Mein schwacher Wille geschehe
Warum das Laster eine Tugend ist - ein Ausredenbuch
Von der Lust am Nichtstun
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Produktinformationen zu „Mein schwacher Wille geschehe “
Von der Lust am Nichtstun
Klappentext zu „Mein schwacher Wille geschehe “
Wollten Sie auch schon öfter mit dem Rauchen aufhören, die Steuererklärung endlich abgeben, das Chaos im Arbeitszimmer beseitigen oder jetzt wirklich gesünder essen? Und haben Sie es dann doch nicht getan? Dann sind Sie nicht allein. Die Willensschwäche und das Laster sind kleine Fluchten in einer Welt, die uns immer mehr Leistung und Perfektion abverlangt. Harry Nutt wirft einen liebevollen Blick auf unsere kleinen und großen Schwächen und erschließt eine Vielzahl philosophischer und historischer Bezüge. Intelligent und witzig plädiert er für einen entspannteren Umgang mit den vermeintlichen Untugenden und zeigt, dass dies uns allen nützen kann.
Lese-Probe zu „Mein schwacher Wille geschehe “
Wer nicht genießt, ist ungenießbar?"Too much of a good thing can be great."
Mae West
In einer Szene des amerikanischen Spielfilms Sideways geht der Weinkenner und Genießer Miles aus lauter Liebeskummer von einem Moment zum anderen dazu über, sich sinnlos zu betrinken. Er tut es nicht stilvoll, Glas für Glas oder wenigstens in kleinen Schlucken. Vielmehr setzt er eine Flasche an, lässt deren Inhalt hastig durch seine Kehle rinnen und setzt nicht ab, ehe diese geleert ist. Trinken mag man den Vorgang kaum nennen. Es geht Miles offensichtlich darum, die Wirkung des Alkohols so schnell wie möglich zu spüren. Das Vorhaben gelingt. Irgendwann rennt er im Vollrausch einen kleinen Weinberg hinunter und bleibt, endlich unten angekommen, reglos liegen.
Die Szene verfehlt im Film ihre groteske Wirkung nicht. Zwar hat der Regisseur Alexander Payne mit Sideways ausdrücklich einen Film über die Kunst des Genießens gemacht, in dem er den Zuschauer mitnimmt auf eine ausgedehnte Verkostungsreise. An seinem nicht ganz so edlen Schöngeist Miles führt er vor, dass dieser Weg eben auch über holprige Pfade führt. Sideways lotet die dunklen Seiten wohliger Geschmacksempfindungen aus. Genuss ist nicht einfach, und Genießer sind keine Engel. Um seine kleine Reise überhaupt antreten zu können, vergeht Miles sich am Ersparten seiner betagten Mutter. Genuss, soll das wohl bedeuten, setzt sich nicht nur aus Schmecken und Fühlen sowie dem Wissen über deren vielfältige Abstufungen zusammen. Für das Erreichen der Sinnesfreuden muss man allerhand tun und ist dabei nicht vor menschlichen Niederungen gefeit.
Dem steht auch im Film eine Vorstellung von vollendetem Genuss gegenüber, der sich selten einstellt und zu dem ein ganzes Arsenal ausgesuchter Zutaten und komplexer Handlungsabläufe gehört. Man braucht einen Sinn für Proportion und Harmonie, aber auch eine Ahnung davon, was es bedeutet, wenn es an all dem mangelt. Ehe sich genüssliches Behagen einstellen kann, muss vieles
... mehr
zusammenkommen. Und wenn es schließlich erreicht ist, kann man sich seiner Dauer nicht gewiss sein. Wahrer Genuss ist eine vergängliche Wahrnehmung, für die es auch der Ausdauer und der Fähigkeit zur Entsagung bedarf.
