Mission auf Kostroma
Roman. Deutsche Erstausgabe
Als auf dem Planeten Kostroma eine blutige Revolte ausbricht, schickt die Space Navy ihren besten Mann: Lieutenant Daniel Leary. Doch was ihn auf Kostroma erwartet, scheint selbst seine Fähigkeiten zu übersteigen: Zwei riesige interstellare Mächte haben den...
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Produktinformationen zu „Mission auf Kostroma “
Als auf dem Planeten Kostroma eine blutige Revolte ausbricht, schickt die Space Navy ihren besten Mann: Lieutenant Daniel Leary. Doch was ihn auf Kostroma erwartet, scheint selbst seine Fähigkeiten zu übersteigen: Zwei riesige interstellare Mächte haben den Planeten zum Ort ihres entscheidenden Kampfes erkoren ...
Lese-Probe zu „Mission auf Kostroma “
ERSTES BUCHLeutnant Daniel Leary von der Marine der Republik Cinnabar schlenderte in seiner schwarz abgesetzten grauen Uniform zweiter Klasse durch die Straßen von Kostroma City. Er war zum Kurfürstenpalast unterwegs, aber er hatte keine Eile und gerade nichts Wichtigeres zu tun, als den Umstand zu genießen, dass er sich einen seiner Kindheitsträume verwirklicht hatte: auf den Straßen einer fernen Welt aus erster Hand deren Wunder zu genießen.
Sein anderer Traum - nämlich der, einmal selbst ein Sternenschiff zu befehligen - würde sich, wenn überhaupt, erst in ferner Zukunft erfüllen; einer Zukunft, die in Daniels Vorstellung etwa ebenso weit entfernt war, wie ihm seine Kindheit aus der Sicht seines gegenwärtigen Alters von zweiundzwanzig Terrajahren fern schien.
Daniel lächelte und das machte seine Züge so freundlich, dass Fremde, die ihm auf der Straße begegneten, unwillkürlich sein Lächeln erwiderten. Die kostromanische Dame, deren Bekanntschaft er am Abend zuvor in einem Club gemacht hatte, hieß Silena. Die Ehre sowohl eines Leary von Bantry wie auch der MRC, der Marine der Republik Cinnabar, forderte von Daniel, seine Hilfe anzubieten, als der junge Begleiter besagter Dame sich so sinnlos betrank, dass er nur noch unartikulierte Laute von sich geben konnte. Silena hatte sich davon sehr beeindruckt gezeigt, und nach den ersten paar Minuten, die sie gemeinsam in ihrer Wohnung verbrachten, war ihre Verstimmung über ihren ursprünglichen Begleiter anderen Gefühlen gewichen.
Daniel war nicht sehr groß, nur knapp über dem Durchschnitt, und neigte ein wenig zur Fülle, was sich besonders in seinem meist etwas geröteten Gesicht zeigte. Infolge seiner leicht fülligen Gestalt und seiner arglosen Miene hielten Leute, die ihn nicht kannten, Daniel gelegentlich für einen Weichling. Das war ein großer Fehler.
In der Mitte der breiten Straße verlief ein Kanal. Bei Tage verkehrten dort nur kleine Schiffe, Wassertaxis und leichte Lieferfahrzeuge, aber in der Nacht
... mehr
schoben sich mit Baumaterial beladene Leichter zwischen den steinernen Begrenzungsmauern durch, was häufig zu lautstarken Auseinandersetzungen über das Vorfahrtsrecht führte. Auf dem Pflaster beiderseits der Wasserstraßen wimmelte es von Fußgängern und dreirädrigen Motorkarren, die man Jitneys nannte, aber auch hier herrschte nach Einbruch der Dunkelheit dichter Verkehr.
Die Wirtschaft von Kostroma erlebte infolge der Gewinne aus dem interstellaren Handel gerade einen Boom und ein Großteil des so entstehenden Reichtums wurde hier in der Hauptstadt investiert. Reiche Handelsherren bauten sich Stadtvillen und der ältere Adel erweiterte die Paläste seiner Clans, um sich nur ja nicht übertreffen zu lassen.
Die Angehörigen der niedrigeren Gesellschaftsschichten - Schreiber der Handelshäuser, Spacer, die auf der Handelsflotte Kostromas dienten, und Arbeiter aus den Fabriken und Fischereibetrieben, die jene Sternenschiffe mit Ware füllten, hatten ebenfalls ihren Vorteil aus dem Boom ziehen können. Auch sie wünschten sich bessere Wohnverhältnisse und waren bereit, dafür Geld auszugeben.
Daniel schlenderte munter pfeifend dahin und erfreute sich an dem ihn umgebenden Gepränge. Die Menschen trugen farbenprächtige Kleidung fremdartigen Schnitts. Viele von ihnen unterhielten sich in ihren örtlichen Dialekten: Kostroma war ein Wasserplanet, auf dessen Inseln während der Jahrhunderte, in denen es keinen interstellaren Verkehr gegeben hatte, mehr als hundert verschiedene Sprachen entstanden waren. Auch jene, die Universal sprachen, was jetzt die gemeinschaftliche Sprache des Planeten wie auch die des interstellaren Handels war, taten dies in einem für cinnabarische Ohren fremdartig klingenden Akzent.
Die Zivilisation war auf Kostroma nicht zusammengebrochen, wie auf so vielen anderen Welten, die in der ersten Periode der interstellaren Raumfahrt kolonisiert worden waren, aber die kostromanische Gesellschaft war auseinander gebrochen, als die Verlockung der Sterne aufgehört hatte, sie zu einen. Die Jahrhunderte, die vergangen waren, seit Kostroma wieder Anschluss an die interstellare Zivilisation gefunden hatte, hatten das gesellschaftliche Geflecht noch nicht ganz heilen können: Der augenblickliche Kurfürst, Walter III. aus dem Hajas-Clan, hatte erst vor sechs Monaten durch einen Putsch die Macht ergriffen.
Niemand hatte Zweifel daran, dass Walter der Dritte beabsichtigte, an der traditionellen Freundschaft Kostromas mit der Republik Cinnabar festzuhalten, aber der neue Kurfürst brauchte Geld. Beim augenblicklichen Stand des Krieges zwischen Cinnabar und der Allianz Freier Sterne war Walters Andeutung, er würde möglicherweise das in drei Monaten zur Erneuerung anstehende Gegenseitigkeitsabkommen nicht wieder unterzeichnen, Anlass genug gewesen, eine hochrangige Delegation von Cinnabar auf den Plan zu rufen.
