Mensch bleiben
High-Tech und Herz - eine liebevolle Medizin ist keine Utopie
Prof. Dr. Grönemeyers leidenschaftliches Plädoyer für eine menschliche Medizin: zwischen High Tech und Naturheilkunde. Er definiert die Rolle des Arztes dabei als mitfühlender Partner des Patienten und fordert eindringlich eine Abkehr vom Diktat der Ökonomie.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Mensch bleiben “
Prof. Dr. Grönemeyers leidenschaftliches Plädoyer für eine menschliche Medizin: zwischen High Tech und Naturheilkunde. Er definiert die Rolle des Arztes dabei als mitfühlender Partner des Patienten und fordert eindringlich eine Abkehr vom Diktat der Ökonomie.
Klappentext zu „Mensch bleiben “
60. Geburtstag Dietrich Grönemeyers am 12.11.2012Der Bestseller neu erweitert und aktualisiert
160.000 verkaufte Exemplare im Hardcover und Taschenbuch
Eine menschliche Medizin mit Herz ist möglich - auch in unserem Gesundheitswesen. Davon ist der bekannte Mediziner und leidenschaftliche Arzt Dietrich Grönemeyer überzeugt. Welche Möglichkeiten es gibt, was sich - auch in Zeiten von Alzheimer - ändern muss und kann, das beschreibt er sehr genau. Grönemeyers leidenschaftliches Plädoyer für eine Medizin mit Herz: Damit Heilung gelingt.
Lese-Probe zu „Mensch bleiben “
Mensch bleiben von Dietrich GrönemeyerVorwort
Wir sollten wieder dazu kommen, Dinge zusammen zu sehen, die man nicht auseinander reißen darf: Mensch - Mitmensch - Gesundheit - Medizin - Kultur und globale Welt. Ich habe für dieses Buch daher bewusst einen ungewöhnlichen Stil gewählt, der dem Rechnung trägt Es ist eine Mischung aus persönlichem Erleben, Familiengeschichte, Patientenberichten und faktischen Elementen zu Medizin, Wissenschaft und Technik, Philosophie und Ethik, es hat aber auch ganz konkrete Ratgeberanteile. Dabei wende ich mich ganz bewusst nicht primär an ärztliche Kollegen und Therapeuten, sondern primär an diejenigen, die am Themenfeld Gesundheit und Medizin interessiert sind, also an die breite Öffentlichkeit.
Meine Sorge um die Zukunft des Menschen sowie um die Medizin der Zukunft hat mich dazu bewogen, diese Form für ein Thema zu wählen, in dem es darum geht, die verschiedenen Perspektiven wieder zusammenzubringen: persönliche Erfahrung und innere Motivation, aber auch gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklungen sowie neue wissenschaftliche Möglichkeiten.
Gesundheit, Kranksein und Heilen als menschliche Grunderfahrungen sind von diesen Wirklichkeiten und Entwicklungen immer auch stark betroffen, in Zeiten großer Veränderungen ganz besonders.
Dieses Buch ist entstanden aus der Überzeugung, dieses gemeinsame Menschsein in der allgemeinen Debatte über die Entwicklung des Gesundheitswesens als grundlegenden Wert nicht aus dem Blick zu verlieren. Und es ist geschrieben aus meinem konkret erlebten Alltag als Arzt und Wissenschaftler, der sich auch unternehmerischen Überlegungen nicht verschließen kann. Es entwickelt letztlich die Vision einer umfassenden Gesundheitswirtschaft, in der eine hochwertige und liebevolle medizinische Versorgung kein Widerspruch zu Wirtschaftskraft,
... mehr
Arbeitsplätzen und Gewinnen ist.
Medizin und Gesundheitswirtschaft gelten als spröde und schwierige Materie. Ich hoffe, dass es mir durch den von mir gewählten individuellen Stil gelingt, Leserinnen und Leser dazu zu motivieren, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, das uns alle ganz existenziell angeht: Denn Arzt und Patient sind Partner.
Um vereinzelte Erlebnisse bei der Patientenbehandlung bildlicher beschreiben zu können, habe ich teilweise plakative Beispiele aus meinem ärztlichen Alltag verwendet. Diese Beispiele nenne ich nicht, um mich in ein besonderes Licht zu rücken. Vielmehr möchte ich persönlich erlebte Situationen nutzen, um dem Leser die Möglichkeiten von moderner Diagnostik und Therapie zu veranschaulichen.
Die Privatsphäre meiner Patienten zu sichern, ist mir - wie allen Ärzten - höchstes Anliegen und ethische Verpflichtung. Deshalb finden sich in diesem Buch kaum Namensnennungen. Dort, wo Namen im Kontext von Krankheitsgeschichten genannt werden, sind sie frei erfunden. Etwaige Namensgleichheiten oder -ähnlichkeiten sind rein zufällig -und nicht beabsichtigt.
Entscheidend für das Konzept dieses Buches ist die Einsicht: Der Mensch ist Teil der Welt und der Umwelt. Er ist Mitwelt. Die Ökologiebewegung der letzten Jahrzehnte hat die Erhaltung des Ökosystems Erde zum Programm gemacht. Inzwischen sind Fortschritte im Bewusstsein der Menschen und in der realen Praxis zu sehen. Doch auch der Mensch selbst ist ein Ökosystem, mit seinem Körper, seiner Seele und seinem Geist. Er ist gleichsam ein Mikrokosmos im Makrokosmos. Jeder Eingriff, jede Veränderung auch im Ökosystem Mensch hat Auswirkungen. So geht es nun auch in der Medizin darum, möglichst sanfte und schonende Verfahren zur Behandlung und Heilung zu finden.
„Mensch bleiben' will und kann keinen Entwurf für ein neues Gesundheitssystem liefern. Dieses Buch ist vielmehr meine Sicht zu den Themen Vorsorge, Heilen, medizinische Versorgung sowie Gesundheitswirtschaft. Was ich im Folgenden beschreibe, handelt von eigenen Erfahrungen und persönlichen Schwerpunkten im Blick auf eine zukünftige Medizin zwischen High-Tech und Naturheilkunde unter Einbezug der psychosomatischen Medizin. Es geht mir dabei - und dies möchte ich hier ausdrücklich betonen - weder darum, in aller Vollständigkeit die Medizin abzubilden oder zu diskutieren noch die sich ständig ändernden politischen Positionen zu referieren. Mein Hauptanliegen ist
ein anderes: die enormen Potenziale der Medizin und Gesundheitswirtschaft wahrzunehmen und eine Aufbruchstimmung zu initiieren.
