Mit Haut und Haar
Mit Haut und Haar von Kathy Reichs
Leseprobe
Als ich die Überreste destoten Babys einpackte, raste der Mann, den ich töten sollte, nordwärts nachCharlotte. Zu der Zeit wusste ich das noch nicht. Den Namen des Mannes hatteich noch nie gehört, ich wusste nichts von dem grausigen Spiel, in dem ermitspielte. In diesem Augenblick beschäftigte mich nur, was ich Gideon Bankssagen würde. Wie sollte ich ihm beibringen, dass sein Enkel tot und seinejüngste Tochter auf der Flucht war? Meine Gehirnzellen stritten sich schon denganzen Vormittag. Du bist forensische Anthropologin, sagten die Logik-Jungs.Ein Besuch bei den Angehörigen gehört nicht zu deinen Pflichten. Der Medical Examiner wird deineBefunde referieren. Die Detectives der Mordkommissionwerden die Nachricht überbringen. Ein Telefonanruf. Das stimmt ja alles,entgegneten die Gewissen-Jungs. Aber dieser Fall ist anders. Du kennst GideonBanks persönlich. Ich empfand eine tiefe Traurigkeit, als ich das winzigeKnochenbündel in seinen Behälter packte, den Deckel schloss und eine Fallnummerauf das Plastik schrieb. So wenig zu untersuchen. So ein kurzes Leben. Währendich die Röhre in einen Beweismittelschrank einschloss, schickten mir dieGedächtniszellen ein Bild von Gideon Banks. Runzliges braunes Gesicht, krausegraue Haare, ein Stimme, als würde Isolierband zerreißen. Bild vergrößern.
Ein kleiner Mann in einemkarierten Flanellhemd, der einen Mopp über einen Fliesenboden schiebt. DieGedächtniszellen präsentierten mir schon den ganzen Vormittag dasselbe Bild.Ich versuchte, andere heraufzubeschwören, sah jedoch immer nur das eine. GideonBanks und ich hatten bis zu seiner Pensionierung vor drei Jahren fast zweiJahrzehnte lang in der University of North Carolina zusammengearbeitet. Hin undwieder hatte ich ihm dafür gedankt, dass er mein Büro und mein Labor sauberhielt, hatte ihm Geburtstagskarten geschickt und ihm jedes Weihnachten einkleines Geschenk gemacht. Ich wusste, dass er sehr gewissenhaft undtiefreligiös war und seine Kinder abgöttisch liebte. Und er hielt die Korridoremakellos sauber. Das war alles. Außerhalb des Büros kreuzten sich unsere Wegenicht. Bis Tamela Banks ihr Neugeborenes in einenHolzofen legte und verschwand. Ich ging in mein Büro, fuhr meinen Laptop hochund breitete meine Notizen auf dem Schreibtisch aus. Ich hatte meinen Berichtnoch kaum begonnen, als eine Gestalt in der Tür erschien. »Ein Hausbesuch kommtnun wirklich nicht in Frage.« Ich drückte »Speichern«und hob den Kopf. Der Medical Examinerdes Mecklenburg County trug grüne Chirurgenkluft. EinFleck auf seiner rechten Schulter ahmte in dunklem Rot die Form vonMassachusetts nach. »Macht mir nichts aus.« So wie mireiternde Pickel auf meinem Hintern nichts ausmachten. »Ich übernehme das gerne.«
Tim Larabeehätte recht attraktiv sein können, wäre er nicht endorphinsüchtig. Das täglicheMarathontraining hatte seinen Körper ausgezehrt, sein Haar schütter werdenlassen und seine Gesichtshaut gegerbt. Die immer gleiche Bräune schien sich inden Höhlungen seiner Wangen zu sammeln und sich um seine viel zu tief liegendenAugen zu verdichten. Augen, die jetzt verkniffen waren vor Besorgnis. »NebenGott und der Baptistenkirche war die Familie die Grundfeste von Gideon Banks'Leben«, sagte ich. »Das wird ihn erschüttern.« »Vielleichtist es nicht so schlimm, wie es aussieht.« Ich warf Larabee den Blick zu. Wir hatten dieselbe Unterhaltungschon vor einer Stunde geführt. »Okay.« Er hob eine sehnige Hand. »Es scheintwirklich ziemlich schlimm zu sein. Ich bin mir sicher, dass Mr. Banks Ihrpersönliches Engagement zu schätzen weiß. Wer fährt Sie?«»Skinny Slidell.« »IhrGlückstag.« »Ich wollte allein fahren, aber Slidellakzeptierte ein Nein nicht.« »Skinny?Wirklich?« Gespielte Überraschung. »Ich glaube, Skinnyist scharf auf eine Auszeichnung für sein Lebenswerk.«»Ich glaube, Skinny ist scharf auf Sie.