Daniel seufzte. Eine hochrangige Delegation mit einem jungen Leutnant, sozusagen als Zuwage. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte man Daniel deshalb geschickt, weil er der Sohn des politisch mächtigen Corder Leary war, dem ehemaligen Speaker des Senats von Cinnabar. Daniels - schlechte - Beziehung zu seinem Vater war in der MRC kein Geheimnis, aber man durfte davon ausgehen, dass man auf Kostroma nicht im Detail über die Beziehungen der Adelsfamilien von Cinnabar informiert war.
Ein Mann trat aus einer Türnische auf die überfüllte Straße und rief dabei jemandem im Inneren des Gebäudes irgendwelche letzten Anweisungen zu. Daniel wäre dem Mann gern ausgewichen - wenn dafür Platz gewesen wäre. Das war jedoch nicht der Fall, und deswegen drückte er die Schultern zurück, was zur Folge hatte, dass der deutlich größere Kostromaner von ihm abprallte und dabei einen verblüfften Grunzlaut von sich gab.
Niemand beachtete dieses auf einer überfüllten Straße ganz normale Geschehen sonderlich. Daniel ging weiter und musterte interessiert die geschnitzten Verzierungen an den ansonsten recht unauffälligen vierstöckigen Wohngebäuden.
Kostromaner duellierten sich nicht, wie das die Angehörigen der wohlhabenden Familien Cinnabars manchmal taten. Andererseits gehörten Fehden und Meuchelmorde zu den durchaus alltäglichen Gegebenheiten des gesellschaftlichen Lebens Kostromas. Jeder lebte eben so, wie er es gewohnt war, dachte Daniel.
In Xenos, der Hauptstadt von Cinnabar, waren echte Magnaten, wie etwa Corder Leary, mit einem Gefolge von fünfzig oder mehr Klienten, von denen manche möglicherweise selbst Senatoren waren, auf den Straßen unterwegs. Man trat dann zur Seite, ansonsten sorgten die livrierten Schläger an der Spitze der Prozession mit ihren Fäusten dafür, dass man Platz machte. Die freien Bürger der wohl stolzesten Republik der Galaxis akzeptierten, ja erwarteten geradezu, dass ihre Führer sich so benahmen. Wer würde auch sonst einem Mann gehorchen, der kein ausgeprägtes Gefühl für seine eigene Ehre besaß?
Beim letzten Streit hatte Daniel gesagt, dass er nichts von seinem Vater haben wolle; aber der Name Leary hatte Daniel nach Kostroma geführt. Nun ja, der Name war schließlich sein rechtmäßiges Eigentum und kein Geschenk seines Vaters. Daniel hatte an Bord keine speziellen Pflichten, auch nicht als Mitglied der Delegation von Admiral Dame Martina Lasowski, aber er hatte es geschafft, zu den Sternen zu reisen.
Die Raummarine von Kostroma war im Vergleich mit den Flotten von Cinnabar oder der Allianz winzig, trotzdem war sie eher groß als effizient. Die Kapitäne und Matrosen von Kostroma waren von ausgezeichneter Qualität, aber der größte Teil des Personals - und im Übrigen auch der bessere - wanderte in die Handelsflotte. Mannschaftsdienstgrade in der kostromanischen Marine waren vorzugsweise Ausländer; bei den Offizieren handelte es sich im Allgemeinen um Männer, die das gute Leben in Kostroma City anstrengenden Reisen vorzogen. Die Schiffe lagen die meiste Zeit mit geschlossenen Luken in einer Lagune südlich der Hauptstadt, die man als das Marinebecken bezeichnete, vor Anker und der Großteil ihres beweglichen Geräts befand sich in Lagerhäusern.
Gerade landete ein Sternenschiff im Schwimmenden Hafen. Daniel drehte sich herum, um zuzusehen, und schob sich seine Marinebrille vom Mützenschild herunter, um die Augen vor dem grellen Licht zu schützen.
Sternenschiffe starteten und landeten auf dem Wasser, weil ihre Plasmamotoren auf festem Boden zu viel Schaden anrichten würden und weil Wasser sich ideal als Reaktionsmasse dazu eignete, in Plasma konvertiert zu werden. Sobald die Schiffe die Atmosphäre eines Planeten hinter sich gelassen hatten, nutzten sie ihren High Drive, einen Materie-/Antimaterie-Konversionsprozess, der wesentlich effizienter war. Aber zu früh auf High Drive zu schalten war eine Einladung zur Katastrophe.
Früher hatte der Hafen von Kostroma jeder Art von Verkehr gedient, aber seit etwa einer Generation benutzten die städtische Reede nur noch Seeschiffe. Der einen Kilometer vom Ufer entfernte Schwimmende Hafen mit seinen hohlen Betonpontons diente den Sternenschiffen.
Die Pontons waren im Sechseck zusammengefügt und dienten dazu, die bei Start und Landung auftretenden Wellen zu dämpfen, und sie isolierten die einzelnen Schiffe so wie Larven in den Zellen einer Bienenwabe. Seetüchtige Leichter dockten außen an den Pontons an, um Ladung abzuliefern oder entgegenzunehmen.
Das gerade landende Schiff war nicht sehr groß, vielleicht dreihundert Tonnen; eine Yacht oder, was wahrscheinlicher war, ein Kurierschiff der Regierung. Die an den Rumpf angelegten Masten ließen erkennen, dass die Fläche, auf der die Cassini Strahlung das Schiff durch den Heisenbergraum trieb, im Vergleich zur Verdrängung des Schiffes sehr groß war.
Rumpfform und Positionierung von zwei der vier High Drive Aggregate an ihren Auslegern verrieten dem geschulten Auge, dass das Schiff ein Produkt des Pleasaunce-Systems war, der Hauptwelt der so trügerisch benannten Allianz Freier Sterne. Das war absolut korrekt, da das Schiff unbewaffnet war. Kostroma war neutral und trieb mit beiden Konfliktparteien Handel.