Ich setze mich für die medizinischen Inhalte ein. Aber genauso engagiere ich mich auch für die Belange der Patienten. Denn darum geht es vor allem: Mensch zu bleiben in einer Zeit, in der das Individuum und menschliche Beziehungen durch den Sog politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse weltweit an Bedeutung verlieren, in der die Gesundheitspolitik ohne die betroffenen Patienten stattfindet und gen-technische Manipulationen und die Allmachtsphantasien Einzelner ungeahnte Folgen für die Menschheit bereithalten.
Mensch sein und Mensch bleiben, das ist die Herausforderung!
Heilen statt Kranksparen
Vor einiger Zeit bin ich auf einen Text gestoßen, der mich sehr fasziniert hat. Hintergrund ist das Russland des 19. Jahrhunderts - und doch illustriert dieser Text etwas Zeitloses. Leo Tolstoj schildert in ,,Krieg und Frieden" eine Szene, nachdem Fürst Andrej eine schreckliche Verwundung im Kampf davongetragen hatte: "Der Arzt beugte sich tief über die Wunde, untersuchte sie und seufzte schwer. Dann gab er jemandem ein Zeichen. Und nun ließ ein quälender Schmerz im Inneren des Leibes Fürst Andrej das Bewusstsein verlieren ... als er wieder zu sich kam, waren die zerschmetterten Hüftknochen entfernt, die Fleischfetzen weg geschnitten und die Wunde verbunden. Man besprengte sein Gesicht mit Wasser. Als er die Augen wieder aufschlug, beugte sich der Arzt über ihn, küsste ihn schweigend auf die Lippen und entfernte sich eilig."
Auf diesem Hintergrund ist mir ein eigenes Erlebnis tief in Erinnerung, das noch nicht lange zurückliegt: Ich kam spät nachts an einer Unfallstelle vorbei. Drei Sanitätswagen und ein Hubschrauber waren da, ein Verletzter lag völlig allein gelassen auf der Straße. Ärzte und Sanitäter waren dabei, heftig darüber zu diskutieren, in welche Klinik der Patient eingeliefert werden sollte.
Dieses Erlebnis hat mich nicht losgelassen. Es veranschaulicht, in welcher Gefahr unser Gesundheitssystem steckt.
Im Kontrast dazu hat das Zitat von Leo Tolstoj für mich eine zentrale Bedeutung, auch wenn uns das Pathos fremd sein mag: Natürlich ist heute nicht vorstellbar, dass ein Arzt einen Patienten küsst. Aber Tolstoj zeigt eine solch ausgeprägte Form der Zuwendung, der Selbstlosigkeit und Empathie, gerade in einer extremen Situation, dass ich diese menschliche Geste bleibend eindrucksvoll finde. Dieser Text illustriert für mich, was liebevolle Medizin ist: die wirklich ehrliche mit menschliche Fürsorge eines Arztes. Die Geste der Hingabe, die Tolstoj beschreibt, sollte uns alle nachdenklich machen.
Dem Menschen zugewandt sich wieder auf die medizinischen Werte und Inhalte konzentrieren - darum geht es. In der Hetze des medizinischen Alltags, getrieben von Kostendiskussion und Einsparpolitik, verlieren wir das Wesentliche aus dem Blick. Verwaltungen und Ärzte werden mit ständig neuen Erlassen lahmgelegt. Krankenhäuser werden geschlossen und ganze Berufsstände schlechtgeredet. Um uns Menschen und um uns selbst als Patienten geht es nicht - wir werden zunehmend vergessen.
,,Was nützt mir der ganzen Erde Geld. Kein kranker Mensch genießt die Welt", so formulierte schon vor ungefähr zweihundert Jahren Johann Wolfgang von Goethe. Möglicherweise müssen wir in Zukunft sogar noch mehr für Gesundheit ausgeben. Keiner weiß es. Wir können dies nur dann wirklich feststellen, wenn wir uns auf die medizinischen Inhalte konzentrieren. Bevor man ein neues Auto baut, definiert man erst einmal die Ausstattung, die Motorisierung und das Design. Danach legt man ein sogenanntes Pflichtenheft an und definiert die Lieferantengruppen. Erst dann diskutiert man die Kosten und legt den Preis fest. In der Politik wird jedoch anscheinend beim Thema Gesundheit genau umgekehrt vorgegangen. Daher kommen wir über die Kostendiskussion weltweit nicht mehr hinaus: Man muss inzwischen den Eindruck gewinnen, dass die Gesundheitsminister vieler Länder einander kopieren. Es ist wie in der Schule: Man hat seine Hausaufgaben nicht gemacht und übernimmt beim Abschreiben vor allen Dingen die Fehler des anderen. So geht ein Gesundheitssystem nach dem andern „baden": erst in Holland, dann in England und dann irgendwann das unsrige. Dabei zeigt doch die Lebenserfahrung: Wenn man einen Platten hat, wechselt man den Reifen und nicht die Karosserie!
Die weltweiten Debatten um die Gesundheitsreformen verfolge ich nun seit über zwanzig Jahren, solange ich Arzt bin. Mit wachsendem Unbehagen sehe ich, dass alle Diskussionen keinen wirklichen Fortschritt im Sinne einer besseren medizinischen Versorgung, Therapie oder Prävention bewirken. Im Gegenteil: Über das Ziel und die betroffenen Patienten wird in der Medizin fast nie geredet. Das Ziel sollte die Heilung von Krankheiten sowie die Erhaltung und Verbesserung von Lebensqualität sein. Viele beschwören eine Mehrklassenmedizin als Gefahr der Zukunft. Aber wir haben bereits jetzt eine Mehrklassenmedizin, mit Normal- und Privatversicherten einerseits sowie den Sebstzahlern andererseits. Und leider haben den Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen bisher die geringsten Aussichten, in den Genuss innovativer Medizin zu kommen. Das halte ich für den falschen Weg.