Miles kennt sich aus. Er weiß alles über Wein, und er erhält genügend Gelegenheit, es mitzuteilen. Alexander Paynes Film ist ein Roadmovie für Weintrinker. Unterwegs zum guten Geschmack kann allerhand passieren, und trotz bester Absichten schaffen es die Akteure nicht, immer auf den Pfaden der Tugend zu bleiben. Die Freunde Miles und Jack unternehmen eine gemeinsame Reise durch die Berge Kaliforniens, bevor Jack heiraten und in die Firma seines Schwiegervaters einsteigen soll. Der Lehrer und Weinliebhaber Miles hat eigens eine Route ausgearbeitet, auf der es ihm darum geht, von Weinberg zu Weinberg zu gelangen und die Kunst der örtlichen Winzer mit all ihren feinen Unterschieden kennen zu lernen. Für ihn ist es seine ganz persönliche Bildungsreise mit pädagogischem Ehrgeiz. In endlosen Gesprächen weist er seinen Freund in die Schule des Weintrinkens ein, insbesondere in die Wonnen des Pinot Noir. Zwar ist Jack, der nur darauf aus ist, vor seiner Hochzeit noch einmal richtig einen drauf zu machen, allenfalls mäßig interessiert. Aber er hört seinem Freund willig dabei zu, wie dieser mit unerschöpflicher sprachlicher Benennungsfreude den Geschmacksnoten in den verschiedenen Regionen des Gaumens nachspürt und sich an der Poesie des Abgangs und dem Farbenspiel des nie gleichen Rebsaftes ergötzt. Ihren zum Teil sehr liebenswerten Schwächen, das ist die schöne und mitunter auch bittere Pointe des Films, erliegen sie beide. Von der reinen Lehre des Genießens weichen die beiden Hallodri schon zu Beginn ihrer so ungleichen Vorhaben ab. Über seine sexuellen Abenteuer scheint Jack sogar seine bevorstehende Hochzeit aus den Augen zu verlieren. So gesehen handelt Sideways von Willensschwäche und der mal heilsamen, mal verführerischen Rolle, die der Genuss dabei spielen kann. Auf dem Weg zum Hochgenuss besteht Absturzgefahr. Zuviel des Guten, weiß der Volksmund, ist meist unbekömmlich. Ein Glas feinsten Weins am Tag kann man genießen. Beim Konsum von vier Gläsern bewegt man sich im Grenzbereich des Alkoholismus. Und was, so fragt der verunsicherte Konsument, ist mit Nummer zwei und drei?
Wer kokettiert nicht gern mit der Übertretung des gebotenen Maßes? Man könne eine Speise nur dann richtig kennen lernen, heißt es bereits bei Walter Benjamin, wenn man nicht immer Maß mit ihr hält. Leicht ließen sich weitere Aphorismen und Sprichwörter ergänzen. Manchmal können wir vom Guten trotz aller Vorsätze und berechtigten Warnungen nicht lassen. Was in solchen Momenten als Ordnungsruf ertönt, ist die Idee vom sparsam dosierten Genuss, der doch zugleich als langweilige Konformität verhallt. Kein Mensch tut gern tun, was er tun darf, hat Wolf Biermann in seinem berühmten frühen Lied gereimt: "denn was verboten ist, das macht gerade scharf". In diesem Zusammenhang bedeutet es wohl, dass Regelverstöße vitalitätssteigernd sind.
Das hektische Hinunterstürzen eines guten Weins ist dagegen ein Frevel. Niemand weiß das besser als Miles, der daheim die Flasche eines kostbaren Tropfens aufbewahrt und sehnsuchtsvoll dem Tag entgegensieht, an dem er diese feierlich öffnen wird. Kein Anlass war ihm bislang würdig genug, und eine Spur von Spannung erwächst während des Films aus der Frage, ob Miles den Tropfen am Ende gemeinsam mit der Reisebekanntschaft Maya trinken wird, die allerdings auch der Anlass seines schweren Liebeskummers war. Ist es überhaupt möglich, das zarte Reizen der Geschmacksnerven mit einem geglückten Augenblick des Lebens zu synchronisieren? Und ist es nicht oft das allzu starke Wollen, vor dem sich die Augenblicke des Gelingens so rar machen?
Das Streben nach Genuss ist in mancherlei Hinsicht mit dem Lebensgefühl verwandt, aus dem heraus wir diesen oder jenen gefassten Vorsatz noch einmal aufschieben oder verwerfen. Wir trauen unseren Sinnen das meiste zu, ohne uns ihrer je richtig sicher zu sein. Man kann sich ja täuschen, und selbst der beste Tropfen will manchmal nicht schmecken, weil sich die entsprechende Stimmung nicht einstellt. Dennoch steht der Genuss hoch im Kurs. Während Wankelmut, Grübeln, Zaudern oder mangelnde Standhaftigkeit eine eher schlechte Presse haben, gilt die gezielte Reizung der Geschmacksnerven als Lebenskunst. Der Eindruck einer Charakterschwäche lässt sich mit demonstrativer Genussbereitschaft und dem Nachweis von Genussbegabung sogar beheben. Wer den Umgang mit den Geschmäckern beherrscht, dem billigt man Lebensklugheit zu. Guten Appetit wünscht man einander, aber guter Geschmack ist insgeheim eine Norm, die nicht nur im gastronomischen Sektor nach Kräften veredelt wird. Wenn im Folgenden vom Genießen die Rede ist, so wird es darauf ankommen, die Ambivalenz dieser Sinneswahrnehmung herauszuarbeiten und ihre Nähe zur Unlust zu bestimmen.