Der wahre Wert Kostromas für die Krieg führenden Mächte lag nicht in seiner Kriegsmarine, sondern in seiner Handelsflotte und dem weit gespannten Netz von Handelsbeziehungen, das in Regionen der menschlichen Diaspora reichte, zu denen weder Cinnabar noch die Allianz nennenswerte direkte Kontakte unterhielt. Formal betrachtet räumte das Gegenseitigkeitsabkommen Cinnabar lediglich das Recht ein, Kriegsschiffe auf Kostroma selbst zu landen, anstatt wie Kriegsschiffe anderer Nationen im Abstand von zehn Lichtminuten im Orbit bleiben zu müssen.
Als inoffizielle Regelung kam freilich hinzu, dass neutrale kostromanische Schiffe zwar Ladungen nach Cinnabar, aber nicht zu Welten der Allianz beförderten. Das war ein großer Vorteil, für den General Porra, der Garantor der Allianz, seinen linken Hoden gegeben hätte.
Das Kurierschiff setzte in einer mächtigen Aufwallung von Dampf auf; einige Sekunden später, als die Dampfwolke bereits anfing sich aufzulösen, traf das Brüllen der Landung ein. Daniel schob die Schutzbrille wieder hoch und ging weiter. Eine elegante Brücke schwang sich über einen größeren Kanal; von ihrem höchsten Punkt aus konnte Daniel das Dach des Kurfürstenpalastes erkennen.
Ein Kurierschiff der Allianz bedeutete möglicherweise, dass Porra oder seine Bürokraten der Ansicht waren, es gäbe eine realistische Chance, Kostroma und Cinnabar auseinanderzudividieren. Möglicherweise versuchte die Allianz auch nur den Preis in die Höhe zu treiben, den Admiral Lasowski am Ende würde bezahlen müssen. Walter III. hatte möglicherweise eine Delegation der Allianz eingeladen, um daraus in der Verhandlung Nutzen zu ziehen, selbst wenn Porra nicht von sich aus die Absicht gehabt hatte, eine zu entsenden.
Nun, Leutnant Daniel Leary interessierte das eigentlich nur auf sehr theoretische Weise. Praktisch betrachtet war er Tourist und besuchte einen Planeten, der eine vielfältige, ihm nicht vertraute Kultur, eine ihm neue Architektur und eine ihm unbekannte Tierwelt zu bieten hatte.
Er begann vor sich hin zu pfeifen, schlenderte über die Brücke und die breite Straße hinunter, die zum Palast führte.
Adele Mundy stand im Eingang, spielte abwesend mit einer Strähne ihres kurzen, braunen Haars und betrachtete dabei das, was zumindest dem Namen nach die Bibliothek des Kurfürsten von Kostroma war. Adele war ein ordnungsliebender Mensch und würde selbst hier Ordnung und Organisation hineinbringen. Das Problem war nur: wo anfangen?
Der Raum war auf seine Weise groß und durchaus ansehnlich; auf vielfältige Weise sogar, denn welcher Kurfürst auch immer für die Dekoration verantwortlich gewesen war, er hatte einen recht vielseitigen Geschmack gehabt. Die Zeit hatte die ursprünglich helle Wandvertäfelung dunkel werden lassen. Der mächtige Steinsims des offenen Kamins zeigte ein Jagdrelief in einem Wald, der auch nicht im Entferntesten an kostromanische Vegetation erinnerte, und die Feuerstelle selbst war mit blau gemusterten Fliesen gekachelt. Die Tragebalken der Kassettendecke imitierten Wasserspeier in Gestalt irgendwelcher Fabelwesen.
Letztere waren für Bibliotheksräume äußerst deplatziert. Die Vorstellung von Löwenköpfen, aus denen Regenwasser auf Adeles Sammlungen spritzte, jagte ihr Schauder über den Rücken.
Wahrscheinlich war der Saal als eine Art Salon für kurfürstliche Zusammenkünfte gedacht gewesen, da man ihn intimer als die große Halle im ersten Stock gestaltet hatte. Da die Decke beinahe zehn Meter hoch war, stand genügend Raum zur Verfügung, doch um diese Räumlichkeiten für Bücherregale passend zu machen, würde es einiger Modifikationen bedürfen.
Und diese Modifikationen waren eines der Probleme, die Adele in den drei Wochen zu lösen versucht hatte, die sie sich jetzt in Kostroma City befand, wo sie die Position der kurfürstlichen Bibliothekarin angenommen hatte. Eines von vielen Problemen.
"Entschuldigung, Entschuldigung!", knurrte ein Arbeiter im nasalen kostromanischen Akzent hinter Adeles Rücken. Sie trat zur Seite und spürte, wie sich ihre Bauchmuskeln verärgert spannten.
Formal gesehen war der Mann nicht unhöflich gewesen: Adele stand in der Tür, durch die er und sein Kollege ein Brett tragen wollten. Aber sein Tonfall ließ durch nichts erkennen, dass er die Off-planet-Bibliothekarin als seine Vorgesetzte anerkannte; man hatte eher den Eindruck, dass er sie als lästig empfand.
Ein knapp zwei Meter langes Brett war für zwei Leute keine besonders schwere Last, aber auch das war nicht der Grund für Adeles Verstimmung. Diese rührte vielmehr daher, dass es sich bei dem Brett um auf Hochglanz poliertes Hartholz mit wunderschöner Maserung handelte. Wahrscheinlich hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie ein so schönes Stück Holz gesehen.
Kurfürst Jonathan Ignatius, der unmittelbare Vorgänger von Walter III., gehörte dem Delfi-Clan an und war ein begeisterter Jäger. Seine Abwesenheit wegen einer sechs Monate langen, sich über mehrere Planeten erstreckenden Safari hatte seinen Rivalen in den Hajas- und Zojira-Clans die Möglichkeit zu dem Putsch gegeben, der am Abend seiner Rückkehr zu seiner Absetzung geführt hatte.
Walter andererseits wollte als Patron der Wissenschaften in die Geschichte eingehen, wahrscheinlich weil seine formale Erziehung nicht über die hinausging, die etwa der antike Kaiser Karl der Große auf der Erde genossen hatte. Er hatte beschlossen, eine kurfürstliche Bibliothek unter der bewusst neutralen Leitung einer cinnabarischen Wissenschaftlerin zu gründen, die im Exil auf der Allianzwelt Bryce lebte. Zusammengetragen hatte er die Bibliothek, indem er einfach Bücher, Schriften und elektronische Speichermedien aus dem Besitz von Angehörigen des Delfi-Clans und dessen Verbündeten konfisziert hatte.
