Mein Leben unter Serienmördern
Eine Profilerin erzählt. Deutsche Erstausgabe
Das fesselnde Porträt einer mutigen Frau, die nicht minder faszinierend ist wie ihre fiktiven Kolleginnen aus den Bestseller-Thrillern: Helen Morrison ist forensische Psychologin. Ihr Arbeitsplatz sind die Hochsicherheitstrakte der Gefängnisse, ihr Ziel...
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Produktinformationen zu „Mein Leben unter Serienmördern “
Das fesselnde Porträt einer mutigen Frau, die nicht minder faszinierend ist wie ihre fiktiven Kolleginnen aus den Bestseller-Thrillern: Helen Morrison ist forensische Psychologin. Ihr Arbeitsplatz sind die Hochsicherheitstrakte der Gefängnisse, ihr Ziel ist, dem Phänomen "Serienkiller" auf die Spur zu kommen. Sie erzählt von ihrem Berufsalltag und von spektakulären Fällen.
Psychopathen, Monster oder Sadisten?
Die Profilerin Helen Morrison versucht zu verstehen, was Serienmörder zu ihren grausamen Verbrechen treibt.
Helen Morrisons Arbeitsplatz sind die Hochsicherheitstrakte amerikanischer Gefängnisse. Seit beinahe dreißig Jahren widmet sich die forensische Psychologin der Untersuchung von Serienmördern, und in Monate währenden Gesprächen mit Tätern versucht sie zu verstehen, was sie zu ihren monströsen Taten treibt. Wird man als Serienmörder geboren? Ist entfesselte Tötungslust auf einen neurologischen Defekt zurückzuführen? Oder spielt möglicherweise Missbrauch in der Kindheit eine Rolle? In ihrem faszinierenden Buch präsentiert Helen Morrison die spektakulärsten Fälle ihrer Karriere als Profilerin und schildert eindringlich, was es bedeutet, einem Beruf nachzugehen, den wir aus Büchern und Filmen kennen - dessen reale Seite uns aber bisher verborgen blieb.
"Ihr packender Tätigkeitsbericht, dessen Spannungsbögen der New Yorker Journalist Harold Goldberg geschliffen hat. Die spektakulärsten Fälle versammelt dieses Buch, das sich nicht nur an grausigen Tatdetails entlanghangelt, sondern zudem dichte Psychogramme entwirft." - Die Welt
"Interessant ist ein neues Buch der forensischen Psychologin Helen Morrison. Sie untersucht seit 30 Jahren Serienmorde und hat rund 80 Täter interviewt." - Neue Luzerner/Urner/Schwyzer/Obwaldner/Nidwaldner und Zuger Zeitung
"Ein faszinierendes Buch, in dem Helen Morrison die spektakulärsten Fälle ihrer Karriere als Profilerin eindringlich schildert." - Märkische Oderzeitung
Die Profilerin Helen Morrison versucht zu verstehen, was Serienmörder zu ihren grausamen Verbrechen treibt.
Helen Morrisons Arbeitsplatz sind die Hochsicherheitstrakte amerikanischer Gefängnisse. Seit beinahe dreißig Jahren widmet sich die forensische Psychologin der Untersuchung von Serienmördern, und in Monate währenden Gesprächen mit Tätern versucht sie zu verstehen, was sie zu ihren monströsen Taten treibt. Wird man als Serienmörder geboren? Ist entfesselte Tötungslust auf einen neurologischen Defekt zurückzuführen? Oder spielt möglicherweise Missbrauch in der Kindheit eine Rolle? In ihrem faszinierenden Buch präsentiert Helen Morrison die spektakulärsten Fälle ihrer Karriere als Profilerin und schildert eindringlich, was es bedeutet, einem Beruf nachzugehen, den wir aus Büchern und Filmen kennen - dessen reale Seite uns aber bisher verborgen blieb.
"Ihr packender Tätigkeitsbericht, dessen Spannungsbögen der New Yorker Journalist Harold Goldberg geschliffen hat. Die spektakulärsten Fälle versammelt dieses Buch, das sich nicht nur an grausigen Tatdetails entlanghangelt, sondern zudem dichte Psychogramme entwirft." - Die Welt
"Interessant ist ein neues Buch der forensischen Psychologin Helen Morrison. Sie untersucht seit 30 Jahren Serienmorde und hat rund 80 Täter interviewt." - Neue Luzerner/Urner/Schwyzer/Obwaldner/Nidwaldner und Zuger Zeitung
"Ein faszinierendes Buch, in dem Helen Morrison die spektakulärsten Fälle ihrer Karriere als Profilerin eindringlich schildert." - Märkische Oderzeitung
Lese-Probe zu „Mein Leben unter Serienmördern “
Während meiner forensisch-psychiatrischen Untersuchungen habe ich Persönlichkeitsprofile von mehr als achtzig Serienmördern erstellt. Wenn ich mit ihnen oder ihren Angehörigen spreche, lasse ich sie stets eine Erklärung unterschreiben, wonach ich alles, was sie mir sagen, zu wissenschaftlichen Zwecken verwenden darf. Dieses Buch enthält Ausschnitte aus Gesprächen mit Personen, deren Profile ich erstellt habe, und aus ihren Briefen. Sie werden hier nicht wegen des Nervenkitzels zitiert, sondern damit die Theorien, die ich vertrete, besser verständlich werden.Einleitung
Downtown Chicago. Die Sommernacht ist erfüllt vom verwehten Duft der Rosen und des frisch gemähten Rasens. Meine Kinder sind schon im Bett: Der Jüngere schläft fest mit Träumen von Zauberei und Harry Potter, der Ältere liegt in jenem tiefen Schlummer, der sich nach drei Eishockeyspielen einstellt. Auf der anderen Straßenseite geht händchenhaltend ein Pärchen vorüber, und als sie den Blicken entschwinden, hallt ihr Gelächter auf der Straße wider. Meine Nachbarn steigen gerade vor dem Haus aus ihrem Auto, und ich winke ihnen zu. Beide sind fein angezogen: Sie haben gerade ihren Hochzeitstag gefeiert, und als sie ins Haus gehen, winken sie zurück. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen und das ganze Viertel in tiefes Schweigen versunken ist, denke ich über mein eigenes Leben nach, darüber, dass meine Kinder und Nachbarn nur eine ganz grobe Vorstellung davon haben, was ich beruflich tue. Unsere Bekannten wissen, dass ich Psychiaterin bin und mich mit besonders schwierigen Fällen beschäftige - mehr nicht, und das ist vielleicht ganz gut so. Meine beiden Söhne haben - noch - keine Ahnung, warum ich manchmal wochenlang wegfahre. Was ich tue, ist so weit weg von diesem florierenden, freundlichen Wohnviertel - von der Zufriedenheit, die wir beim Pflanzen junger Eichen mit dem Nachbarschaftsverein empfinden, von der Eleganz der Wohltätigkeitsveranstaltungen und Opernaufführungen -, dass die meisten wohl
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entsetzt wären, wenn sie es erführen.