In dieser Ambivalenz schlummern destruktive Kräfte wie kulturelles Kapital. Miles scheidet mit seinem Trinkanfall keineswegs aus dem Club genießender Weintrinker aus. Er hat allenfalls ein grobes Foul begangen. Auf rabiate Weise hat er bewusst alle Regeln verletzt, die wahren Weingenuss erst abrunden. Er weiß, dass er nicht nur sich, sondern auch dem so sorgsam gereiften Getränk Gewalt angetan hat. Das ist ein schwerer Verstoß gegen die genießerische Etikette. Miles hat dem edlen Tropfen, gewissermaßen direkt vor den Augen des kalifornischen Erzeugers, jede Chance zum Atmen genommen, auf dass dieser sein vielfältiges Aroma zu entfalten vermag. Wider besseres Wissen hat er alle Schritte eines bewussten Schmeckens missachtet, als geschehe es im Dienst einer schonungslosen Selbstbestrafung, die darin besteht, sich jegliches Wohlgefühl vorzuenthalten. Der Seelenkampf der Filmfigur ist ein Indiz dafür, dass die Kunst des Genießens eine äußerst komplexe Form der Sinneswahrnehmung ist, in deren filigranes Geflecht sich starker wie schwacher Wille gleichermaßen fallen lassen, aber auch verfangen können. Willensschwäche und Genuss stehen in keiner festen Beziehung zueinander, aber sie tauchen häufig, und sei es auch nur zur Tarnung, als Pärchen auf oder wechseln einander ab.
Das Gebot und die Fähigkeit zum Genuss können vor hastiger Gier bewahren. Im Verlauf anhaltenden Genusses kann jedoch jedes Bemühen um das richtige Maß verloren gehen. Noch eins hiervon, noch eins davon. Ohne weiteres ist man in Momenten des Überschwangs zur bedingungslosen Hingabe an süße und lockende Versprechungen bereit. Wie ein Löffel Vanilleeis beim Auftreffen auf der Zunge, schmilzt der Genießende dahin, von welcher Sinnesfreude auch immer er gerade berührt worden sein mag. Es ist also geboten, ein paar Unterscheidungen zu treffen.
Leichte Genüsse
Es gibt keine auf den ersten Blick erkennbare Hierarchie der Genüsse, noch sind die Möglichkeiten begrenzt, über die vertrauten hinaus - seien es feines oder üppiges Essen oder das Empfinden einer schmeichelnden Hand auf der Haut - neue zu entdecken. Genusstradition und Kombinierlust stehen unverbrüchlich nebeneinander. Man kann Gefallen an der italienischen Renaissancemalerei finden oder man wird gewahr, dass man sich prächtig vorm Fernseher entspannt, wenn dort gerade junge Nachwuchssänger gecastet werden. Was manche verabscheuen, kann zur Quelle des Genusses von anderen werden. Das endlose Spiel der Distinktionen eröffnet ein weites Feld für leichte Genüsse. Vanille und George Clooney, Madelaine-Buiscuits und Nackenmassage, alles kann zum Genuss werden. Man bezieht sich auf andere oder genießt für sich allein. Ein Großteil des Wohlbefindens erwächst aus der Verfeinerung von Gewohnheiten oder tradierten Genussvorstellungen. Das mag einer der Gründe dafür sein, warum Luxushotels so blumig damit werben, in ihrem Wellnessbereich zu später Stunde Schaumweinprodukte zu kredenzen. In allerhand Abwandlungen ist zum handelsüblichen Genussangebot avanciert, was man für einen Ausdruck der Dekadenz früherer Tage hält. Ein Großteil der Champagnerproduktion oder andere Veredelungsindustrien scheint sich genau diesem Umstand zu verdanken. Für andere verbietet es sich hingegen, auf derlei klischeehafte Genussangebote einzugehen. Für sie kann es bereits ein Hochgenuss darstellen, heißes Wasser in die Badewanne nachlaufen zu lassen und dabei Brian Wilsons "Petsounds" zu hören. Das alles zählt zu den leichten Genüssen, weil sie vielfältig kombinierbar und ohne großen Aufwand oder den Einsatz beträchtlicher Geldmittel zu haben sind. Man folgt den Moden oder bloß dem körperlichen Befinden.