Die Beute - Adele fiel dafür kein anderer Begriff ein - stand in einer Vielzahl von Kisten und Schachteln aufgetürmt herum. Die meisten trugen keinerlei Markierung und bei den Behältern, die Aufschriften trugen, vertraute sie diesen nicht. Die einzige Ordnung, die in der Bibliothek zu erkennen war, gewann man bei einem Blick durchs Nordfenster auf den gepflegten Park des Palasts.
Um mit ihrer Arbeit anfangen zu können - und das hatte sie jetzt mehrmals und in so vielfältiger Weise, wie ihr das ihre Fantasie erlaubte, verlangt -, brauchte sie dringend tausend Meter Regalbretter. Was sie von den Tischlern bekam, die Walters Kämmerer dem Projekt zugeteilt hatte, war Möbelmaterial von einer Qualität, die einem eleganten Speisesaal zur Zierde gereicht hätte. Und bei dem Tempo, mit dem das im Augenblick geschah, würde der Auftrag irgendwann im nächsten Jahrhundert erledigt sein.
An der Geschicklichkeit der Tischler bestand kein Zweifel, weder was diese beiden Gesellen anging noch hinsichtlich der Tischlermeisterin, die ihre Werkstätte im Erdgeschoss nie verließ und, soweit Adele das bisher hatte feststellen können, auch nie mit eigener Hand ein Werkzeug anfasste. Es waren einfach die falschen Leute für die Aufgabe. Die zwanzig kostromanischen Bibliothekshelfer, die Adele nach den Maßstäben von Cinnabar oder den Zentralwelten der Allianz ausbilden sollte - nun, die waren mit nur wenigen Ausnahmen schlicht und einfach die falschen Leute für jegliche Aufgabe.
Im Flur war schallendes Gelächter zu hören. Adele trat einen Schritt zur Seite und lehnte sich an die Wand. Die Kacheln in Halshöhe fühlten sich kühl an und halfen ihr dabei, die Ruhe zu bewahren. Bracey, einer ihrer Assistenten, betrat jetzt mit zwei anderen Adele unbekannten Männern den Raum.
Das bedeutete allerdings nicht, dass sie keine Bibliothekshelfer waren: Diese Posten waren als politische Gefälligkeiten an Verwandte vergeben worden, die eine Stellung brauchten. Das einzig Gute daran war, dass die meisten von ihnen - ausgesprochene Faulpelze ohne jegliche Kenntnis in der Bibliotheksarbeit oder auch nur das geringste Interesse daran, solche zu erwerben
- sich gar nicht erst die Mühe machten, zur Arbeit zu erscheinen. Und die es taten, entwendeten schamlos Material oder beschädigten es in ihrer Ungeschicklichkeit.
Bracey, ein Angehöriger des Zojira-Clans, war einer von denen, die häufig in die Bibliothek kamen. Bedauerlicherweise.
Die drei betraten jetzt den Raum und ließen eine Flasche kreisen. Als sie an Adele vorbeigingen, konnte sie den Alkohol in ihrem Atem riechen und wunderte sich, dass sie sich überhaupt noch bewegen konnten, geschweige denn die hübsche Wendeltreppe in den zweiten Stock bewältigt hatten.
Die anderen Helfer waren in der Bibliothek. Zwei schmusten in einer Ecke. Falls sie dabei eine der um sie herum aufgestapelten Kisten anstießen, hätten sie damit ihr Leben riskiert. Der dritte Helfer war Vanness, der sich tatsächlich bemühte, den Inhalt einer vermutlich Logbücher enthaltenden Kiste zu organisieren. Als Einziger ihrer "Helfer" zeigte Vanness wenigstens Interesse an seiner Arbeit, und das war eine notwendige Vorbedingung, um jemals nützlich zu werden. Im Augenblick stellte der Kostromaner keine echte Hilfe dar, aber wenn Adele endlich einen Platz bekam, an dem sie arbeiten konnte, war seine Unwissenheit zu kurieren.
"Hey, lasst mir auch noch was übrig!", rief Bracey dem Paar in der Ecke zu. Adeles Anwesenheit hatte die beiden nicht gestört, aber jetzt fuhren sie auseinander.
Einer von Braceys Begleitern tippte ihn am Arm an und deutete mit einer Kopfbewegung auf Adele, die hinter ihnen stand. Bracey hielt ihr die Flasche hin und sagte: "Hey, Chefin! Auch 'nen Schluck?"
Bracey rülpste laut und seine beiden Kollegen kicherten. Adele sah durch den Kostromaner hindurch, als würde er nicht existieren, und ging dann zu der Datenkonsole, um die sie sich die vergangenen zwei Wochen bemüht hatte, weil das etwas war, was sie ohne Hilfe anderer bewältigen konnte ... und es gab niemanden, der ihr behilflich war.
Die Konsole war ein Qualitätsprodukt von Cinnabar und so neu, dass sie noch im Vestibül des Palasts in ihrer Kiste verwahrt gewesen war, als Walters Leute nach dem Putsch Inventur gemacht hatten. Dieses Teil verfügte über einen umfangreichen Datenspeicher und konnte sich jetzt, da Adele ihre Arbeit weitgehend beendet hatte, Zugang zu sämtlichen Computern im Regierungsnetz verschaffen; besser und schneller übrigens, als diese Computer in den meisten Fällen selbst an ihre eigenen Datenspeicher herankamen.
Etwas entmutigt lehnte Adele die Stirn gegen die glatte, kühle Wand des Computers und fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, auf Bryce zu verhungern, als das Angebot von Kostroma anzunehmen. Aber damals war ihr das wunderbar erschienen. Mistress Boileau gegenüber hatte sie sogar geäußert: "Das ist zu gut, um wahr zu sein!" Sie lächelte. Zumindest im Rückblick konnte sie sich bescheinigen, dass ihre Analyse makellos gewesen war.
Adele war eine Mundy von Chatsworth, in ihrer Jugend eine der mächtigsten Familien Cinnabars, wobei freilich die populistischen Tendenzen der Mundys sie meist in Gegensatz zu ihren Magnatenkollegen brachten.
Für Politik hatte Adele sich nicht interessiert. Als sie sechzehn war, hatte sie Xenos verlassen, um sich an der Akademie auf Bryce einzuschreiben. Ihre Entscheidung basierte sowohl auf dem Wunsch, den ständigen Protestkundgebungen zu entkommen, die meistens zu Krawallen eskalierten, wie auch dem Wunsch, die wohl beste Sammlung von Exponaten aus dem menschlichen Teil der Galaxis zu studieren, die Mistress Boileau verwahrte.