Nach ein paar Minuten gehe ich in unser vierstöckiges Backsteinhaus. Es ist ein nahezu vollkommenes Heim: Der Großvater meines Mannes, der jahrzehntelang als Arzt tätig war, hatte hier Praxis und Wohnung. Im hinteren Teil des Erdgeschosses befindet sich ein ehemaliges Untersuchungszimmer, das mir heute als Arbeitszimmer dient, wenn ich zu Hause bin. Die Wände sind noch heute mit Blech verkleidet - ein Überbleibsel längst vergangener Zeiten. Die Vergangenheit, die freundliche medizinische Betreuung, die unserem Stadtviertel achtzig Jahre lang durch gute Ärzte zuteil wurde, inspiriert mich. Aus einem beigefarbenen Ordner hole ich ein paar Bilder von einem Kind - ein Mädchen, das nicht nur brutal ermordet, sondern auch durch Schläge fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde. Manchmal kommt es mir vor, als könnte ich kein einziges solches Foto mehr ertragen, nicht noch ein Bild eines unschuldigen, sinnlos ausgelöschten Lebens.
Zur Vorbereitung auf eine Rede vor einer Gruppe von Leichenbeschauern kritzele ich ein paar Notizen über Anzahl und Position der Wunden an ihrem leblosen Körper auf meinen Block. Nicht weit vor mir stehen Drahtkörbe mit Papierstapeln: Notizen und unzählige weitere Bilder von anderen Mädchen und Jungen, alle ermordet. Es ist für mich keine ungewohnte Arbeit. Es ist das, was ich immer tue, und ich glaube, es ist genau die richtige Arbeit für mich.
Zugegeben: Eine solche Tätigkeit würde sich kaum einer aussuchen. Ich bin das, was man heute als Profiler bezeichnet - drei kurze Silben, mit denen sich mein Berufsleben zusammenfassen lässt. Seit dreißig Jahren, länger als ich zurückdenken kann, beschäftige ich mich mit den abwegigsten inneren Vorgängen von Serienmördern, damit, wer sie sind, wo sie sich verstecken und warum sie morden. Manchmal kommt es mir vor, als wüsste ich schon zu viel über sie, und sicher weiß ich mehr als praktisch jeder andere auf der Welt. Aber obwohl mein Wissen über Mehrfachmörder jeden Tag wächst, besteht meine größte Angst darin, dass ich nie genug wissen werde.
Ich bin nicht der Typ Profiler, den man ab und zu im Fernsehen sieht. Vor ein paar Jahren verkörperte Ally Walker in der Fernsehserie Profiler die schick gekleidete Samantha Waters. Sie erklärte, ihre Arbeit bestehe darin, "in Bildern zu denken", sich Mörder in farbigen Konstruktionen vor ihrem geistigen Auge auszumalen und so mit fast außersinnlicher Wahrnehmung den Serienmördern auf die Spur zu kommen. Sie konnte zwar ihre Visionen nie genau kontrollieren, aber offensichtlich kamen sie immer gerade in dem dramatischen Augenblick, in dem sich die Handlung auf das wichtigste Element des abendlichen Fernsehens hinbewegte: auf die Werbeunterbrechung.
Ich selbst bin absolut keine Hellseherin. Im Gegensatz zu Samantha Waters habe ich keine Geistesblitze, die mir mit filmischen Details die Vergangenheit oder die Zukunft zeigen. Und obwohl man mich in Anlehnung an Das Schweigen der Lämmer und Hannibal gelegentlich "die Clarice aus dem richtigen Leben" genannt hat, sind Clarice Starling und Hannibal Lecter reine Fantasiegestalten. In den Romanen von Thomas Harris entwickelt sich zwischen Hannibal und Clarice eine emotionale Bindung, die auf eine verdrehte, krankhafte Liebe hinausläuft - aber immerhin auf eine Liebe. In Wirklichkeit lässt man sich bei der Arbeit mit Serienmördern auf Menschen ein, die vollständig und zutiefst unmenschlich sind.