Den leichten Genüssen gibt man sich in der Regel nicht bedingungslos hin. Schon möglich, dass man dem Werben des Eismanns an der Ecke im Sommer erliegt. Doch selbst wenn man es mit dem Hang zu einer gewissen Zwanghaftigkeit tut, ist es eher unwahrscheinlich, dass die drei Kugeln mit Sahne zu den Dingen gezählt werden, gegen die man sich schon ein halbes Leben über vergeblich zu wehren versucht hat. Leichte Genüsse sind das, was man sich arglos gestattet. Eine zeitlang giert man danach, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass man es auch wieder aus den Augen verliert.
Man kann nicht alle leichten Genüsse zum Kult seiner eigenen Lebensführung erheben.
Miles kennt sich aus. Er weiß alles über Wein, und er erhält genügend Gelegenheit, es mitzuteilen. Alexander Paynes Film ist ein Roadmovie für Weintrinker. Unterwegs zum guten Geschmack kann allerhand passieren, und trotz bester Absichten schaffen es die Akteure nicht, immer auf den Pfaden der Tugend zu bleiben. Die Freunde Miles und Jack unternehmen eine gemeinsame Reise durch die Berge Kaliforniens, bevor Jack heiraten und in die Firma seines Schwiegervaters einsteigen soll. Der Lehrer und Weinliebhaber Miles hat eigens eine Route ausgearbeitet, auf der es ihm darum geht, von Weinberg zu Weinberg zu gelangen und die Kunst der örtlichen Winzer mit all ihren feinen Unterschieden kennen zu lernen. Für ihn ist es seine ganz persönliche Bildungsreise mit pädagogischem Ehrgeiz. In endlosen Gesprächen weist er seinen Freund in die Schule des Weintrinkens ein, insbesondere in die Wonnen des Pinot Noir. Zwar ist Jack, der nur darauf aus ist, vor seiner Hochzeit noch einmal richtig einen drauf zu machen, allenfalls mäßig interessiert. Aber er hört seinem Freund willig dabei zu, wie dieser mit unerschöpflicher sprachlicher Benennungsfreude den Geschmacksnoten in den verschiedenen Regionen des Gaumens nachspürt und sich an der Poesie des Abgangs und dem Farbenspiel des nie gleichen Rebsaftes ergötzt. Ihren zum Teil sehr liebenswerten Schwächen, das ist die schöne und mitunter auch bittere Pointe des Films, erliegen sie beide. Von der reinen Lehre des Genießens weichen die beiden Hallodri schon zu Beginn ihrer so ungleichen Vorhaben ab. Über seine sexuellen Abenteuer scheint Jack sogar seine bevorstehende Hochzeit aus den Augen zu verlieren. So gesehen handelt Sideways von Willensschwäche und der mal heilsamen, mal verführerischen Rolle, die der Genuss dabei spielen kann. Auf dem Weg zum Hochgenuss besteht Absturzgefahr. Zuviel des Guten, weiß der Volksmund, ist meist unbekömmlich. Ein Glas feinsten Weins am Tag kann man genießen. Beim Konsum von vier Gläsern bewegt man sich im Grenzbereich des Alkoholismus. Und was, so fragt der verunsicherte Konsument, ist mit Nummer zwei und drei?
Wer kokettiert nicht gern mit der Übertretung des gebotenen Maßes? Man könne eine Speise nur dann richtig kennen lernen, heißt es bereits bei Walter Benjamin, wenn man nicht immer Maß mit ihr hält. Leicht ließen sich weitere Aphorismen und Sprichwörter ergänzen. Manchmal können wir vom Guten trotz aller Vorsätze und berechtigten Warnungen nicht lassen. Was in solchen Momenten als Ordnungsruf ertönt, ist die Idee vom sparsam dosierten Genuss, der doch zugleich als langweilige Konformität verhallt. Kein Mensch tut gern tun, was er tun darf, hat Wolf Biermann in seinem berühmten frühen Lied gereimt: "denn was verboten ist, das macht gerade scharf". In diesem Zusammenhang bedeutet es wohl, dass Regelverstöße vitalitätssteigernd sind.