Das lag jetzt fünfzehn Terrajahre zurück. Drei Tage, nachdem Adele Mundy auf Bryce eingetroffen war, hatte der Speaker des Senats von Cinnabar verkündet, er habe ein Komplott der Allianz aufgedeckt, das darauf abzielte, die Regierung von Cinnabar mit Hilfe einheimischer Agenten zu stürzen - vorzugsweise Mitgliedern der Mundy-Familie. Der Senat entzog daraufhin den Verrätern das Bürgerrecht und erließ gegen sie ein Ächtungsedikt, ihr Besitz wurde vom Staat konfisziert oder jenen übergeben, die sie denunziert hatten, und auf die Geächteten wurde nach Notstandsgesetzen, die praktisch eine Lizenz zum Töten darstellten, Jagd gemacht.Adele verfügte auf Bryce über ein Bankkonto, aber das sollte lediglich ihren Lebensunterhalt im ersten Vierteljahr sichern und keineswegs eine Erbschaft darstellen. Mistress Boileau persönlich hatte es übernommen, für sie zu sorgen, wozu ja die Mundys nach deren Verschwinden von Chatsworth nicht mehr in der Lage waren. Das war einfach eine freundliche Geste der alten Gelehrten gewesen, deren Herz so sanft wie das eines Lamms war, wenn es nicht um ihr Spezialgebiet ging, nämlich das Sammeln und Organisieren von Wissen.
Die Wirtschaft von Kostroma erlebte infolge der Gewinne aus dem interstellaren Handel gerade einen Boom und ein Großteil des so entstehenden Reichtums wurde hier in der Hauptstadt investiert. Reiche Handelsherren bauten sich Stadtvillen und der ältere Adel erweiterte die Paläste seiner Clans, um sich nur ja nicht übertreffen zu lassen.
Die Angehörigen der niedrigeren Gesellschaftsschichten - Schreiber der Handelshäuser, Spacer, die auf der Handelsflotte Kostromas dienten, und Arbeiter aus den Fabriken und Fischereibetrieben, die jene Sternenschiffe mit Ware füllten, hatten ebenfalls ihren Vorteil aus dem Boom ziehen können. Auch sie wünschten sich bessere Wohnverhältnisse und waren bereit, dafür Geld auszugeben.
Daniel schlenderte munter pfeifend dahin und erfreute sich an dem ihn umgebenden Gepränge. Die Menschen trugen farbenprächtige Kleidung fremdartigen Schnitts. Viele von ihnen unterhielten sich in ihren örtlichen Dialekten: Kostroma war ein Wasserplanet, auf dessen Inseln während der Jahrhunderte, in denen es keinen interstellaren Verkehr gegeben hatte, mehr als hundert verschiedene Sprachen entstanden waren. Auch jene, die Universal sprachen, was jetzt die gemeinschaftliche Sprache des Planeten wie auch die des interstellaren Handels war, taten dies in einem für cinnabarische Ohren fremdartig klingenden Akzent.
Die Zivilisation war auf Kostroma nicht zusammengebrochen, wie auf so vielen anderen Welten, die in der ersten Periode der interstellaren Raumfahrt kolonisiert worden waren, aber die kostromanische Gesellschaft war auseinander gebrochen, als die Verlockung der Sterne aufgehört hatte, sie zu einen. Die Jahrhunderte, die vergangen waren, seit Kostroma wieder Anschluss an die interstellare Zivilisation gefunden hatte, hatten das gesellschaftliche Geflecht noch nicht ganz heilen können: Der augenblickliche Kurfürst, Walter III. aus dem Hajas-Clan, hatte erst vor sechs Monaten durch einen Putsch die Macht ergriffen.
Niemand hatte Zweifel daran, dass Walter der Dritte beabsichtigte, an der traditionellen Freundschaft Kostromas mit der Republik Cinnabar festzuhalten, aber der neue Kurfürst brauchte Geld. Beim augenblicklichen Stand des Krieges zwischen Cinnabar und der Allianz Freier Sterne war Walters Andeutung, er würde möglicherweise das in drei Monaten zur Erneuerung anstehende Gegenseitigkeitsabkommen nicht wieder unterzeichnen, Anlass genug gewesen, eine hochrangige Delegation von Cinnabar auf den Plan zu rufen.
Daniel seufzte. Eine hochrangige Delegation mit einem jungen Leutnant, sozusagen als Zuwage. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte man Daniel deshalb geschickt, weil er der Sohn des politisch mächtigen Corder Leary war, dem ehemaligen Speaker des Senats von Cinnabar. Daniels - schlechte - Beziehung zu seinem Vater war in der MRC kein Geheimnis, aber man durfte davon ausgehen, dass man auf Kostroma nicht im Detail über die Beziehungen der Adelsfamilien von Cinnabar informiert war.
Ein Mann trat aus einer Türnische auf die überfüllte Straße und rief dabei jemandem im Inneren des Gebäudes irgendwelche letzten Anweisungen zu. Daniel wäre dem Mann gern ausgewichen - wenn dafür Platz gewesen wäre. Das war jedoch nicht der Fall, und deswegen drückte er die Schultern zurück, was zur Folge hatte, dass der deutlich größere Kostromaner von ihm abprallte und dabei einen verblüfften Grunzlaut von sich gab.
Niemand beachtete dieses auf einer überfüllten Straße ganz normale Geschehen sonderlich. Daniel ging weiter und musterte interessiert die geschnitzten Verzierungen an den ansonsten recht unauffälligen vierstöckigen Wohngebäuden.
Kostromaner duellierten sich nicht, wie das die Angehörigen der wohlhabenden Familien Cinnabars manchmal taten. Andererseits gehörten Fehden und Meuchelmorde zu den durchaus alltäglichen Gegebenheiten des gesellschaftlichen Lebens Kostromas. Jeder lebte eben so, wie er es gewohnt war, dachte Daniel.