Als forensische Psychiaterin mit einem Examen in Rechtsmedizin habe ich einen Beruf, dessen Grundlagen gewissenhafte wissenschaftliche Arbeit und vernünftige theoretische Überlegungen sind. Nachdem ich mich mit mehr als achtzig Serienmördern ausführlich unterhalten habe, ist mir eines klar: Sie gehen mit anderen Menschen auf keiner zwischenmenschlichen Ebene irgendeine Verbindung ein. Sie können hervorragend schauspielern, eine vielschichtige, ernsthafte Darstellung abliefern, der kein Oscarpreisträger das Wasser reichen könnte. Sie können alles vortäuschen. Sie können wie intakte, rundum gesunde Menschen wirken, und in manchen Fällen hält man sie sogar für Stützen der Gesellschaft. Aber ihnen fehlt der unentbehrliche innerste Kern menschlicher Beziehungsfähigkeit. Mord bedeutet ihnen nichts, nicht das Geringste. Serienmörder haben zu ihren Opfern keine emotionale Beziehung. Das ist vermutlich das Entsetzlichste daran. Sie empfinden nicht nur nichts dabei; sie sind überhaupt nicht fähig, etwas zu empfinden.
Wenn ich einem Serienmörder gegenüberstehe, weiß ich nie genau, mit wem ich es eigentlich zu tun habe. Zu Beginn unserer gemeinsamen Arbeit sind sie freundlich und sehr entgegenkommend. Wenn ich mich in ihre Welt entführen lasse, dann fühlt sich diese Welt stimmig an - wenn auch nur für kurze Zeit. Oft kam mir der Gedanke: Ist das überhaupt der Richtige? War meine ganze Arbeit - die eingehende Forschung, das Sammeln wissenschaftlicher Daten, die komplizierten Theorien - schlicht und einfach falsch? Habe ich vielleicht etwas übersehen? Sie sind so liebenswürdig, dass man es fast nicht glauben mag, mit einer Ausstrahlung wie Cary Grant oder George Clooney (allerdings sehen sie in den seltensten Fällen so gut aus). Sie behandeln mich wie eine Geistesverwandte.
Aber wenn ich vier bis sechs Stunden hartnäckig und ohne Unterbrechung mit ihnen zusammengesessen habe, ist plötzlich alles anders. Ich gestalte meine Befragung immer so, dass sie wie eine zwanglose Unterhaltung wirkt. Nach meiner Erfahrung kann ein Serienmörder seine zuvorkommende Art nicht viel länger als zwei bis drei Stunden beibehalten. Wenn es so weit ist, kann ich ihm die liebenswürdige Maske entreißen und den düsteren, öden Kern seines Wesens freilegen.
Irgendwann fängt er an, auf seinem Stuhl herumzurücken, zu seufzen, zu zischen. Er räuspert sich, rollt mit den Augen, lässt die Blicke schweifen. Auf der Stirn bilden sich kleine Schweißperlen. Irgendwann wird er ungehalten, bricht langsam zusammen. Am liebsten wäre es ihm, wenn ich dasäße und zu einem Auffangbecken für seine endlosen Gedanken und weitschweifigen Reden würde. Aber mit einer Mischung aus Milde, Toleranz, Zuhören und ständigen indirekten Fragen bringe ich ihn immer dazu, dass er mehr sagt, als er eigentlich sagen will. Bis der Durchbruch gelingt, können Monate vergehen, aber wenn er dann kommt, gibt es nichts, was mich mehr faszinieren und befriedigen könnte.
Die Befriedigung hat ihre Ursache zu einem großen Teil darin, dass ich Tatsachen zusammenführen kann, die einen Fall verständlicher und plausibler machen. Jede Beobachtung, jede Aussage wird zu einem Stein in einem riesenhaften Puzzle, und ich bemühe mich, die Informationen mit anderen, früheren Verbrechen in Verbindung zu bringen. Auf diesem Weg erfahre ich Stück für Stück immer mehr über den Serienmörder, über seine Lebensgeschichte, seinen Charakter, seine Einstellung zu den Opfern. Es ist mühsam und schwierig, vor allem weil es um kostbare, unschuldige Menschenleben geht, die sinnlos und auf entsetzliche Weise ausgelöscht wurden.
Mehr als hundert Akten hatte ich zur Vorbereitung auf meinen Vortrag durchgesehen, und immer wieder hatte ich auf den Fotos die Verzweiflung und die Schmerzen der Opfer gesehen. Die Toten trugen die Unterschrift der Serienmörder auf dem Leib - Bisse, Schnittwunden oder Beulen, die sie hinterlassen hatten, als wollten sie das Produkt ihrer Arbeit aus einer Art fehlgeleitetem Stolz heraus kennzeichnen.
Heute werde ich nach Merillville in Indiana fahren, eine schläfrige Kleinstadt mit 27 000 Einwohnern. Sie ist das Musterbeispiel einer amerikanischen Schlafstadt mit Kettenrestaurant, Kaufhaus und Elektrogeschäft. Im Radisson-Hotel werde ich den Eröffnungsvortrag bei der Jahrestagung der Indiana Coroners Association halten. Während die Coroner - Leichenbeschauer, die den Tod eines Opfers feststellen - ihren Kaffee schlürfen und Frühstücksgebäck knabbern, werde ich meine Ansprache halten, meine Theorien darüber erläutern, warum Serienmörder zwanghaft töten müssen. Woran erkennen medizinische Sachverständige am Tatort, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun haben? Was ist der Auslöser für die Taten? Was geht in einem Serienmörder vor? Warum sehnt er sich ständig danach zu töten? Nach allgemeiner Auffassung wurden solche Menschen als unschuldige Kinder von den Eltern körperlich und/oder sexuell misshandelt. Aber das ist ein Märchen - eine völlige Fehleinschätzung. In diesem Buch werde ich meine Theorien darlegen, und manches davon ist durchaus umstritten. Aber sie stützen sich auf jahrzehntelange wissenschaftliche Arbeit. Ich werde den Leser nicht nur durch meine eigenen Gedanken führen, sondern ihn auch auf eine Reise durch die Geisteswelt der Serienmörder mitnehmen, mit Niederschriften aus unseren psychiatrischen Gesprächen, aber auch mit ihren eigenen Worten aus ihren eigenen Briefen.