Wir verfügen heute über moderne Möglichkeiten auch für schonende, ambulante Diagnose- und Therapieverfahren, die in der Breite angewendet werden könnten und die nicht nur besser wären als viele andere Methoden, sondern auch noch kostengünstiger. Aber es fehlt der politische Wille, sich in diese Richtung zu bewegen, und auch das ausgeprägte Lobbydenken vieler Akteure behindert den Blick für den volkswirtschaftlichen Gesamtzusammenhang.
Die medizinische Versorgung ist ja nur ein Teilbereich einer wachsenden Gesundheitswirtschaft mit vielen assoziierten Branchen. Dazu gehören Medizintechnik, Pharmazeutik, Sport und Fitness, Handwerk, Telekommunikation, Medien und vieles mehr. Wir brauchen eine Aufbruchstimmung, und um diese zu erreichen, sollten wir vor allem die positiven Aspekte der Medizin wahrnehmen. Und dabei geht es meiner Überzeugung nach um eine neue Wahrnehmung: Auf der einen Seite geht es um die Schaffung bzw. Erhaltung von Lebensqualität mit guter medizinischer Versorgung, um unsere Kultur erhalten und weiterentwickeln zu können. Gleichzeitig geht es aber auch um ein immer neues Know-how, um Beschäftigung, neue Arbeitsplätze und neue Berufe, Wirtschaftsförderung und prosperierende Wirtschaft, wissenschaftliche Forschung, neue Märkte, aber auch Gewinne bzw. neue Einnahmen für Firmen und Staat.
Innerhalb der Gesundheitswirtschaft favorisiere ich ein solidarisches Gesundheitssystem mit hoher Qualität der Grundversorgung, mit Zusatzversicherungspaketen und einem Qualitätsmanagement, unter Einbezug aller medizinischen Möglichkeiten zwischen High-Tech-Medizin und Naturheilkunde. Deshalb plädiere ich für eine medizinische Versorgung, bei der der Blick nicht verloren geht für den Menschen, für die gute Beziehung zwischen Patient und Arzt - das betrifft auch alle anderen therapeutischen und pflegenden Berufe - und für eine liebevolle Medizin: Denn diese ist die entscheidende Voraussetzung für einen erfolgreichen Heilungsprozess und für eine notwendige Individualmedizin für jeden Einzelnen von uns. Der Mensch ist schließlich keine Maschine.
Heilen statt Kranksparen! Gemeinsam mit den Patienten sollten wir nach Konzepten suchen. Auch wenn Reformen in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten anstehen, darf dabei nicht vergessen werden, dass eine Reform nur dann nachhaltig wirken kann, wenn sie am medizinischen Inhalt orientiert ist, den Menschen in den Mittelpunkt rückt und gleichzeitig transparent und gerecht ist. Deshalb sollten alle gesellschaftlichen Gruppen ihren Beitrag leisten - inhaltlich wie finanziell -, auch die Patienten. Aber diese sollten gleichzeitig auch in die Entscheidungen einbezogen werden. In den Debatten und Beschlussgremien sind die Patienten bzw. Kunden des Gesundheitssystems bisher meistens nicht vertreten - oder nur mit Anhörungs-, aber nicht mit Mitbestimmungsrechten.
Mensch bleiben - das heißt konkret: Es darf nicht darum gehen, unter Kostendruck mit „Totschlag"-Argumenten die medizinische Behandlung in immer schnellerem Durchlauf durchzudrücken, womöglich unter Ausschaltung der ärztlichen Meinung und unter der Dominanz von Krankenkassen-Sachbearbeitern oder Medizinischen Diensten. Patient, Arzt und Verwaltung müssen zu Partnern werden. Wir brauchen Fürsorglichkeit und Barmherzigkeit als Gegenkonzept, sonst bleibt die Menschlichkeit auf der Strecke, und letztlich werden dann die Menschen noch kränker. Ich bin überzeugt: Mit Geld aus anderen Bereichen der Gesundheitswirtschaft und auch Zusatzversicherungen wäre die heutige Medizin sofort bezahlbar. Und wie wäre es, militärisch abzurüsten und auf ein paar Panzer zu verzichten und die Gesundheit aufzurüsten? Wir sind selber verantwortlich für die Prioritäten, die wir setzen.
In der Medizin arbeiten zu dürfen, macht sehr viel Freude - abgesehen von den fürchterlichen öffentlichen Debatten, den übertriebenen Verwaltungsaufgaben und dem fehlenden Wettbewerb. Die meisten Beschäftigten arbeiten mit Herz und unter vielen Entbehrungen. Wir müssen die Heranwachsenden begeistern für diese wunderschöne Aufgabe, in der Medizin und für die Menschen tätig werden zu können. Schon heute gibt es mehr als 800 verschiedene Berufe in dieser Boombranche der Gesundheitswirtschaft. Die Fächergrenzen brechen auf, und ständig entstehen neue Berufszweige. Ärzte dürfen nicht zu Funktionsmedizinern degradiert werden, sondern müssen mitfühlender Partner sein. Genau das ist für mich persönlich ein vertrauenswürdiger und guter Arzt. Mit diesem Ziel vor Augen bin ich Arzt geworden.
Kapitel 1
Was mich bewegt
Arzt in der sechsten Generation: Mein Weg zur Mikro-Therapie
Früher wurde ich beim Blutabnehmen fast immer ohnmächtig, wenn ich eine Spritze sah ...
Mein Weg zur Medizin ergab sich also nicht von selbst. Und außerdem hatte ich schon seit meiner Kindheit vielfältige Interessen - Technik, Sport, Musik und Literatur bis hin zu Philosophien und Religionen. Jahrelang dachte ich daran, Pastor zu werden. In die Fußstapfen meines Vaters, der sich als Bergbau-Ingenieur diesem spezifischen Beruf und Milieu stark verbunden fühlte, wollte ich nicht treten, obwohl es auch in diesem Gebiet immer viel Faszinierendes für mich gab. Und so studierte ich zunächst Sinologie und Romanistik in Bochum, denn China und Frankreich interessierten mich kulturell wie sprachlich sehr. Erst später begann ich mit dem Medizinstudium in Kiel.