In Xenos, der Hauptstadt von Cinnabar, waren echte Magnaten, wie etwa Corder Leary, mit einem Gefolge von fünfzig oder mehr Klienten, von denen manche möglicherweise selbst Senatoren waren, auf den Straßen unterwegs. Man trat dann zur Seite, ansonsten sorgten die livrierten Schläger an der Spitze der Prozession mit ihren Fäusten dafür, dass man Platz machte. Die freien Bürger der wohl stolzesten Republik der Galaxis akzeptierten, ja erwarteten geradezu, dass ihre Führer sich so benahmen. Wer würde auch sonst einem Mann gehorchen, der kein ausgeprägtes Gefühl für seine eigene Ehre besaß?
Beim letzten Streit hatte Daniel gesagt, dass er nichts von seinem Vater haben wolle; aber der Name Leary hatte Daniel nach Kostroma geführt. Nun ja, der Name war schließlich sein rechtmäßiges Eigentum und kein Geschenk seines Vaters. Daniel hatte an Bord keine speziellen Pflichten, auch nicht als Mitglied der Delegation von Admiral Dame Martina Lasowski, aber er hatte es geschafft, zu den Sternen zu reisen.
Die Raummarine von Kostroma war im Vergleich mit den Flotten von Cinnabar oder der Allianz winzig, trotzdem war sie eher groß als effizient. Die Kapitäne und Matrosen von Kostroma waren von ausgezeichneter Qualität, aber der größte Teil des Personals - und im Übrigen auch der bessere - wanderte in die Handelsflotte. Mannschaftsdienstgrade in der kostromanischen Marine waren vorzugsweise Ausländer; bei den Offizieren handelte es sich im Allgemeinen um Männer, die das gute Leben in Kostroma City anstrengenden Reisen vorzogen. Die Schiffe lagen die meiste Zeit mit geschlossenen Luken in einer Lagune südlich der Hauptstadt, die man als das Marinebecken bezeichnete, vor Anker und der Großteil ihres beweglichen Geräts befand sich in Lagerhäusern.
Gerade landete ein Sternenschiff im Schwimmenden Hafen. Daniel drehte sich herum, um zuzusehen, und schob sich seine Marinebrille vom Mützenschild herunter, um die Augen vor dem grellen Licht zu schützen.
Sternenschiffe starteten und landeten auf dem Wasser, weil ihre Plasmamotoren auf festem Boden zu viel Schaden anrichten würden und weil Wasser sich ideal als Reaktionsmasse dazu eignete, in Plasma konvertiert zu werden. Sobald die Schiffe die Atmosphäre eines Planeten hinter sich gelassen hatten, nutzten sie ihren High Drive, einen Materie-/Antimaterie-Konversionsprozess, der wesentlich effizienter war. Aber zu früh auf High Drive zu schalten war eine Einladung zur Katastrophe.
Früher hatte der Hafen von Kostroma jeder Art von Verkehr gedient, aber seit etwa einer Generation benutzten die städtische Reede nur noch Seeschiffe. Der einen Kilometer vom Ufer entfernte Schwimmende Hafen mit seinen hohlen Betonpontons diente den Sternenschiffen.
Die Pontons waren im Sechseck zusammengefügt und dienten dazu, die bei Start und Landung auftretenden Wellen zu dämpfen, und sie isolierten die einzelnen Schiffe so wie Larven in den Zellen einer Bienenwabe. Seetüchtige Leichter dockten außen an den Pontons an, um Ladung abzuliefern oder entgegenzunehmen.
Das gerade landende Schiff war nicht sehr groß, vielleicht dreihundert Tonnen; eine Yacht oder, was wahrscheinlicher war, ein Kurierschiff der Regierung. Die an den Rumpf angelegten Masten ließen erkennen, dass die Fläche, auf der die Cassini Strahlung das Schiff durch den Heisenbergraum trieb, im Vergleich zur Verdrängung des Schiffes sehr groß war.
Rumpfform und Positionierung von zwei der vier High Drive Aggregate an ihren Auslegern verrieten dem geschulten Auge, dass das Schiff ein Produkt des Pleasaunce-Systems war, der Hauptwelt der so trügerisch benannten Allianz Freier Sterne. Das war absolut korrekt, da das Schiff unbewaffnet war. Kostroma war neutral und trieb mit beiden Konfliktparteien Handel.
Der wahre Wert Kostromas für die Krieg führenden Mächte lag nicht in seiner Kriegsmarine, sondern in seiner Handelsflotte und dem weit gespannten Netz von Handelsbeziehungen, das in Regionen der menschlichen Diaspora reichte, zu denen weder Cinnabar noch die Allianz nennenswerte direkte Kontakte unterhielt. Formal betrachtet räumte das Gegenseitigkeitsabkommen Cinnabar lediglich das Recht ein, Kriegsschiffe auf Kostroma selbst zu landen, anstatt wie Kriegsschiffe anderer Nationen im Abstand von zehn Lichtminuten im Orbit bleiben zu müssen.
Als inoffizielle Regelung kam freilich hinzu, dass neutrale kostromanische Schiffe zwar Ladungen nach Cinnabar, aber nicht zu Welten der Allianz beförderten. Das war ein großer Vorteil, für den General Porra, der Garantor der Allianz, seinen linken Hoden gegeben hätte.
Das Kurierschiff setzte in einer mächtigen Aufwallung von Dampf auf; einige Sekunden später, als die Dampfwolke bereits anfing sich aufzulösen, traf das Brüllen der Landung ein. Daniel schob die Schutzbrille wieder hoch und ging weiter. Eine elegante Brücke schwang sich über einen größeren Kanal; von ihrem höchsten Punkt aus konnte Daniel das Dach des Kurfürstenpalastes erkennen.
Ein Kurierschiff der Allianz bedeutete möglicherweise, dass Porra oder seine Bürokraten der Ansicht waren, es gäbe eine realistische Chance, Kostroma und Cinnabar auseinanderzudividieren. Möglicherweise versuchte die Allianz auch nur den Preis in die Höhe zu treiben, den Admiral Lasowski am Ende würde bezahlen müssen. Walter III. hatte möglicherweise eine Delegation der Allianz eingeladen, um daraus in der Verhandlung Nutzen zu ziehen, selbst wenn Porra nicht von sich aus die Absicht gehabt hatte, eine zu entsenden.
Nun, Leutnant Daniel Leary interessierte das eigentlich nur auf sehr theoretische Weise. Praktisch betrachtet war er Tourist und besuchte einen Planeten, der eine vielfältige, ihm nicht vertraute Kultur, eine ihm neue Architektur und eine ihm unbekannte Tierwelt zu bieten hatte.
