerhalb der Familie gesagt hatte: »Dadurch wird das Blut dicker.«
Als Giovanna mit vierzehn in die Pubertät kam, durften sie ihre Zeit nicht mehr allein miteinander verbringen. Doch da sie Verwandte und Nachbarn waren, sahen sie sich jeden Tag mehrfach. Ihre einsamen Abenteuer allerdings hatten ein Ende.
Als Giovanna jetzt durch die Kirche schritt, erhaschte sie hier und da einen Blick von den Menschen, die ihren Gang zum Altar bezeugten. Hinter jedem verbarg sich eine Episode ihres Lebens mit Nunzio. Da war Paolo Caruso, der ihr Bein gerettet hatte. Eines Frühlings waren sie und Nunzio die steile Treppe von Chianalea nach San Giorgio hinaufgestiegen, waren über das Plateau und dann durch die Zitronenhaine gerannt, um auf den Gehöften Fisch gegen Ziegenkäse und Milch einzutauschen. Da stürzte Giovanna über eine kleine Steinmauer und riss sich ihr langes, dünnes Bein bis zum Knochen
auf. Paolo hatte als Erster Nunzios Hilferufe gehört und Giovanna auf seinem Rücken nach Hause getragen. Nunzio war nebenher getrottet und hatte ihr tapfer ihre Lieblingslieder vorgesungen, während er sein Hemd gegen die Wunde drückte, um die Blutung zu stoppen.
Dann lächelte Giovanna ihrem älteren Cousin Pasquale zu. Dieser immer noch imposante Mann hatte sie viele Male beschützt. Als Kinder hatten Giovanna und Nunzio zwischen glatten Kieseln und Terrakottascherben nach alten römischen und griechischen Münzen gesucht, die das Meer, vor allem nach einem Sturm, ans Ufer spülte. Diese uralten Münzen, die noch Spuren der Heldenabbildungen trugen, verwendeten sie beim Zielschnipsen in den engen Gassen von Chianalea. Bei einem Spiel nun hatten ältere Jungen sie um ihre kostbaren Münzen gebracht. Als der stämmige Pasquale jedoch an die Tür der Missetäter klopfte, wurde der Schatz schleunigst an die rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben.
Zia Antoinettes zerfurchtes Gesicht fing an zu strahlen, als Giovanna vorbeiging. Sie war die Erste von vielen gewesen, die Nunzio und Giovanna beim Küssen erwischt hatte. Damals hatte sie so heftig mit ihrem Besen auf Nunzio eingeschlagen, dass der später scherzte, ein Kuss von Giovanna würde ihm Schwindel und einen brennenden Hintern verursachen.
Dann ging Giovanna an der Kirchenbank vorbei, die von Nunzios hochschwangerer Schwester Fortunata und ihren sechs Kindern eingenommen wurde. Die älteren Jungen, Orazio und Raffaele, waren bereits Fischer. Sie standen hoch aufgerichtet neben ihrem schmalen, muskulösen Vater Giuseppe Arena. Fortunatas jüngster Sohn Antonio winkte Giovanna von der Bank aus zu.
Da dachte Giovanna auch an die, die nicht mehr da waren. In Gedanken setzte sie ihren in Amerika lebenden Bruder Lorenzo und Nunzios Vater, der zehn Jahre zuvor an Cholera gestorben war, ans Ende des Gangs, zu ihrer Mutter Concetta und Nunzios Mutter Tante Marianna.
Tränen liefen Concetta und Marianna übers Gesicht. Für Giovanna hatten die beiden Schwägerinnen immer wie ein Pärchen Porzellanpuppen ausgesehen: die eine mit dunkelbraunem Haar genau wie sie, die andere mit rotem wie Nunzio. Sie standen sich sehr nahe und hatten sich auch diesmal nicht auf ihre jeweilige Familienseite begeben, sondern saßen Hand in Hand zusammen.
Während Nunzio und Giovanna aufwuchsen, begleitete sie stets das Geplauder und Getratsche ihrer Mütter, die bis spät in die Nacht gemeinsam Leinen webten und stickten. Sie staunten, wie rasch ihre Mütter einen einfachen Faden in haltbare, schöne Stoffe verwandeln konnten. Als Giovanna und Nunzio zwölf waren, hörten sie, wie Concetta und Marianna planten, zwei Tischdecken zusammenzunähen, die sie einzeln angefertigt hatten, um die große Weihnachtstafel zu schmücken. Am Abend, bevor die beiden Einzelteile zusammengenäht werden sollten, nahmen Giovanna und Nunzio heimlich je einen Faden aus den Nähkästen ihrer Mütter und zogen ihn im Licht des Mondes langsam durch ihren Mund. So wurden Concetta und Marianna, die am Tag darauf mit den Fäden die beiden Hälften zusammennähten, unwissentlich zu Komplizinnen beim ersten Treuegelübde ihrer Kinder. Concetta wusste bis heute nicht, warum Giovanna noch eine Woche zuvor darauf bestanden hatte, diese fleckige und zerschlissene Tischdecke mit in ihre Aussteuer zu nehmen.
Giovanna gab ihrem Vater einen Kuss, woraufhin er sich in die Bank neben seine Frau und seine Schwester setzte. Nunzio nahm Giovannas Hand. Sie sahen sich an und versanken in ihrem Blick. Nunzio sagte immer, in Giovannas Augen sähe er das Meer. Er hatte ihr oft erzählt, er würde sich draußen beim Fischen vorstellen, in ihrem Blick zu segeln. Er behauptete, ihre Augen würden vor einem Sturm die Farbe wechseln, genau wie das Meer. Er konnte anhand der Farbe des Wassers den Fang des Tages vorhersagen und an der Farbe von Giovannas Augen ausmachen, ob sie ruhig war oder dunkle Unterströmungen hatte. Für Giovanna hingegen waren Nunzios Augen wie Fenster. Immer wenn sie sich wie eine Gefangene in ihrem Leben fühlte, konnte sie durch diese Fenster fliehen. Durch Nunzios Augen konnte sie klarer und weiter sehen.
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Autoren-Porträt von Laurie Fabiano
Laurie Fabiano liebt ihre Familie und alles Italienische. Sie lebt mit ihrem Mann Joe und ihrer Tochter Siena in Hoboken, New Jersey.
Bibliographische Angaben
- Autor: Laurie Fabiano
- 2011, 517 Seiten, Maße: 12,8 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Marie Rahn
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548610366
- ISBN-13: 9783548610368
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