In die Außentasche meines Aktenkoffers stecke ich eine besondere Akte. Sie trägt einen Namen, der vielleicht vertraut erscheint: John Wayne Gacy. Gacy war ein beleibter Bursche, der sich häufig als Clown mit dick geschminktem rotem Mund verkleidete und dann die Kranken und Gebrechlichen in den Krankenhäusern Chicagos unterhielt. Er vergewaltigte und folterte seine Opfer, und viele von ihnen vergrub er anschließend unter den Dielenbrettern seines Hauses. Der Fall wurde schnell zu einem gefundenen Fressen für die Presse, und die zeichnete Gacy als die Verkörperung des Bösen, als den Teufel in Person. Mit diesem Menschen, der 33 junge Männer ermordet hatte, traf ich 1980 zum ersten Mal zusammen.
Es war kurz vor Weihnachten. Ich war gerade mit meinem Mann aus den Flitterwochen zurückgekehrt, und wir brannten darauf, uns in unserer neuen Wohnung einzurichten. Es war nicht gerade eine Luxusunterkunft, aber für ein junges verliebtes Arztehepaar war es genau richtig. Ich hatte mich mit der Post an den Küchentisch gesetzt und ging die inzwischen eingetroffenen Rechnungen, Zeitschriften und Weihnachtskarten durch. Darunter waren kleine Päckchen, medizinische Fachzeitschriften und viel zu viel Werbemüll. Aber einer der Umschläge trug eine unbekannte Handschrift. Darin lag eine Karte mit einer ungelenken Zeichnung; sie war mit Tinte angefertigt, mit Buntstiften ausgemalt und stellte Weihnachtsbäume mit einem Schneemann dar. Auf der Innenseite der Karte stand: "Friede auf Erden. Alles Gute den Menschen ... und den Jungen - John Wayne Gacy." Es war obszön, geradezu frech, als wollte er seine brutalen Morde an so vielen jungen Männern immer noch feiern. Wie war Gacy, den ich demnächst befragen würde, überhaupt an unsere Adresse gekommen? Wir standen nicht im Telefonbuch. Aber er hatte es geschafft und mir aus dem Gefängnis diese Karte geschickt. Durch Gacys "Gruß" wurde mir wieder einmal klar, mit welchen Gefahren meine Arbeit verbunden war - Gefahren nicht nur für mich, sondern auch für meine Angehörigen. Man hatte mich auch früher schon bedroht und spöttisch provoziert, und deshalb gab ich mir Mühe, nicht weiter an Gacy und seine Morde zu denken, aber mein Mann nahm den Vorfall nicht auf die leichte Schulter. Eine ganze Zeit lang machte er sich ständig Sorgen darum, und um mich.
Ich stellte meinen Vortrag für die Leichenbeschauer fertig und steckte das Manuskript mit Fotos und Notizen in den abgeschabten ledernen Aktenkoffer. Dann wandte ich mich kurz meiner grünen Jadeschildkröte zu und tätschelte sie - das soll Glück bringen. Anschließend schaltete ich das Licht aus und schloss leise die Tür. Als ich im Halbdunkel nach oben ins Schlafzimmer ging, war ich mir in einigen Punkten ganz sicher. Man kann Serienmorde erklären und verstehen. Es gibt verwickelte, aber durchschaubare Gesetzmäßigkeiten, die für alle Serienmörder gelten. Und wenn wir noch mehr über die Prinzipien von DNA und Genetik in Erfahrung bringen, lässt sich das Phänomen der Serienmorde in Zukunft vielleicht sogar verhüten. In diesem Buch, das über einen beträchtlichen Teil meiner Berufslaufbahn berichtet, möchte ich ansatzweise erklären, wie.
1 | "Babyface" Richard Macek
Die alte Straße nach Waupun in Wisconsin sah damals, im März 1977, unheimlich und düster aus. Die Gegend war nicht nur ländlich, sondern einsam auf eine Weise, dass man sich immer wieder umsieht. Ungefähr zwanzig Autominuten außerhalb von Madison waren die bunten, einladenden Werbetafeln für gemütliche Restaurants und Cheddarkäse aus Wisconsin verschwunden, und alles wirkte völlig leblos. Die öden Felder beiderseits der Straße waren noch braun, und die gespenstische Stille wurde an dem grauen, eisigen Tag noch tiefer. Um ehrlich zu sein: Ich war nervös. Als junge Ärztin sollte ich jetzt meinen Fuß in eine Welt setzen, in der es von entsetzlichen Verbrechen und Serienmorden wimmelte. Es war eine Welt der Machotypen, der trinkfesten Gesetzeshüter, die in ihrem Leben schon zu viel gesehen hatten, und ich fragte mich, ob sie mich akzeptieren oder auch nur tolerieren würden - nicht nur beruflich, sondern auch weil ich eine Frau war. Hin und wieder umklammerte ich das Lenkrad zu fest, als könnte stetiges Geradeausfahren auch meinen Gedanken Halt geben. Ich sah in den Rückspiegel, ob mir auch die Furcht nicht anzusehen war. Ich musste unbedingt ruhig und gefasst wirken.