Er begann vor sich hin zu pfeifen, schlenderte über die Brücke und die breite Straße hinunter, die zum Palast führte.
Adele Mundy stand im Eingang, spielte abwesend mit einer Strähne ihres kurzen, braunen Haars und betrachtete dabei das, was zumindest dem Namen nach die Bibliothek des Kurfürsten von Kostroma war. Adele war ein ordnungsliebender Mensch und würde selbst hier Ordnung und Organisation hineinbringen. Das Problem war nur: wo anfangen?
Der Raum war auf seine Weise groß und durchaus ansehnlich; auf vielfältige Weise sogar, denn welcher Kurfürst auch immer für die Dekoration verantwortlich gewesen war, er hatte einen recht vielseitigen Geschmack gehabt. Die Zeit hatte die ursprünglich helle Wandvertäfelung dunkel werden lassen. Der mächtige Steinsims des offenen Kamins zeigte ein Jagdrelief in einem Wald, der auch nicht im Entferntesten an kostromanische Vegetation erinnerte, und die Feuerstelle selbst war mit blau gemusterten Fliesen gekachelt. Die Tragebalken der Kassettendecke imitierten Wasserspeier in Gestalt irgendwelcher Fabelwesen.
Letztere waren für Bibliotheksräume äußerst deplatziert. Die Vorstellung von Löwenköpfen, aus denen Regenwasser auf Adeles Sammlungen spritzte, jagte ihr Schauder über den Rücken.
Wahrscheinlich war der Saal als eine Art Salon für kurfürstliche Zusammenkünfte gedacht gewesen, da man ihn intimer als die große Halle im ersten Stock gestaltet hatte. Da die Decke beinahe zehn Meter hoch war, stand genügend Raum zur Verfügung, doch um diese Räumlichkeiten für Bücherregale passend zu machen, würde es einiger Modifikationen bedürfen.
Und diese Modifikationen waren eines der Probleme, die Adele in den drei Wochen zu lösen versucht hatte, die sie sich jetzt in Kostroma City befand, wo sie die Position der kurfürstlichen Bibliothekarin angenommen hatte. Eines von vielen Problemen.
"Entschuldigung, Entschuldigung!", knurrte ein Arbeiter im nasalen kostromanischen Akzent hinter Adeles Rücken. Sie trat zur Seite und spürte, wie sich ihre Bauchmuskeln verärgert spannten.
Formal gesehen war der Mann nicht unhöflich gewesen: Adele stand in der Tür, durch die er und sein Kollege ein Brett tragen wollten. Aber sein Tonfall ließ durch nichts erkennen, dass er die Off-planet-Bibliothekarin als seine Vorgesetzte anerkannte; man hatte eher den Eindruck, dass er sie als lästig empfand.
Ein knapp zwei Meter langes Brett war für zwei Leute keine besonders schwere Last, aber auch das war nicht der Grund für Adeles Verstimmung. Diese rührte vielmehr daher, dass es sich bei dem Brett um auf Hochglanz poliertes Hartholz mit wunderschöner Maserung handelte. Wahrscheinlich hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie ein so schönes Stück Holz gesehen.
Kurfürst Jonathan Ignatius, der unmittelbare Vorgänger von Walter III., gehörte dem Delfi-Clan an und war ein begeisterter Jäger. Seine Abwesenheit wegen einer sechs Monate langen, sich über mehrere Planeten erstreckenden Safari hatte seinen Rivalen in den Hajas- und Zojira-Clans die Möglichkeit zu dem Putsch gegeben, der am Abend seiner Rückkehr zu seiner Absetzung geführt hatte.
Walter andererseits wollte als Patron der Wissenschaften in die Geschichte eingehen, wahrscheinlich weil seine formale Erziehung nicht über die hinausging, die etwa der antike Kaiser Karl der Große auf der Erde genossen hatte. Er hatte beschlossen, eine kurfürstliche Bibliothek unter der bewusst neutralen Leitung einer cinnabarischen Wissenschaftlerin zu gründen, die im Exil auf der Allianzwelt Bryce lebte. Zusammengetragen hatte er die Bibliothek, indem er einfach Bücher, Schriften und elektronische Speichermedien aus dem Besitz von Angehörigen des Delfi-Clans und dessen Verbündeten konfisziert hatte.
Die Beute - Adele fiel dafür kein anderer Begriff ein - stand in einer Vielzahl von Kisten und Schachteln aufgetürmt herum. Die meisten trugen keinerlei Markierung und bei den Behältern, die Aufschriften trugen, vertraute sie diesen nicht. Die einzige Ordnung, die in der Bibliothek zu erkennen war, gewann man bei einem Blick durchs Nordfenster auf den gepflegten Park des Palasts.
Um mit ihrer Arbeit anfangen zu können - und das hatte sie jetzt mehrmals und in so vielfältiger Weise, wie ihr das ihre Fantasie erlaubte, verlangt -, brauchte sie dringend tausend Meter Regalbretter. Was sie von den Tischlern bekam, die Walters Kämmerer dem Projekt zugeteilt hatte, war Möbelmaterial von einer Qualität, die einem eleganten Speisesaal zur Zierde gereicht hätte. Und bei dem Tempo, mit dem das im Augenblick geschah, würde der Auftrag irgendwann im nächsten Jahrhundert erledigt sein.
An der Geschicklichkeit der Tischler bestand kein Zweifel, weder was diese beiden Gesellen anging noch hinsichtlich der Tischlermeisterin, die ihre Werkstätte im Erdgeschoss nie verließ und, soweit Adele das bisher hatte feststellen können, auch nie mit eigener Hand ein Werkzeug anfasste. Es waren einfach die falschen Leute für die Aufgabe. Die zwanzig kostromanischen Bibliothekshelfer, die Adele nach den Maßstäben von Cinnabar oder den Zentralwelten der Allianz ausbilden sollte - nun, die waren mit nur wenigen Ausnahmen schlicht und einfach die falschen Leute für jegliche Aufgabe.
Im Flur war schallendes Gelächter zu hören. Adele trat einen Schritt zur Seite und lehnte sich an die Wand. Die Kacheln in Halshöhe fühlten sich kühl an und halfen ihr dabei, die Ruhe zu bewahren. Bracey, einer ihrer Assistenten, betrat jetzt mit zwei anderen Adele unbekannten Männern den Raum.