Meine medizinische Familiengeschichte
Bevor ich zwanzig wurde, hatte ich nie bewusst wahrgenommen, dass meine gesamte Familiengeschichte mütterlicherseits von Ärzten, Krankenschwestern und Physiotherapeuten bestimmt ist. Ich selbst befinde mich in der sechsten Generation von Ärzten und sehe erstaunt, wie viele Anknüpfungspunkte es für mich in dieser Geschichte gibt.
Der erste Arzt in der Familie meiner Mutter, mein Ur-Ur-Ur-Urgroßvater Carl Abraham Hunnius, stammte aus einer deutschen Kaufmannsfamilie in Reval (heute: Tallinn, Estland) und entdeckte früh sein Interesse an der Medizin. Nach seinem Medizinstudium an der Universität Dorpat 1815-1819 kam er ans Invalidenkommando-Krankenhaus in Hapsal. Zusätzlich zu seiner praktischen Arbeit an diesem Krankenhaus hatte Carl Abraham Hunnius großes Interesse an der Wissenschaft. Seine Dissertation befasste sich mit den Blattern, einer damals sich stark ausbreitenden, hochfiebrigen eitrigen Entzündung der Haut, die oft eine Blutvergiftung verursachte und auch mit dem Tod enden konnte.
Seine ärztlichen Verpflichtungen brachten Carl Abraham Hunnius häufig zu armen Fischerfamilien. Bei solch einem Besuch fiel ihm auf, dass ein alter Fischer seine Beine in den von der Sonne gewärmten Schlamm steckte. Dieser Fischer erzählte ihm, er leide an Ischias, wenn er aber die Füße in dem warmen Schlamm einweiche, bringe ihm dies eine große Erleichterung. Hunnius fing an, diese Beobachtung wissenschaftlich zu untersuchen. Erste Versuche machte er bei seinen Patienten und den Soldaten der einheimischen Garnison. Bei vielen Krankheiten führte die Behandlung mit Schlamm zu überraschend guten Ergebnissen. Also begann er, eine neue Methode der Schlammbehandlung zu entwickeln: Er empfahl, mit dem von der Sonne durchgewärmten Schlamm Wickel und Kompressen zu machen, Wannenbäder mit von warmem Meerwasser verdünntem Schlammgemisch, Massagen und Einreibungen. Jeder Prozedur folgte eine warme „Meerwasserwanne". Er fand heraus, dass mit der Anwendung von Schlamm und Meerwasser viele Krankheiten gelindert oder geheilt werden konnten, beispielsweise Rheumatismus, chronische und nachoperative Rücken-, Nerven- oder Hautkrankheiten, die zum Teil noch heute nach dieser Methode behandelt werden. Neben seinen klinischen Beobachtungen führte Hunnius einfache chemische Untersuchungen durch. Nachdem er entsprechende Kapitalgeber von seiner Methode hatte überzeugen können, gründete er 1825 die erste Wasser-Schlamm-Heilanstalt in Hapsal, die bald eine große Zahl von Besuchern anzog, später sogar die Zarenfamilie aus St. Petersburg. 1830 wurde er Kreisarzt. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit kümmerte er sich als Stadtrat um bildungs- und sozialpolitische Belange. Auf seine Initiative wurde 1839 die erste estnischsprachige Schule gegründet. Bei den wohlhabenden Kur- und Badegästen führte er Spendensammlungen durch und errichtete mit diesem Geld ein Fürsorgeheim für Arme. Aufgrund seiner Verdienste erhielt er 1838 den Titel „Staatsrat" und wurde in den Adel erhoben. Er starb 1851 im Alter von erst 54 Jahren, nachdem er ein junges Mädchen behandelt hatte, das an einer ansteckenden Infektionskrankheit litt.
Sein Sohn, Carl Arthur von Hunnius, wurde gleichfalls Arzt, gab die wissenschaftlichen Untersuchungen seines Vaters heraus und heiratete die Tochter eines bedeutenden homöopathischen Arztes von Russland -auch hier zeigt sich für mich eine langjährige generationenübergreifende Interessenslinie. In der folgenden Generation gab es wiederum einen Arzt, Carl Adam Friedrich von Hunnius, der allerdings im Alter von 26 Jahren an Typhus verstarb. Mein Großvater Herbert Arthur von Hunnius war Facharzt für Hals-, Ohren- und Nasenkrankheiten zu Reval. Er hatte in Graz studiert, arbeitete in Stettin, später in Posen und Reval. Seine Tochter ist meine Mutter, die mit ihm und ihren Geschwistern -fast alle sind Ärzte - in einer traditionellen Arztfamilie aufwuchs. Ihre Mutter ist ausgebildete Krankengymnastin, mit einer speziellen Ausbildung für Säuglingsgymnastik. Und auch in der Arbeit meiner Großmutter ergibt sich damit praktisch ein familiärer Vorläufer.
Wenn meine Brüder Wilhelm und Herbert oder ich krank waren, entstand in der Regel bei uns zu Hause große Besorgnis. Bei dem kleinsten Anzeichen einer Erkrankung zog meine Mutter ihre Schwestern zu Rate. Meine Mutter war im Krieg als Krankenschwester tätig gewesen, und ihre beiden älteren Schwestern hatten eine qualifizierte Ausbildung in der Chirurgie und in der Inneren Medizin durchlaufen, wobei die eine sich später nur noch der Naturheilkunde widmete. Der ältere der beiden Brüder ist HNO-Arzt wie mein Großvater, der jüngere Bruder ist Arzt für Lungenheilkunde, die jüngste Schwester Krankengymnastin. Der ärztliche Rat für unsere Familie war also umfassend und gründlich
Beruf und Berufung
Als Kind litt ich häufig an Halsschmerzen oder einer Mittelohrentzündung, einer Erkrankung, die heute dank der Antibiotika nicht mehr so schlimm und schmerzhaft verläuft. Ich erinnere mich genau an die schrecklichen Besuche beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt, genauso wie an die Blutabnahmen mit häufig stumpfen Kanülen, die oft ohne ein freundliches oder beruhigendes Wort vorgenommen wurden. Damals gab es nur die immer wieder sterilisierten Spritzen mit schlechtem Schliff.