Herausforderungen und Schwierigkeiten war ich durchaus gewöhnt. Als Kind hatte ich in einer Kleinstadt bei Pittsburgh gewohnt, und meine richtigen Eltern hatte ich nie kennen gelernt. Nicht, dass ich es nicht gewollt hätte. Es gehörte nur einfach nicht zur Abmachung. Meine zweiten Eltern waren nicht übermäßig freundlich. Sicher, sechs andere Kinder und ich hatten ein Dach über dem Kopf und genug zu essen, aber die wahre Sicherheit, die nur Liebe vermitteln kann, lernten wir nie kennen. Warum die sechs anderen und ich die Kinder dieser Leute waren, ist bis heute nicht ganz zu verstehen. Unsere Kindheit war oft von unbarmherziger Düsterkeit, und wir standen allein in einer Welt, die unsere Eltern uns vorgegeben hatten.
In einer Hinsicht war ich aber besser dran als andere. Ich entdeckte schon früh eine Leidenschaft für das, was ich tun wollte. Mit elf Jahren musste ich mit ansehen, wie die achtjährige Beth, eine meiner Lieblingsschwestern, an Scharlach erkrankte. Scharlachausschlag sieht immer aus wie ein schwerer Sonnenbrand mit winzigen und dennoch hässlichen Pickeln. Ich fühlte mich meinen Geschwistern gegenüber in einer Mutterrolle, und als sich Beths Zustand verschlechterte, machte ich mir große Sorgen wegen Fieber, Schüttelfrost und Erbrechen. Als sie auch noch Halluzinationen bekam, war ich mir sicher, dass sie bald sterben würde. Ich bekam Angst und wurde ergriffen von jenem allumfassenden Entsetzen, das nur Kinder empfinden können. Aber dann kam ein Arzt ins Haus, behandelte sie, und wenig später war sie bereits auf dem Weg der Besserung. Meinem kindlichen Gemüt kam der Doktor vor wie ein Wundertäter, und zutiefst beeindruckt schwor ich mir, Ärztin zu werden. Mit zwölf fing ich an zu arbeiten, um Geld nach Hause zu bringen, und ich war überzeugt: Wenn ich härter und länger arbeitete als die anderen, konnte ich alles erreichen, was ich mir vornahm - ich konnte auch Ärztin werden. Dass ich dazu Zeitungen austragen, kellnern oder in einem Lebensmittelladen bedienen musste, spielte keine Rolle. Manchmal stand ich unruhig am Rand unserer kleinen Stadt und malte mir aus, ich sei irgendwo anders, auf dem Weg zu jenen exotischen Orten, von denen ich in Zeitschriften gelesen oder im Radio gehört hatte. Ich konnte hier rauskommen. Ich würde hier rauskommen. Ich musste hier rauskommen.Beim Fahren dachte ich darüber nach, was der FBI-Agent mich gefragt hatte. "Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?" Special Agent Louis Tomaselli hatte bei seiner Arbeit schon vieles erlebt, aber die grausigen, 20 mal 26 Zentimeter großen Schwarzweißfotos, die er mir gezeigt hatte, waren auch für ihn rätselhaft und Besorgnis erregend. Tomaselli war redegewandt, dunkelhaarig und drahtig. Und er sprach ständig mit den Händen. Dabei unterstrichen seine Gesten nicht nur die Worte, sondern er gestikulierte, drehte die Hände und griff in die Luft, damit ich mir seine Worte besser ausmalen konnte. Schon ziemlich zu Beginn unserer Unterhaltung sagte er: "Zwischen mir und den bad guys ist kein großer Unterschied - nur hat das FBI mich zuerst gekriegt."
Nach ein paar Minuten gehe ich in unser vierstöckiges Backsteinhaus. Es ist ein nahezu vollkommenes Heim: Der Großvater meines Mannes, der jahrzehntelang als Arzt tätig war, hatte hier Praxis und Wohnung. Im hinteren Teil des Erdgeschosses befindet sich ein ehemaliges Untersuchungszimmer, das mir heute als Arbeitszimmer dient, wenn ich zu Hause bin. Die Wände sind noch heute mit Blech verkleidet - ein Überbleibsel längst vergangener Zeiten. Die Vergangenheit, die freundliche medizinische Betreuung, die unserem Stadtviertel achtzig Jahre lang durch gute Ärzte zuteil wurde, inspiriert mich. Aus einem beigefarbenen Ordner hole ich ein paar Bilder von einem Kind - ein Mädchen, das nicht nur brutal ermordet, sondern auch durch Schläge fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde. Manchmal kommt es mir vor, als könnte ich kein einziges solches Foto mehr ertragen, nicht noch ein Bild eines unschuldigen, sinnlos ausgelöschten Lebens.
Zur Vorbereitung auf eine Rede vor einer Gruppe von Leichenbeschauern kritzele ich ein paar Notizen über Anzahl und Position der Wunden an ihrem leblosen Körper auf meinen Block. Nicht weit vor mir stehen Drahtkörbe mit Papierstapeln: Notizen und unzählige weitere Bilder von anderen Mädchen und Jungen, alle ermordet. Es ist für mich keine ungewohnte Arbeit. Es ist das, was ich immer tue, und ich glaube, es ist genau die richtige Arbeit für mich.
Zugegeben: Eine solche Tätigkeit würde sich kaum einer aussuchen. Ich bin das, was man heute als Profiler bezeichnet - drei kurze Silben, mit denen sich mein Berufsleben zusammenfassen lässt. Seit dreißig Jahren, länger als ich zurückdenken kann, beschäftige ich mich mit den abwegigsten inneren Vorgängen von Serienmördern, damit, wer sie sind, wo sie sich verstecken und warum sie morden. Manchmal kommt es mir vor, als wüsste ich schon zu viel über sie, und sicher weiß ich mehr als praktisch jeder andere auf der Welt. Aber obwohl mein Wissen über Mehrfachmörder jeden Tag wächst, besteht meine größte Angst darin, dass ich nie genug wissen werde.