Das hektische Hinunterstürzen eines guten Weins ist dagegen ein Frevel. Niemand weiß das besser als Miles, der daheim die Flasche eines kostbaren Tropfens aufbewahrt und sehnsuchtsvoll dem Tag entgegensieht, an dem er diese feierlich öffnen wird. Kein Anlass war ihm bislang würdig genug, und eine Spur von Spannung erwächst während des Films aus der Frage, ob Miles den Tropfen am Ende gemeinsam mit der Reisebekanntschaft Maya trinken wird, die allerdings auch der Anlass seines schweren Liebeskummers war. Ist es überhaupt möglich, das zarte Reizen der Geschmacksnerven mit einem geglückten Augenblick des Lebens zu synchronisieren? Und ist es nicht oft das allzu starke Wollen, vor dem sich die Augenblicke des Gelingens so rar machen?
Das Streben nach Genuss ist in mancherlei Hinsicht mit dem Lebensgefühl verwandt, aus dem heraus wir diesen oder jenen gefassten Vorsatz noch einmal aufschieben oder verwerfen. Wir trauen unseren Sinnen das meiste zu, ohne uns ihrer je richtig sicher zu sein. Man kann sich ja täuschen, und selbst der beste Tropfen will manchmal nicht schmecken, weil sich die entsprechende Stimmung nicht einstellt. Dennoch steht der Genuss hoch im Kurs. Während Wankelmut, Grübeln, Zaudern oder mangelnde Standhaftigkeit eine eher schlechte Presse haben, gilt die gezielte Reizung der Geschmacksnerven als Lebenskunst. Der Eindruck einer Charakterschwäche lässt sich mit demonstrativer Genussbereitschaft und dem Nachweis von Genussbegabung sogar beheben. Wer den Umgang mit den Geschmäckern beherrscht, dem billigt man Lebensklugheit zu. Guten Appetit wünscht man einander, aber guter Geschmack ist insgeheim eine Norm, die nicht nur im gastronomischen Sektor nach Kräften veredelt wird. Wenn im Folgenden vom Genießen die Rede ist, so wird es darauf ankommen, die Ambivalenz dieser Sinneswahrnehmung herauszuarbeiten und ihre Nähe zur Unlust zu bestimmen.
In dieser Ambivalenz schlummern destruktive Kräfte wie kulturelles Kapital. Miles scheidet mit seinem Trinkanfall keineswegs aus dem Club genießender Weintrinker aus. Er hat allenfalls ein grobes Foul begangen. Auf rabiate Weise hat er bewusst alle Regeln verletzt, die wahren Weingenuss erst abrunden. Er weiß, dass er nicht nur sich, sondern auch dem so sorgsam gereiften Getränk Gewalt angetan hat. Das ist ein schwerer Verstoß gegen die genießerische Etikette. Miles hat dem edlen Tropfen, gewissermaßen direkt vor den Augen des kalifornischen Erzeugers, jede Chance zum Atmen genommen, auf dass dieser sein vielfältiges Aroma zu entfalten vermag. Wider besseres Wissen hat er alle Schritte eines bewussten Schmeckens missachtet, als geschehe es im Dienst einer schonungslosen Selbstbestrafung, die darin besteht, sich jegliches Wohlgefühl vorzuenthalten. Der Seelenkampf der Filmfigur ist ein Indiz dafür, dass die Kunst des Genießens eine äußerst komplexe Form der Sinneswahrnehmung ist, in deren filigranes Geflecht sich starker wie schwacher Wille gleichermaßen fallen lassen, aber auch verfangen können. Willensschwäche und Genuss stehen in keiner festen Beziehung zueinander, aber sie tauchen häufig, und sei es auch nur zur Tarnung, als Pärchen auf oder wechseln einander ab.
Das Gebot und die Fähigkeit zum Genuss können vor hastiger Gier bewahren. Im Verlauf anhaltenden Genusses kann jedoch jedes Bemühen um das richtige Maß verloren gehen. Noch eins hiervon, noch eins davon. Ohne weiteres ist man in Momenten des Überschwangs zur bedingungslosen Hingabe an süße und lockende Versprechungen bereit. Wie ein Löffel Vanilleeis beim Auftreffen auf der Zunge, schmilzt der Genießende dahin, von welcher Sinnesfreude auch immer er gerade berührt worden sein mag. Es ist also geboten, ein paar Unterscheidungen zu treffen.