Meine Entscheidung kam plötzlich, nach einer Mandeloperation und einer Operation an der Nasenscheidewand, während meiner Bundeswehrzeit. Da fühlte ich während einer recht schmerzhaften Nasenspiegelung ganz deutlich: Jetzt werde ich Arzt. Es muss doch möglich sein, viele Behandlungen einfacher und sanfter durchzuführen, ohne dass der Patient Angst vor der Prozedur oder den Ärzten hat!
Aber meine eigene Angst vor Spritzen legte sich erst, als ich Medizin studierte und in einem Krankenhaus hospitierte. Dort lernte ich von einer koreanischen Krankenschwester, wie man schmerzfrei Spritzen geben kann. Die Wertschätzung der Unversehrtheit des Körpers, der vorsichtige und behutsame Umgang mit Spritzen und Instrumenten sowie das Bewusstsein, dass jeder Patient genau wie ich damals in großer Angst sein könnte, sind mir seit dieser Zeit geblieben.
Auch der Grundgedanke der chinesischen Medizin hat sich bei mir verfestigt. Hier wird der ganze Körper als eine Einheit betrachtet. In unserer westlichen Schulmedizin hat sich dagegen ausgeprägt, organbezogen und nicht ganzheitlich zu denken: Insofern wollte ich mir zunächst ein breites Wissen verschaffen, nicht als Facharzt, sondern als Allgemeinmediziner.
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2006
Medizin und Gesundheitswirtschaft gelten als spröde und schwierige Materie. Ich hoffe, dass es mir durch den von mir gewählten individuellen Stil gelingt, Leserinnen und Leser dazu zu motivieren, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, das uns alle ganz existenziell angeht: Denn Arzt und Patient sind Partner.
Um vereinzelte Erlebnisse bei der Patientenbehandlung bildlicher beschreiben zu können, habe ich teilweise plakative Beispiele aus meinem ärztlichen Alltag verwendet. Diese Beispiele nenne ich nicht, um mich in ein besonderes Licht zu rücken. Vielmehr möchte ich persönlich erlebte Situationen nutzen, um dem Leser die Möglichkeiten von moderner Diagnostik und Therapie zu veranschaulichen.
Die Privatsphäre meiner Patienten zu sichern, ist mir - wie allen Ärzten - höchstes Anliegen und ethische Verpflichtung. Deshalb finden sich in diesem Buch kaum Namensnennungen. Dort, wo Namen im Kontext von Krankheitsgeschichten genannt werden, sind sie frei erfunden. Etwaige Namensgleichheiten oder -ähnlichkeiten sind rein zufällig -und nicht beabsichtigt.
Entscheidend für das Konzept dieses Buches ist die Einsicht: Der Mensch ist Teil der Welt und der Umwelt. Er ist Mitwelt. Die Ökologiebewegung der letzten Jahrzehnte hat die Erhaltung des Ökosystems Erde zum Programm gemacht. Inzwischen sind Fortschritte im Bewusstsein der Menschen und in der realen Praxis zu sehen. Doch auch der Mensch selbst ist ein Ökosystem, mit seinem Körper, seiner Seele und seinem Geist. Er ist gleichsam ein Mikrokosmos im Makrokosmos. Jeder Eingriff, jede Veränderung auch im Ökosystem Mensch hat Auswirkungen. So geht es nun auch in der Medizin darum, möglichst sanfte und schonende Verfahren zur Behandlung und Heilung zu finden.
„Mensch bleiben' will und kann keinen Entwurf für ein neues Gesundheitssystem liefern. Dieses Buch ist vielmehr meine Sicht zu den Themen Vorsorge, Heilen, medizinische Versorgung sowie Gesundheitswirtschaft. Was ich im Folgenden beschreibe, handelt von eigenen Erfahrungen und persönlichen Schwerpunkten im Blick auf eine zukünftige Medizin zwischen High-Tech und Naturheilkunde unter Einbezug der psychosomatischen Medizin. Es geht mir dabei - und dies möchte ich hier ausdrücklich betonen - weder darum, in aller Vollständigkeit die Medizin abzubilden oder zu diskutieren noch die sich ständig ändernden politischen Positionen zu referieren. Mein Hauptanliegen ist
ein anderes: die enormen Potenziale der Medizin und Gesundheitswirtschaft wahrzunehmen und eine Aufbruchstimmung zu initiieren.
Ich setze mich für die medizinischen Inhalte ein. Aber genauso engagiere ich mich auch für die Belange der Patienten. Denn darum geht es vor allem: Mensch zu bleiben in einer Zeit, in der das Individuum und menschliche Beziehungen durch den Sog politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse weltweit an Bedeutung verlieren, in der die Gesundheitspolitik ohne die betroffenen Patienten stattfindet und gen-technische Manipulationen und die Allmachtsphantasien Einzelner ungeahnte Folgen für die Menschheit bereithalten.
Mensch sein und Mensch bleiben, das ist die Herausforderung!
Heilen statt Kranksparen
Vor einiger Zeit bin ich auf einen Text gestoßen, der mich sehr fasziniert hat. Hintergrund ist das Russland des 19. Jahrhunderts - und doch illustriert dieser Text etwas Zeitloses. Leo Tolstoj schildert in ,,Krieg und Frieden" eine Szene, nachdem Fürst Andrej eine schreckliche Verwundung im Kampf davongetragen hatte: "Der Arzt beugte sich tief über die Wunde, untersuchte sie und seufzte schwer. Dann gab er jemandem ein Zeichen. Und nun ließ ein quälender Schmerz im Inneren des Leibes Fürst Andrej das Bewusstsein verlieren ... als er wieder zu sich kam, waren die zerschmetterten Hüftknochen entfernt, die Fleischfetzen weg geschnitten und die Wunde verbunden. Man besprengte sein Gesicht mit Wasser. Als er die Augen wieder aufschlug, beugte sich der Arzt über ihn, küsste ihn schweigend auf die Lippen und entfernte sich eilig."
Auf diesem Hintergrund ist mir ein eigenes Erlebnis tief in Erinnerung, das noch nicht lange zurückliegt: Ich kam spät nachts an einer Unfallstelle vorbei. Drei Sanitätswagen und ein Hubschrauber waren da, ein Verletzter lag völlig allein gelassen auf der Straße. Ärzte und Sanitäter waren dabei, heftig darüber zu diskutieren, in welche Klinik der Patient eingeliefert werden sollte.