Ich bin nicht der Typ Profiler, den man ab und zu im Fernsehen sieht. Vor ein paar Jahren verkörperte Ally Walker in der Fernsehserie Profiler die schick gekleidete Samantha Waters. Sie erklärte, ihre Arbeit bestehe darin, "in Bildern zu denken", sich Mörder in farbigen Konstruktionen vor ihrem geistigen Auge auszumalen und so mit fast außersinnlicher Wahrnehmung den Serienmördern auf die Spur zu kommen. Sie konnte zwar ihre Visionen nie genau kontrollieren, aber offensichtlich kamen sie immer gerade in dem dramatischen Augenblick, in dem sich die Handlung auf das wichtigste Element des abendlichen Fernsehens hinbewegte: auf die Werbeunterbrechung.
Ich selbst bin absolut keine Hellseherin. Im Gegensatz zu Samantha Waters habe ich keine Geistesblitze, die mir mit filmischen Details die Vergangenheit oder die Zukunft zeigen. Und obwohl man mich in Anlehnung an Das Schweigen der Lämmer und Hannibal gelegentlich "die Clarice aus dem richtigen Leben" genannt hat, sind Clarice Starling und Hannibal Lecter reine Fantasiegestalten. In den Romanen von Thomas Harris entwickelt sich zwischen Hannibal und Clarice eine emotionale Bindung, die auf eine verdrehte, krankhafte Liebe hinausläuft - aber immerhin auf eine Liebe. In Wirklichkeit lässt man sich bei der Arbeit mit Serienmördern auf Menschen ein, die vollständig und zutiefst unmenschlich sind.
Als forensische Psychiaterin mit einem Examen in Rechtsmedizin habe ich einen Beruf, dessen Grundlagen gewissenhafte wissenschaftliche Arbeit und vernünftige theoretische Überlegungen sind. Nachdem ich mich mit mehr als achtzig Serienmördern ausführlich unterhalten habe, ist mir eines klar: Sie gehen mit anderen Menschen auf keiner zwischenmenschlichen Ebene irgendeine Verbindung ein. Sie können hervorragend schauspielern, eine vielschichtige, ernsthafte Darstellung abliefern, der kein Oscarpreisträger das Wasser reichen könnte. Sie können alles vortäuschen. Sie können wie intakte, rundum gesunde Menschen wirken, und in manchen Fällen hält man sie sogar für Stützen der Gesellschaft. Aber ihnen fehlt der unentbehrliche innerste Kern menschlicher Beziehungsfähigkeit. Mord bedeutet ihnen nichts, nicht das Geringste. Serienmörder haben zu ihren Opfern keine emotionale Beziehung. Das ist vermutlich das Entsetzlichste daran. Sie empfinden nicht nur nichts dabei; sie sind überhaupt nicht fähig, etwas zu empfinden.
Wenn ich einem Serienmörder gegenüberstehe, weiß ich nie genau, mit wem ich es eigentlich zu tun habe. Zu Beginn unserer gemeinsamen Arbeit sind sie freundlich und sehr entgegenkommend. Wenn ich mich in ihre Welt entführen lasse, dann fühlt sich diese Welt stimmig an - wenn auch nur für kurze Zeit. Oft kam mir der Gedanke: Ist das überhaupt der Richtige? War meine ganze Arbeit - die eingehende Forschung, das Sammeln wissenschaftlicher Daten, die komplizierten Theorien - schlicht und einfach falsch? Habe ich vielleicht etwas übersehen? Sie sind so liebenswürdig, dass man es fast nicht glauben mag, mit einer Ausstrahlung wie Cary Grant oder George Clooney (allerdings sehen sie in den seltensten Fällen so gut aus). Sie behandeln mich wie eine Geistesverwandte.
Aber wenn ich vier bis sechs Stunden hartnäckig und ohne Unterbrechung mit ihnen zusammengesessen habe, ist plötzlich alles anders. Ich gestalte meine Befragung immer so, dass sie wie eine zwanglose Unterhaltung wirkt. Nach meiner Erfahrung kann ein Serienmörder seine zuvorkommende Art nicht viel länger als zwei bis drei Stunden beibehalten. Wenn es so weit ist, kann ich ihm die liebenswürdige Maske entreißen und den düsteren, öden Kern seines Wesens freilegen.
Irgendwann fängt er an, auf seinem Stuhl herumzurücken, zu seufzen, zu zischen. Er räuspert sich, rollt mit den Augen, lässt die Blicke schweifen. Auf der Stirn bilden sich kleine Schweißperlen. Irgendwann wird er ungehalten, bricht langsam zusammen. Am liebsten wäre es ihm, wenn ich dasäße und zu einem Auffangbecken für seine endlosen Gedanken und weitschweifigen Reden würde. Aber mit einer Mischung aus Milde, Toleranz, Zuhören und ständigen indirekten Fragen bringe ich ihn immer dazu, dass er mehr sagt, als er eigentlich sagen will. Bis der Durchbruch gelingt, können Monate vergehen, aber wenn er dann kommt, gibt es nichts, was mich mehr faszinieren und befriedigen könnte.
Die Befriedigung hat ihre Ursache zu einem großen Teil darin, dass ich Tatsachen zusammenführen kann, die einen Fall verständlicher und plausibler machen. Jede Beobachtung, jede Aussage wird zu einem Stein in einem riesenhaften Puzzle, und ich bemühe mich, die Informationen mit anderen, früheren Verbrechen in Verbindung zu bringen. Auf diesem Weg erfahre ich Stück für Stück immer mehr über den Serienmörder, über seine Lebensgeschichte, seinen Charakter, seine Einstellung zu den Opfern. Es ist mühsam und schwierig, vor allem weil es um kostbare, unschuldige Menschenleben geht, die sinnlos und auf entsetzliche Weise ausgelöscht wurden.