Leichte Genüsse
Es gibt keine auf den ersten Blick erkennbare Hierarchie der Genüsse, noch sind die Möglichkeiten begrenzt, über die vertrauten hinaus - seien es feines oder üppiges Essen oder das Empfinden einer schmeichelnden Hand auf der Haut - neue zu entdecken. Genusstradition und Kombinierlust stehen unverbrüchlich nebeneinander. Man kann Gefallen an der italienischen Renaissancemalerei finden oder man wird gewahr, dass man sich prächtig vorm Fernseher entspannt, wenn dort gerade junge Nachwuchssänger gecastet werden. Was manche verabscheuen, kann zur Quelle des Genusses von anderen werden. Das endlose Spiel der Distinktionen eröffnet ein weites Feld für leichte Genüsse. Vanille und George Clooney, Madelaine-Buiscuits und Nackenmassage, alles kann zum Genuss werden. Man bezieht sich auf andere oder genießt für sich allein. Ein Großteil des Wohlbefindens erwächst aus der Verfeinerung von Gewohnheiten oder tradierten Genussvorstellungen. Das mag einer der Gründe dafür sein, warum Luxushotels so blumig damit werben, in ihrem Wellnessbereich zu später Stunde Schaumweinprodukte zu kredenzen. In allerhand Abwandlungen ist zum handelsüblichen Genussangebot avanciert, was man für einen Ausdruck der Dekadenz früherer Tage hält. Ein Großteil der Champagnerproduktion oder andere Veredelungsindustrien scheint sich genau diesem Umstand zu verdanken. Für andere verbietet es sich hingegen, auf derlei klischeehafte Genussangebote einzugehen. Für sie kann es bereits ein Hochgenuss darstellen, heißes Wasser in die Badewanne nachlaufen zu lassen und dabei Brian Wilsons "Petsounds" zu hören. Das alles zählt zu den leichten Genüssen, weil sie vielfältig kombinierbar und ohne großen Aufwand oder den Einsatz beträchtlicher Geldmittel zu haben sind. Man folgt den Moden oder bloß dem körperlichen Befinden.
Den leichten Genüssen gibt man sich in der Regel nicht bedingungslos hin. Schon möglich, dass man dem Werben des Eismanns an der Ecke im Sommer erliegt. Doch selbst wenn man es mit dem Hang zu einer gewissen Zwanghaftigkeit tut, ist es eher unwahrscheinlich, dass die drei Kugeln mit Sahne zu den Dingen gezählt werden, gegen die man sich schon ein halbes Leben über vergeblich zu wehren versucht hat. Leichte Genüsse sind das, was man sich arglos gestattet. Eine zeitlang giert man danach, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass man es auch wieder aus den Augen verliert.
Man kann nicht alle leichten Genüsse zum Kult seiner eigenen Lebensführung erheben.
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Inhaltsverzeichnis zu „Mein schwacher Wille geschehe “
InhaltVorwortTheater der Widersprüche - eine UmfrageDie Sache mit dem PappkartonDie letzte Zigarette - für heuteÖffentlich gewogenAufschiebende WirkungExkurs: AkrasiaDurch den KonsumÜber die VerhältnisseDie Kunst der VerspätungWer nicht genießt, ist ungenießbarLässigkeitExkurs: Wenn das Laster zur Sucht wirdSelbstmodellierung und VerwilderungAns LimitFür eine kleine Schule des NachlassensDankAnmerkungen
Autoren-Porträt von Harry Nutt
Harry Nutt, Jahrgang 1959, ist Kulturkorrespondent der Frankfurter Rundschau (FR) in Berlin. Von 1996 bis 1999 leitete er das Kulturressort der taz, von 1999 bis 2006 war er Feuilletonchef der FR.
Bibliographische Angaben
- Autor: Harry Nutt
- 2009, 221 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: CAMPUS VERLAG
- ISBN-10: 3593387816
- ISBN-13: 9783593387819
Rezension zu „Mein schwacher Wille geschehe “
13.08.2009, Frankfurter RundschauLasterkunde"Ein Erlaubnisgeber, der die integrativen Kräfte von Lastern herausarbeitet."
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