Dieses Erlebnis hat mich nicht losgelassen. Es veranschaulicht, in welcher Gefahr unser Gesundheitssystem steckt.
Im Kontrast dazu hat das Zitat von Leo Tolstoj für mich eine zentrale Bedeutung, auch wenn uns das Pathos fremd sein mag: Natürlich ist heute nicht vorstellbar, dass ein Arzt einen Patienten küsst. Aber Tolstoj zeigt eine solch ausgeprägte Form der Zuwendung, der Selbstlosigkeit und Empathie, gerade in einer extremen Situation, dass ich diese menschliche Geste bleibend eindrucksvoll finde. Dieser Text illustriert für mich, was liebevolle Medizin ist: die wirklich ehrliche mit menschliche Fürsorge eines Arztes. Die Geste der Hingabe, die Tolstoj beschreibt, sollte uns alle nachdenklich machen.
Dem Menschen zugewandt sich wieder auf die medizinischen Werte und Inhalte konzentrieren - darum geht es. In der Hetze des medizinischen Alltags, getrieben von Kostendiskussion und Einsparpolitik, verlieren wir das Wesentliche aus dem Blick. Verwaltungen und Ärzte werden mit ständig neuen Erlassen lahmgelegt. Krankenhäuser werden geschlossen und ganze Berufsstände schlechtgeredet. Um uns Menschen und um uns selbst als Patienten geht es nicht - wir werden zunehmend vergessen.
,,Was nützt mir der ganzen Erde Geld. Kein kranker Mensch genießt die Welt", so formulierte schon vor ungefähr zweihundert Jahren Johann Wolfgang von Goethe. Möglicherweise müssen wir in Zukunft sogar noch mehr für Gesundheit ausgeben. Keiner weiß es. Wir können dies nur dann wirklich feststellen, wenn wir uns auf die medizinischen Inhalte konzentrieren. Bevor man ein neues Auto baut, definiert man erst einmal die Ausstattung, die Motorisierung und das Design. Danach legt man ein sogenanntes Pflichtenheft an und definiert die Lieferantengruppen. Erst dann diskutiert man die Kosten und legt den Preis fest. In der Politik wird jedoch anscheinend beim Thema Gesundheit genau umgekehrt vorgegangen. Daher kommen wir über die Kostendiskussion weltweit nicht mehr hinaus: Man muss inzwischen den Eindruck gewinnen, dass die Gesundheitsminister vieler Länder einander kopieren. Es ist wie in der Schule: Man hat seine Hausaufgaben nicht gemacht und übernimmt beim Abschreiben vor allen Dingen die Fehler des anderen. So geht ein Gesundheitssystem nach dem andern „baden": erst in Holland, dann in England und dann irgendwann das unsrige. Dabei zeigt doch die Lebenserfahrung: Wenn man einen Platten hat, wechselt man den Reifen und nicht die Karosserie!
Die weltweiten Debatten um die Gesundheitsreformen verfolge ich nun seit über zwanzig Jahren, solange ich Arzt bin. Mit wachsendem Unbehagen sehe ich, dass alle Diskussionen keinen wirklichen Fortschritt im Sinne einer besseren medizinischen Versorgung, Therapie oder Prävention bewirken. Im Gegenteil: Über das Ziel und die betroffenen Patienten wird in der Medizin fast nie geredet. Das Ziel sollte die Heilung von Krankheiten sowie die Erhaltung und Verbesserung von Lebensqualität sein. Viele beschwören eine Mehrklassenmedizin als Gefahr der Zukunft. Aber wir haben bereits jetzt eine Mehrklassenmedizin, mit Normal- und Privatversicherten einerseits sowie den Sebstzahlern andererseits. Und leider haben den Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen bisher die geringsten Aussichten, in den Genuss innovativer Medizin zu kommen. Das halte ich für den falschen Weg.
Wir verfügen heute über moderne Möglichkeiten auch für schonende, ambulante Diagnose- und Therapieverfahren, die in der Breite angewendet werden könnten und die nicht nur besser wären als viele andere Methoden, sondern auch noch kostengünstiger. Aber es fehlt der politische Wille, sich in diese Richtung zu bewegen, und auch das ausgeprägte Lobbydenken vieler Akteure behindert den Blick für den volkswirtschaftlichen Gesamtzusammenhang.
Die medizinische Versorgung ist ja nur ein Teilbereich einer wachsenden Gesundheitswirtschaft mit vielen assoziierten Branchen. Dazu gehören Medizintechnik, Pharmazeutik, Sport und Fitness, Handwerk, Telekommunikation, Medien und vieles mehr. Wir brauchen eine Aufbruchstimmung, und um diese zu erreichen, sollten wir vor allem die positiven Aspekte der Medizin wahrnehmen. Und dabei geht es meiner Überzeugung nach um eine neue Wahrnehmung: Auf der einen Seite geht es um die Schaffung bzw. Erhaltung von Lebensqualität mit guter medizinischer Versorgung, um unsere Kultur erhalten und weiterentwickeln zu können. Gleichzeitig geht es aber auch um ein immer neues Know-how, um Beschäftigung, neue Arbeitsplätze und neue Berufe, Wirtschaftsförderung und prosperierende Wirtschaft, wissenschaftliche Forschung, neue Märkte, aber auch Gewinne bzw. neue Einnahmen für Firmen und Staat.
Innerhalb der Gesundheitswirtschaft favorisiere ich ein solidarisches Gesundheitssystem mit hoher Qualität der Grundversorgung, mit Zusatzversicherungspaketen und einem Qualitätsmanagement, unter Einbezug aller medizinischen Möglichkeiten zwischen High-Tech-Medizin und Naturheilkunde. Deshalb plädiere ich für eine medizinische Versorgung, bei der der Blick nicht verloren geht für den Menschen, für die gute Beziehung zwischen Patient und Arzt - das betrifft auch alle anderen therapeutischen und pflegenden Berufe - und für eine liebevolle Medizin: Denn diese ist die entscheidende Voraussetzung für einen erfolgreichen Heilungsprozess und für eine notwendige Individualmedizin für jeden Einzelnen von uns. Der Mensch ist schließlich keine Maschine.