Mehr als hundert Akten hatte ich zur Vorbereitung auf meinen Vortrag durchgesehen, und immer wieder hatte ich auf den Fotos die Verzweiflung und die Schmerzen der Opfer gesehen. Die Toten trugen die Unterschrift der Serienmörder auf dem Leib - Bisse, Schnittwunden oder Beulen, die sie hinterlassen hatten, als wollten sie das Produkt ihrer Arbeit aus einer Art fehlgeleitetem Stolz heraus kennzeichnen.
Heute werde ich nach Merillville in Indiana fahren, eine schläfrige Kleinstadt mit 27 000 Einwohnern. Sie ist das Musterbeispiel einer amerikanischen Schlafstadt mit Kettenrestaurant, Kaufhaus und Elektrogeschäft. Im Radisson-Hotel werde ich den Eröffnungsvortrag bei der Jahrestagung der Indiana Coroners Association halten. Während die Coroner - Leichenbeschauer, die den Tod eines Opfers feststellen - ihren Kaffee schlürfen und Frühstücksgebäck knabbern, werde ich meine Ansprache halten, meine Theorien darüber erläutern, warum Serienmörder zwanghaft töten müssen. Woran erkennen medizinische Sachverständige am Tatort, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun haben? Was ist der Auslöser für die Taten? Was geht in einem Serienmörder vor? Warum sehnt er sich ständig danach zu töten? Nach allgemeiner Auffassung wurden solche Menschen als unschuldige Kinder von den Eltern körperlich und/oder sexuell misshandelt. Aber das ist ein Märchen - eine völlige Fehleinschätzung. In diesem Buch werde ich meine Theorien darlegen, und manches davon ist durchaus umstritten. Aber sie stützen sich auf jahrzehntelange wissenschaftliche Arbeit. Ich werde den Leser nicht nur durch meine eigenen Gedanken führen, sondern ihn auch auf eine Reise durch die Geisteswelt der Serienmörder mitnehmen, mit Niederschriften aus unseren psychiatrischen Gesprächen, aber auch mit ihren eigenen Worten aus ihren eigenen Briefen.
In die Außentasche meines Aktenkoffers stecke ich eine besondere Akte. Sie trägt einen Namen, der vielleicht vertraut erscheint: John Wayne Gacy. Gacy war ein beleibter Bursche, der sich häufig als Clown mit dick geschminktem rotem Mund verkleidete und dann die Kranken und Gebrechlichen in den Krankenhäusern Chicagos unterhielt. Er vergewaltigte und folterte seine Opfer, und viele von ihnen vergrub er anschließend unter den Dielenbrettern seines Hauses. Der Fall wurde schnell zu einem gefundenen Fressen für die Presse, und die zeichnete Gacy als die Verkörperung des Bösen, als den Teufel in Person. Mit diesem Menschen, der 33 junge Männer ermordet hatte, traf ich 1980 zum ersten Mal zusammen.
Es war kurz vor Weihnachten. Ich war gerade mit meinem Mann aus den Flitterwochen zurückgekehrt, und wir brannten darauf, uns in unserer neuen Wohnung einzurichten. Es war nicht gerade eine Luxusunterkunft, aber für ein junges verliebtes Arztehepaar war es genau richtig. Ich hatte mich mit der Post an den Küchentisch gesetzt und ging die inzwischen eingetroffenen Rechnungen, Zeitschriften und Weihnachtskarten durch. Darunter waren kleine Päckchen, medizinische Fachzeitschriften und viel zu viel Werbemüll. Aber einer der Umschläge trug eine unbekannte Handschrift. Darin lag eine Karte mit einer ungelenken Zeichnung; sie war mit Tinte angefertigt, mit Buntstiften ausgemalt und stellte Weihnachtsbäume mit einem Schneemann dar. Auf der Innenseite der Karte stand: "Friede auf Erden. Alles Gute den Menschen ... und den Jungen - John Wayne Gacy." Es war obszön, geradezu frech, als wollte er seine brutalen Morde an so vielen jungen Männern immer noch feiern. Wie war Gacy, den ich demnächst befragen würde, überhaupt an unsere Adresse gekommen? Wir standen nicht im Telefonbuch. Aber er hatte es geschafft und mir aus dem Gefängnis diese Karte geschickt. Durch Gacys "Gruß" wurde mir wieder einmal klar, mit welchen Gefahren meine Arbeit verbunden war - Gefahren nicht nur für mich, sondern auch für meine Angehörigen. Man hatte mich auch früher schon bedroht und spöttisch provoziert, und deshalb gab ich mir Mühe, nicht weiter an Gacy und seine Morde zu denken, aber mein Mann nahm den Vorfall nicht auf die leichte Schulter. Eine ganze Zeit lang machte er sich ständig Sorgen darum, und um mich.
Ich stellte meinen Vortrag für die Leichenbeschauer fertig und steckte das Manuskript mit Fotos und Notizen in den abgeschabten ledernen Aktenkoffer. Dann wandte ich mich kurz meiner grünen Jadeschildkröte zu und tätschelte sie - das soll Glück bringen. Anschließend schaltete ich das Licht aus und schloss leise die Tür. Als ich im Halbdunkel nach oben ins Schlafzimmer ging, war ich mir in einigen Punkten ganz sicher. Man kann Serienmorde erklären und verstehen. Es gibt verwickelte, aber durchschaubare Gesetzmäßigkeiten, die für alle Serienmörder gelten. Und wenn wir noch mehr über die Prinzipien von DNA und Genetik in Erfahrung bringen, lässt sich das Phänomen der Serienmorde in Zukunft vielleicht sogar verhüten. In diesem Buch, das über einen beträchtlichen Teil meiner Berufslaufbahn berichtet, möchte ich ansatzweise erklären, wie.