Das bedeutete allerdings nicht, dass sie keine Bibliothekshelfer waren: Diese Posten waren als politische Gefälligkeiten an Verwandte vergeben worden, die eine Stellung brauchten. Das einzig Gute daran war, dass die meisten von ihnen - ausgesprochene Faulpelze ohne jegliche Kenntnis in der Bibliotheksarbeit oder auch nur das geringste Interesse daran, solche zu erwerben
- sich gar nicht erst die Mühe machten, zur Arbeit zu erscheinen. Und die es taten, entwendeten schamlos Material oder beschädigten es in ihrer Ungeschicklichkeit.
Bracey, ein Angehöriger des Zojira-Clans, war einer von denen, die häufig in die Bibliothek kamen. Bedauerlicherweise.
Die drei betraten jetzt den Raum und ließen eine Flasche kreisen. Als sie an Adele vorbeigingen, konnte sie den Alkohol in ihrem Atem riechen und wunderte sich, dass sie sich überhaupt noch bewegen konnten, geschweige denn die hübsche Wendeltreppe in den zweiten Stock bewältigt hatten.
Die anderen Helfer waren in der Bibliothek. Zwei schmusten in einer Ecke. Falls sie dabei eine der um sie herum aufgestapelten Kisten anstießen, hätten sie damit ihr Leben riskiert. Der dritte Helfer war Vanness, der sich tatsächlich bemühte, den Inhalt einer vermutlich Logbücher enthaltenden Kiste zu organisieren. Als Einziger ihrer "Helfer" zeigte Vanness wenigstens Interesse an seiner Arbeit, und das war eine notwendige Vorbedingung, um jemals nützlich zu werden. Im Augenblick stellte der Kostromaner keine echte Hilfe dar, aber wenn Adele endlich einen Platz bekam, an dem sie arbeiten konnte, war seine Unwissenheit zu kurieren.
"Hey, lasst mir auch noch was übrig!", rief Bracey dem Paar in der Ecke zu. Adeles Anwesenheit hatte die beiden nicht gestört, aber jetzt fuhren sie auseinander.
Einer von Braceys Begleitern tippte ihn am Arm an und deutete mit einer Kopfbewegung auf Adele, die hinter ihnen stand. Bracey hielt ihr die Flasche hin und sagte: "Hey, Chefin! Auch 'nen Schluck?"
Bracey rülpste laut und seine beiden Kollegen kicherten. Adele sah durch den Kostromaner hindurch, als würde er nicht existieren, und ging dann zu der Datenkonsole, um die sie sich die vergangenen zwei Wochen bemüht hatte, weil das etwas war, was sie ohne Hilfe anderer bewältigen konnte ... und es gab niemanden, der ihr behilflich war.
Die Konsole war ein Qualitätsprodukt von Cinnabar und so neu, dass sie noch im Vestibül des Palasts in ihrer Kiste verwahrt gewesen war, als Walters Leute nach dem Putsch Inventur gemacht hatten. Dieses Teil verfügte über einen umfangreichen Datenspeicher und konnte sich jetzt, da Adele ihre Arbeit weitgehend beendet hatte, Zugang zu sämtlichen Computern im Regierungsnetz verschaffen; besser und schneller übrigens, als diese Computer in den meisten Fällen selbst an ihre eigenen Datenspeicher herankamen.
Etwas entmutigt lehnte Adele die Stirn gegen die glatte, kühle Wand des Computers und fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, auf Bryce zu verhungern, als das Angebot von Kostroma anzunehmen. Aber damals war ihr das wunderbar erschienen. Mistress Boileau gegenüber hatte sie sogar geäußert: "Das ist zu gut, um wahr zu sein!" Sie lächelte. Zumindest im Rückblick konnte sie sich bescheinigen, dass ihre Analyse makellos gewesen war.
Adele war eine Mundy von Chatsworth, in ihrer Jugend eine der mächtigsten Familien Cinnabars, wobei freilich die populistischen Tendenzen der Mundys sie meist in Gegensatz zu ihren Magnatenkollegen brachten.
Für Politik hatte Adele sich nicht interessiert. Als sie sechzehn war, hatte sie Xenos verlassen, um sich an der Akademie auf Bryce einzuschreiben. Ihre Entscheidung basierte sowohl auf dem Wunsch, den ständigen Protestkundgebungen zu entkommen, die meistens zu Krawallen eskalierten, wie auch dem Wunsch, die wohl beste Sammlung von Exponaten aus dem menschlichen Teil der Galaxis zu studieren, die Mistress Boileau verwahrte.
Das lag jetzt fünfzehn Terrajahre zurück. Drei Tage, nachdem Adele Mundy auf Bryce eingetroffen war, hatte der Speaker des Senats von Cinnabar verkündet, er habe ein Komplott der Allianz aufgedeckt, das darauf abzielte, die Regierung von Cinnabar mit Hilfe einheimischer Agenten zu stürzen - vorzugsweise Mitgliedern der Mundy-Familie. Der Senat entzog daraufhin den Verrätern das Bürgerrecht und erließ gegen sie ein Ächtungsedikt, ihr Besitz wurde vom Staat konfisziert oder jenen übergeben, die sie denunziert hatten, und auf die Geächteten wurde nach Notstandsgesetzen, die praktisch eine Lizenz zum Töten darstellten, Jagd gemacht.Adele verfügte auf Bryce über ein Bankkonto, aber das sollte lediglich ihren Lebensunterhalt im ersten Vierteljahr sichern und keineswegs eine Erbschaft darstellen. Mistress Boileau persönlich hatte es übernommen, für sie zu sorgen, wozu ja die Mundys nach deren Verschwinden von Chatsworth nicht mehr in der Lage waren. Das war einfach eine freundliche Geste der alten Gelehrten gewesen, deren Herz so sanft wie das eines Lamms war, wenn es nicht um ihr Spezialgebiet ging, nämlich das Sammeln und Organisieren von Wissen.
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Bibliographische Angaben
- Autor: David Drake
- 2007, 477 Seiten, Maße: 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Dtsch. Übers. v. Heinz Zwack
- Verlag: Ludwig bei Heyne
- ISBN-10: 3453522346
- ISBN-13: 9783453522343
Rezension zu „Mission auf Kostroma “
"David Drakes Leary-Romane haben alles, was das Herz der Fans begehrt: Sie sind schnell, actionbetont und voller cooler Sprüche." (Publishers Weekly)
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