Heilen statt Kranksparen! Gemeinsam mit den Patienten sollten wir nach Konzepten suchen. Auch wenn Reformen in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten anstehen, darf dabei nicht vergessen werden, dass eine Reform nur dann nachhaltig wirken kann, wenn sie am medizinischen Inhalt orientiert ist, den Menschen in den Mittelpunkt rückt und gleichzeitig transparent und gerecht ist. Deshalb sollten alle gesellschaftlichen Gruppen ihren Beitrag leisten - inhaltlich wie finanziell -, auch die Patienten. Aber diese sollten gleichzeitig auch in die Entscheidungen einbezogen werden. In den Debatten und Beschlussgremien sind die Patienten bzw. Kunden des Gesundheitssystems bisher meistens nicht vertreten - oder nur mit Anhörungs-, aber nicht mit Mitbestimmungsrechten.
Mensch bleiben - das heißt konkret: Es darf nicht darum gehen, unter Kostendruck mit „Totschlag"-Argumenten die medizinische Behandlung in immer schnellerem Durchlauf durchzudrücken, womöglich unter Ausschaltung der ärztlichen Meinung und unter der Dominanz von Krankenkassen-Sachbearbeitern oder Medizinischen Diensten. Patient, Arzt und Verwaltung müssen zu Partnern werden. Wir brauchen Fürsorglichkeit und Barmherzigkeit als Gegenkonzept, sonst bleibt die Menschlichkeit auf der Strecke, und letztlich werden dann die Menschen noch kränker. Ich bin überzeugt: Mit Geld aus anderen Bereichen der Gesundheitswirtschaft und auch Zusatzversicherungen wäre die heutige Medizin sofort bezahlbar. Und wie wäre es, militärisch abzurüsten und auf ein paar Panzer zu verzichten und die Gesundheit aufzurüsten? Wir sind selber verantwortlich für die Prioritäten, die wir setzen.
In der Medizin arbeiten zu dürfen, macht sehr viel Freude - abgesehen von den fürchterlichen öffentlichen Debatten, den übertriebenen Verwaltungsaufgaben und dem fehlenden Wettbewerb. Die meisten Beschäftigten arbeiten mit Herz und unter vielen Entbehrungen. Wir müssen die Heranwachsenden begeistern für diese wunderschöne Aufgabe, in der Medizin und für die Menschen tätig werden zu können. Schon heute gibt es mehr als 800 verschiedene Berufe in dieser Boombranche der Gesundheitswirtschaft. Die Fächergrenzen brechen auf, und ständig entstehen neue Berufszweige. Ärzte dürfen nicht zu Funktionsmedizinern degradiert werden, sondern müssen mitfühlender Partner sein. Genau das ist für mich persönlich ein vertrauenswürdiger und guter Arzt. Mit diesem Ziel vor Augen bin ich Arzt geworden.
Kapitel 1
Was mich bewegt
Arzt in der sechsten Generation: Mein Weg zur Mikro-Therapie
Früher wurde ich beim Blutabnehmen fast immer ohnmächtig, wenn ich eine Spritze sah ...
Mein Weg zur Medizin ergab sich also nicht von selbst. Und außerdem hatte ich schon seit meiner Kindheit vielfältige Interessen - Technik, Sport, Musik und Literatur bis hin zu Philosophien und Religionen. Jahrelang dachte ich daran, Pastor zu werden. In die Fußstapfen meines Vaters, der sich als Bergbau-Ingenieur diesem spezifischen Beruf und Milieu stark verbunden fühlte, wollte ich nicht treten, obwohl es auch in diesem Gebiet immer viel Faszinierendes für mich gab. Und so studierte ich zunächst Sinologie und Romanistik in Bochum, denn China und Frankreich interessierten mich kulturell wie sprachlich sehr. Erst später begann ich mit dem Medizinstudium in Kiel.
Meine medizinische Familiengeschichte
Bevor ich zwanzig wurde, hatte ich nie bewusst wahrgenommen, dass meine gesamte Familiengeschichte mütterlicherseits von Ärzten, Krankenschwestern und Physiotherapeuten bestimmt ist. Ich selbst befinde mich in der sechsten Generation von Ärzten und sehe erstaunt, wie viele Anknüpfungspunkte es für mich in dieser Geschichte gibt.
Der erste Arzt in der Familie meiner Mutter, mein Ur-Ur-Ur-Urgroßvater Carl Abraham Hunnius, stammte aus einer deutschen Kaufmannsfamilie in Reval (heute: Tallinn, Estland) und entdeckte früh sein Interesse an der Medizin. Nach seinem Medizinstudium an der Universität Dorpat 1815-1819 kam er ans Invalidenkommando-Krankenhaus in Hapsal. Zusätzlich zu seiner praktischen Arbeit an diesem Krankenhaus hatte Carl Abraham Hunnius großes Interesse an der Wissenschaft. Seine Dissertation befasste sich mit den Blattern, einer damals sich stark ausbreitenden, hochfiebrigen eitrigen Entzündung der Haut, die oft eine Blutvergiftung verursachte und auch mit dem Tod enden konnte.