1 | "Babyface" Richard Macek
Die alte Straße nach Waupun in Wisconsin sah damals, im März 1977, unheimlich und düster aus. Die Gegend war nicht nur ländlich, sondern einsam auf eine Weise, dass man sich immer wieder umsieht. Ungefähr zwanzig Autominuten außerhalb von Madison waren die bunten, einladenden Werbetafeln für gemütliche Restaurants und Cheddarkäse aus Wisconsin verschwunden, und alles wirkte völlig leblos. Die öden Felder beiderseits der Straße waren noch braun, und die gespenstische Stille wurde an dem grauen, eisigen Tag noch tiefer. Um ehrlich zu sein: Ich war nervös. Als junge Ärztin sollte ich jetzt meinen Fuß in eine Welt setzen, in der es von entsetzlichen Verbrechen und Serienmorden wimmelte. Es war eine Welt der Machotypen, der trinkfesten Gesetzeshüter, die in ihrem Leben schon zu viel gesehen hatten, und ich fragte mich, ob sie mich akzeptieren oder auch nur tolerieren würden - nicht nur beruflich, sondern auch weil ich eine Frau war. Hin und wieder umklammerte ich das Lenkrad zu fest, als könnte stetiges Geradeausfahren auch meinen Gedanken Halt geben. Ich sah in den Rückspiegel, ob mir auch die Furcht nicht anzusehen war. Ich musste unbedingt ruhig und gefasst wirken.
Herausforderungen und Schwierigkeiten war ich durchaus gewöhnt. Als Kind hatte ich in einer Kleinstadt bei Pittsburgh gewohnt, und meine richtigen Eltern hatte ich nie kennen gelernt. Nicht, dass ich es nicht gewollt hätte. Es gehörte nur einfach nicht zur Abmachung. Meine zweiten Eltern waren nicht übermäßig freundlich. Sicher, sechs andere Kinder und ich hatten ein Dach über dem Kopf und genug zu essen, aber die wahre Sicherheit, die nur Liebe vermitteln kann, lernten wir nie kennen. Warum die sechs anderen und ich die Kinder dieser Leute waren, ist bis heute nicht ganz zu verstehen. Unsere Kindheit war oft von unbarmherziger Düsterkeit, und wir standen allein in einer Welt, die unsere Eltern uns vorgegeben hatten.
In einer Hinsicht war ich aber besser dran als andere. Ich entdeckte schon früh eine Leidenschaft für das, was ich tun wollte. Mit elf Jahren musste ich mit ansehen, wie die achtjährige Beth, eine meiner Lieblingsschwestern, an Scharlach erkrankte. Scharlachausschlag sieht immer aus wie ein schwerer Sonnenbrand mit winzigen und dennoch hässlichen Pickeln. Ich fühlte mich meinen Geschwistern gegenüber in einer Mutterrolle, und als sich Beths Zustand verschlechterte, machte ich mir große Sorgen wegen Fieber, Schüttelfrost und Erbrechen. Als sie auch noch Halluzinationen bekam, war ich mir sicher, dass sie bald sterben würde. Ich bekam Angst und wurde ergriffen von jenem allumfassenden Entsetzen, das nur Kinder empfinden können. Aber dann kam ein Arzt ins Haus, behandelte sie, und wenig später war sie bereits auf dem Weg der Besserung. Meinem kindlichen Gemüt kam der Doktor vor wie ein Wundertäter, und zutiefst beeindruckt schwor ich mir, Ärztin zu werden. Mit zwölf fing ich an zu arbeiten, um Geld nach Hause zu bringen, und ich war überzeugt: Wenn ich härter und länger arbeitete als die anderen, konnte ich alles erreichen, was ich mir vornahm - ich konnte auch Ärztin werden. Dass ich dazu Zeitungen austragen, kellnern oder in einem Lebensmittelladen bedienen musste, spielte keine Rolle. Manchmal stand ich unruhig am Rand unserer kleinen Stadt und malte mir aus, ich sei irgendwo anders, auf dem Weg zu jenen exotischen Orten, von denen ich in Zeitschriften gelesen oder im Radio gehört hatte. Ich konnte hier rauskommen. Ich würde hier rauskommen. Ich musste hier rauskommen.Beim Fahren dachte ich darüber nach, was der FBI-Agent mich gefragt hatte. "Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?" Special Agent Louis Tomaselli hatte bei seiner Arbeit schon vieles erlebt, aber die grausigen, 20 mal 26 Zentimeter großen Schwarzweißfotos, die er mir gezeigt hatte, waren auch für ihn rätselhaft und Besorgnis erregend. Tomaselli war redegewandt, dunkelhaarig und drahtig. Und er sprach ständig mit den Händen. Dabei unterstrichen seine Gesten nicht nur die Worte, sondern er gestikulierte, drehte die Hände und griff in die Luft, damit ich mir seine Worte besser ausmalen konnte. Schon ziemlich zu Beginn unserer Unterhaltung sagte er: "Zwischen mir und den bad guys ist kein großer Unterschied - nur hat das FBI mich zuerst gekriegt."
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Autoren-Porträt von Helen Morrison, Harold Goldberg
Helen Morrison ist forensische Psychologin und Autorin zahlreicher Fachpublikationen, die sich auch dank ihrer internationalen Vortragstätigkeit den Ruf einer weltweit anerkannten Koryphäe auf ihrem Gebiet erworben hat. Helen Morrison lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Chicago.Harold Goldberg ist ein renommierter New Yorker Journalist, der für alle namhaften amerikanischen Tageszeitungen und Magazine tätig ist.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Helen Morrison , Harold Goldberg
- 2006, 351 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442301084
- ISBN-13: 9783442301089
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