Mercurius
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Mercurius vonClaudia Groß
LESEPROBE
Stoßt nicht mehr an das Tor meinesDenkens
Was war das Leben? Für Steiner, den Magister derartistischen Fakultät an der Kölner Universität, ein Mysterium, dem er stetsauf der Spur zu sein glaubte - immer suchend, immer schnüffelnd, wie ein Fuchs,dem ein raffinierter, verlockender Geruch in die Nase gestiegen war. EinGeschenk Gottes, war das das Leben? Gewiß, wenn auch von ihm immer mehr inFrage gestellt. Weil es auch die anderen taten und er nicht auf einer einsamenInsel lebte, sondern mitten in der größten deutschen Stadt, und er an einer deraufstrebenden Fakultäten lehrte, wo nur die Lehrsätze interessierten, und wennman die Welt betrachtete, dann aus dieser Perspektive, der Perspektive derPrämissen, aus denen man wie auch immer geartete Schlüsse zog. Was draußen, vorden Mauern der Konvente, Kollegien und Bursen, vor sich ging, streifte sie, diesie hier lebten und arbeiteten, oft nur wie ein lauer Wind. Doch auch Steinerwar es nicht entgangen, daß sich die Welt veränderte, und in den Vorlesungenmachte es sich bemerkbar in Form neuer Prämissen.
In KölnsStraßen und Gassen aber interessierten keine universitären Prämissen, hierhatte sich im Laufe der Zeit eine frivole Stimmung breitgemacht - denn, omniaquae visibiliter fiunt in hoc mundo, possunt fieri per daemones, der Teufelhatte überall seine Finger im Spiel, und die Menschen waren gierig nachdekadenten Vergnügungen. Die Welt war böse. Abgrundtief schlecht und verdorben.Die Sehnsucht nach einem besseren Leben trieb sie alle, als wären siegeradewegs in Dantes Vorhölle angekommen, wo das einzige Elend das Bewußtseinist, daß das schöne Leben nur brillante Illusion darstellt. Sie waren gierignach dekadenten Vergnügungen und hörten nicht auf, sich der Dialektiklebensmüder Lebenslust hinzugeben. Der Mißgestaltete war bösen Herzens, derTeufel kreuzte täglich ihre Wege, und sie leugneten Gott und auch seine Mutter.Ich aber werde meinen Glauben nicht verleugnen, selbst wenn es alle anderentun, dachte Steiner oft; die Jugend sah in den Kirchen höchstens noch einenPlatz für ein Rendezvous, und die Kirchweih war auch nur noch Anlaß zummaßlosen Trinken, die Prozessionen zum albernen Herumhüpfen. Auf den Straßendieser Stadt war eine gottlose Gesellschaft anzutreffen und gewiß nicht nur indieser. Doch gleichzeitig fürchteten sie ihn und versuchten ihn mit Ablässen zubestechen, um dieser ausweglosen Gebundenheit Herr zu werden, die ihnen wieeine Klette war, welche sich in ihrem Pelz verhakt hatte. Das ist das Leben,dachte Steiner resigniert, eine Allegorie, hinter deren üppig-verschlüsselterMetapher der Inhalt längst verlorengegangen ist, eine hohle Form, übertriebenangemalt, wie man die Gesichter der Toten anpinselt, damit ihre Verwesungverborgen bleibt; es schaudert mich, wenn ich nur daran denke.
Zuweilenstellte er sich vor, wie es einem ihrer Nachfahren ergehen würde, der Steinersund seiner Mitmenschen Art zu denken untersuchen und verstehen wollte, wer undwie sie gewesen waren. Er wird schier verzweifeln, dachte Steiner dann, weil ernichts anderes finden wird als eine von der allgegenwärtigen Metaphorikummantelte, chiffrierte Wirklichkeit, in der schon ein so profanes Ding wie einSchuh nicht nur ein Schuh war, sondern vornehmlich ein Attribut für Fleiß undSorgfalt.
Er hatteschon seit längerem darüber nachgesonnen, sich mit dem Ende des Studienjahresim September zur Ruhe zu setzen. Da er in jungen Jahren die ordines minores,die niedrigen Weihen, erworben hatte, nannte er einige Pfründe sein eigen,welche ihm sein Alter versüßen konnten, selbst wenn er nicht mehrunterrichtete. Er hatte sich seinen würdigen Abschied schon bis ins kleinsteDetail ausgemalt. Ein kleines Fest, der Kanzler würde vor der versammeltenStudentenschaft und all seinen Magisterkollegen eine Rede halten, und dannwürde sich der Vorhang über das vorletzte Kapitel seines Lebens senken, und erkönnte endlich von der Bühne seiner Fakultät abgehen.