Seine ärztlichen Verpflichtungen brachten Carl Abraham Hunnius häufig zu armen Fischerfamilien. Bei solch einem Besuch fiel ihm auf, dass ein alter Fischer seine Beine in den von der Sonne gewärmten Schlamm steckte. Dieser Fischer erzählte ihm, er leide an Ischias, wenn er aber die Füße in dem warmen Schlamm einweiche, bringe ihm dies eine große Erleichterung. Hunnius fing an, diese Beobachtung wissenschaftlich zu untersuchen. Erste Versuche machte er bei seinen Patienten und den Soldaten der einheimischen Garnison. Bei vielen Krankheiten führte die Behandlung mit Schlamm zu überraschend guten Ergebnissen. Also begann er, eine neue Methode der Schlammbehandlung zu entwickeln: Er empfahl, mit dem von der Sonne durchgewärmten Schlamm Wickel und Kompressen zu machen, Wannenbäder mit von warmem Meerwasser verdünntem Schlammgemisch, Massagen und Einreibungen. Jeder Prozedur folgte eine warme „Meerwasserwanne". Er fand heraus, dass mit der Anwendung von Schlamm und Meerwasser viele Krankheiten gelindert oder geheilt werden konnten, beispielsweise Rheumatismus, chronische und nachoperative Rücken-, Nerven- oder Hautkrankheiten, die zum Teil noch heute nach dieser Methode behandelt werden. Neben seinen klinischen Beobachtungen führte Hunnius einfache chemische Untersuchungen durch. Nachdem er entsprechende Kapitalgeber von seiner Methode hatte überzeugen können, gründete er 1825 die erste Wasser-Schlamm-Heilanstalt in Hapsal, die bald eine große Zahl von Besuchern anzog, später sogar die Zarenfamilie aus St. Petersburg. 1830 wurde er Kreisarzt. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit kümmerte er sich als Stadtrat um bildungs- und sozialpolitische Belange. Auf seine Initiative wurde 1839 die erste estnischsprachige Schule gegründet. Bei den wohlhabenden Kur- und Badegästen führte er Spendensammlungen durch und errichtete mit diesem Geld ein Fürsorgeheim für Arme. Aufgrund seiner Verdienste erhielt er 1838 den Titel „Staatsrat" und wurde in den Adel erhoben. Er starb 1851 im Alter von erst 54 Jahren, nachdem er ein junges Mädchen behandelt hatte, das an einer ansteckenden Infektionskrankheit litt.
Sein Sohn, Carl Arthur von Hunnius, wurde gleichfalls Arzt, gab die wissenschaftlichen Untersuchungen seines Vaters heraus und heiratete die Tochter eines bedeutenden homöopathischen Arztes von Russland -auch hier zeigt sich für mich eine langjährige generationenübergreifende Interessenslinie. In der folgenden Generation gab es wiederum einen Arzt, Carl Adam Friedrich von Hunnius, der allerdings im Alter von 26 Jahren an Typhus verstarb. Mein Großvater Herbert Arthur von Hunnius war Facharzt für Hals-, Ohren- und Nasenkrankheiten zu Reval. Er hatte in Graz studiert, arbeitete in Stettin, später in Posen und Reval. Seine Tochter ist meine Mutter, die mit ihm und ihren Geschwistern -fast alle sind Ärzte - in einer traditionellen Arztfamilie aufwuchs. Ihre Mutter ist ausgebildete Krankengymnastin, mit einer speziellen Ausbildung für Säuglingsgymnastik. Und auch in der Arbeit meiner Großmutter ergibt sich damit praktisch ein familiärer Vorläufer.
Wenn meine Brüder Wilhelm und Herbert oder ich krank waren, entstand in der Regel bei uns zu Hause große Besorgnis. Bei dem kleinsten Anzeichen einer Erkrankung zog meine Mutter ihre Schwestern zu Rate. Meine Mutter war im Krieg als Krankenschwester tätig gewesen, und ihre beiden älteren Schwestern hatten eine qualifizierte Ausbildung in der Chirurgie und in der Inneren Medizin durchlaufen, wobei die eine sich später nur noch der Naturheilkunde widmete. Der ältere der beiden Brüder ist HNO-Arzt wie mein Großvater, der jüngere Bruder ist Arzt für Lungenheilkunde, die jüngste Schwester Krankengymnastin. Der ärztliche Rat für unsere Familie war also umfassend und gründlich
Beruf und Berufung
Als Kind litt ich häufig an Halsschmerzen oder einer Mittelohrentzündung, einer Erkrankung, die heute dank der Antibiotika nicht mehr so schlimm und schmerzhaft verläuft. Ich erinnere mich genau an die schrecklichen Besuche beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt, genauso wie an die Blutabnahmen mit häufig stumpfen Kanülen, die oft ohne ein freundliches oder beruhigendes Wort vorgenommen wurden. Damals gab es nur die immer wieder sterilisierten Spritzen mit schlechtem Schliff.
Meine Entscheidung kam plötzlich, nach einer Mandeloperation und einer Operation an der Nasenscheidewand, während meiner Bundeswehrzeit. Da fühlte ich während einer recht schmerzhaften Nasenspiegelung ganz deutlich: Jetzt werde ich Arzt. Es muss doch möglich sein, viele Behandlungen einfacher und sanfter durchzuführen, ohne dass der Patient Angst vor der Prozedur oder den Ärzten hat!
Aber meine eigene Angst vor Spritzen legte sich erst, als ich Medizin studierte und in einem Krankenhaus hospitierte. Dort lernte ich von einer koreanischen Krankenschwester, wie man schmerzfrei Spritzen geben kann. Die Wertschätzung der Unversehrtheit des Körpers, der vorsichtige und behutsame Umgang mit Spritzen und Instrumenten sowie das Bewusstsein, dass jeder Patient genau wie ich damals in großer Angst sein könnte, sind mir seit dieser Zeit geblieben.
Auch der Grundgedanke der chinesischen Medizin hat sich bei mir verfestigt. Hier wird der ganze Körper als eine Einheit betrachtet. In unserer westlichen Schulmedizin hat sich dagegen ausgeprägt, organbezogen und nicht ganzheitlich zu denken: Insofern wollte ich mir zunächst ein breites Wissen verschaffen, nicht als Facharzt, sondern als Allgemeinmediziner.
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2006
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Autoren-Porträt von Dietrich H. W. Grönemeyer
Dietrich Grönemeyer, geb. 1952, ist einer der renommiertesten Ärzte Deutschlands und gilt als "Vater der Mikrotherapie". Der Rückenspezialist ist Inhaber des Lehrstuhls für Radiologie und Mikrotherapie der Universität Witten/Herdecke und Leiter des Grönemeyer Instituts in Bochum. Als Arzt und Autor setzt er sich in Publikationen und Vorträgen für eine neue Wahrnehmung der Medizin ein sowie für eine undogmatische interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedensten Disziplinen zwischen HighTech und Naturheilkunde, zum Wohle der Patienten. Seit Jahren plädiert er für die Einführung von Gesundheitsunterricht an Schulen. Weltweite Gastprofessuren und Vorträge.
Bibliographische Angaben
- Autor: Dietrich H. W. Grönemeyer
- 2012, 2. Aufl., 224 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Herder, Freiburg
- ISBN-10: 3451065401
- ISBN-13: 9783451065408
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