Aber soweitwürde es vorerst nicht gekommen. Nach seiner erfolgreichen Aufklärung desMordes an Magister Casall ein paar Monate zuvor hatte er den Kanzler ersucht,etwas kürzer treten zu dürfen, um sich von all den Aufregungen zu erholen, wasdieser ihm unter der Bedingung, danach noch ein weiteres Jahr die artesliberales zu unterrichten, auch gewährt hatte. So mußte er sich seither nichtmehr sonderlich viel um betrunkene Studenten kümmern und auch nicht jedenMissetäter aufspüren, der wieder einmal irgendeinen Kommentar an den Rand eineswertvollen Buches gekritzelt hatte. Auch die Frage, was das Leben denn nun wirklichsei, hätte ihn momentan nicht sonderlich zu beschäftigen brauchen, denn auchwenn Schicksal und Zeit ihn in eine Welt geworfen hatten, die an jedem ihrerKinder zog und zerrte, so hatte er dennoch das große Los gezogen, denn für ihnwar die bange Dunkelheit des Winters im eigenen Haus besser zu ertragen als fürall die, die keins besaßen.
Er hattesich dieses Haus schon vor etlichen Monaten gekauft. Es stand direkt gegenüberder Dombaustelle. Hinten gab es einen kleinen Garten, in dem im Frühjahr wildeNarzissen und nun duftende Rosen wuchsen und der dazu angetan war, Steinersbotanische Vorlieben vollauf zu befriedigen.
Es hättealso alles so beschaulich sein können, wenn nicht eines Nachmittags SteinersHaushälterin in den Garten gekommen wäre, um unerwarteten Besuch anzukündigen.
»HerrMagister, da ist ein Kollege von der Fakultät und möchte mit Euch sprechen.«
Es warHungerland. Der steinalte Hungerland in seinem Lederwams und auf seinen Stockgestützt, verwittert wie ein moosbesetzter Menhir, mit schütterem, zerzaustemHaar, das ihm in die hohe Stirn fiel. Ende vergangenen Jahres, wenige Monatenach Casalls Tod, hatte er die artistische Fakultät verlassen, weil die Lückenin seiner Erinnerung immer größer geworden waren, aber jetzt schien sein Verstandhell und klar zu sein, und er musterte Steiner wachsam aus wäßrigen, blauenAugen. Steiner lud ihn ein, sich zu ihm auf die Bank zu setzen.
»Und, gehtes Euch gut? So ganz ohne die lectiones?«
Hungerlandlächelte. Ja, es ging ihm gut, auch ohne die lectiones.
»Was führtEuch zu mir?«
Hungerlandbetrachtete sinnend die blühenden Rosen um ihn herum.
»Nun, dasist gar nicht so einfach. Es ist eine etwas undurchsichtige Angelegenheit...Wie soll ich anfangen? ... Also, um es kurz zu machen: Gestern bekam ichüberraschend Besuch von einem mir fremden Mann, der mir ohne Umschweifeerzählte, man habe hier in unserer schönen Stadt am Rhein einen Magister derartes liberales von der Sorbonne tot aufgefunden. Einen Nominalisten. Der Mannsei ganz offensichtlich umgebracht worden, wie der Unbekannte mir zutrug. Manentdeckte seine Leiche eine Meile flußaufwärts.«
Steinerschüttelte den Kopf. Warum wurde in dieser Stadt nur so vielen Dozenten dasLebenslicht ausgeblasen? Erst im letzten Jahr hatte es Magister Casall ereilt.Doch dessen Mörder war inzwischen tot. Und nun schon wieder einer? Dazu nocheiner aus Paris und obendrein ein Nominalist?! Noch immer war die Kontroversezwischen den beiden philosophischen Schulen, Realismus und Nominalismus, nichtbeigelegt, noch immer lehrten einige Universitäten die eine, andereUniversitäten die andere Schule, und noch immer waren es zwei unversöhnlichePositionen.
»In dieserStadt ist es geradezu lebensgefährlich, an einer der Fakultäten zuunterrichten«, sagte er mit einem Anflug von Sarkasmus. »Da kann ich wohl vonGlück sagen, daß ich noch am Leben bin.«
»Malt denTeufel nicht an die Wand«, knurrte Hungerland. »Der Fall ist politisch etwasvertrackt, da wir in Köln ja zum Realismus und somit den Fundamenten derScholastik zurückgekehrt sind. Wir müssen uns vorsehen, daß es nicht baldheißt, in Köln bringe man alle um, die eine andere Lehre vertreten. Ich hängeder nominalistische Lehre auch nicht an, aber deshalb würde ich einemNominalisten doch nicht gleich die Gurgel durchschneiden wie einer Gans amMartinstag...«
Steinerzögerte. »Und was habe ich damit zu tun? Ich verfechte weder den Realismus nochden Nominalismus, da bin ich unbestechlich.«
»Eben«,versetzte Hungerland ostentativ. »Deshalb bin ich hier.«
Steiner stutzte.Etwas an Hungerlands Haltung irritierte ihn. Worauf wollte der alte Mannhinaus? Wollte Hungerland vielleicht, daß er, Steiner, sich um diese Leichekümmerte? So wie um den Tod von Casall? O nein, stöhnte Steiner innerlich,nicht schon wieder! (...)
© DeutscherTaschenbuch Verlag
- Autor: Claudia Groß
- 2005, 335 Seiten, Maße: 21 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423244755
- ISBN-13: 9783423244756
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