« Ich warf mit einem Bleistift nach ihm. Er wehrte ihn mitder Hand ab. »Passen Sie auf sich auf.« Larabee ging wieder. Ich hörte, wie die Tür zumAutopsiesaal geöffnet und dann wieder zugezogen wurde. Ich sah auf die Uhr.Viertel vor vier. Slidell würde in zwanzig Minutenhier sein. Meine Gehirnzellen schraken kollektiv zurück. Was Skinny anging, herrschte zerebrale Übereinstimmung. Ichfuhr den Computer herunter und lehnte mich zurück. Was sollte ich Gideon Bankssagen? Pech, Mr. Banks. Wie's aussieht, hat Ihre Jüngste entbunden, den Balg ineine Decke gewickelt und als Feuerholz benutzt. Klasse, Brennan. Wamm! Die Optik-Zellen schickten ein neues Bild. Banks, derein Foto aus einer rissigen Brieftasche zieht. Sechs braune Gesichter.Bürstenschnitte bei den Jungs, Zöpfe bei den Mädchen. Alle mit Zähnen, die zugroß sind für das Lächeln. Kamera zurückfahren. Der alte Mann strahlt das Fotoan und behauptet hartnäckig, dass alle seine Kinder aufs College gehen würden. Tatensie das? Keine Ahnung. Ich zog meinen Labormantel aus und hängte ihn auf denHaken an meiner Tür. Falls die Banks-Kinder tatsächlich die UNC-Charlottebesucht hatten, als ich noch an der Fakultät war, dann hatten sie wenigInteresse an Anthropologie gezeigt. Ich hatte nur eins gesehen. Reggie, ein Sohn aus der Mitte der Nachwuchschronologie,hatte meinen Kurs über die Evolution des Menschen belegt.
Die Gedächtniszellenpräsentierten mir einen schlaksigen Jungen mit Baseballkappe, das Schild nachhinten, das Verbindungsband knapp über den rasiermesserscharfen Augenbrauen.Letzte Reihe im Hörsaal. Intellekt Eins, Mitarbeit Drei minus. Wie lange wardas her? Fünfzehn Jahre? Achtzehn? Ich hatte zu der Zeit mit sehr vielenStudenten gearbeitet. Damals konzentrierte sich meine Forschung auf den Tod inder Vorzeit, und ich hatte mehrere Seminare abgehalten. Bioarchäologie. Osteologie. Primatenökologie. Eines Morgens war eine meinerehemaligen Anthropologiestudentinnen in meinem Labor aufgetaucht. Als Detective des Morddezernats der Polizei von Charlotte-Mecklenburg brachte sie mir Knochen, die auseinem flachen Grab geborgen worden waren. Könne ihre frühere Professorinfeststellen, ob diese Überreste die eines vermisstenKindes seien? Ich konnte es. Sie waren es. Dieser Fall war mein erster Kontaktmit gerichtsmedizinischer Arbeit. Heute halte ich nur noch ein Seminar ab, undzwar in forensischer Anthropologie, und ich wechsle zwischen Charlotte undMontreal hin und her, wo ich für die jeweiligen Polizeibehörden als forensischeAnthropologin tätig bin. Die Geografie war ein Problem gewesen, als ich noch inVollzeit unterrichtete, und erforderte eine komplexe Choreografie innerhalb desakademischen Kalenders. Heute reise ich, bis auf die Dauer dieses einenSeminars, hin und her, wie die Fälle es erfordern. Ein paar Wochen im Norden,ein paar im Süden, länger, wenn die Arbeit am Fall oder Aussagen vor Gericht eserfordern.
(C) Blessing Verlag
Übersetzung: Klaus Berr
Autoren-Porträt von Kathy Reichs
KATHYREICHS wurde in Chicago geboren und lebt abwechselnd in Charlotte und Quebec.Sie ist Professorin für Soziologie und Anthropologie an der Universität vonNorth Carolina und u.a. als forensische Anthropologinfür den Staat North Carolina tätig.
Sprecher-Information zu Hansi Jochmann
HansiJochmann stammt aus einer Künstlerfamilie und war schon als Kind in zahlreichenRollen im Theater und Fernsehen zu sehen. Unter anderem trat sie mit Louis Amstrong auf. Als 20-jährige holte sie Dieter Dorn an dieStaatlichen Schauspielbühnen Berlin, wo sie über 15 Jahre tätig war. Seit"Taxi Driver" ist sie die deutsche Synchronstimme von Jodie Foster.Im Fernsehen hat sie bis heute über 120 Rollen gespielt.
Interview mit Kathy Reichs
Wie Ihre Heldin im Buch sind auchSie von Beruf Gerichtsmedizinerin. Worin genau besteht Ihre Arbeit?
MeineArbeit besteht darin, dem Pathologen zu helfen, wenn der Körper beispielsweiseverbrannt, verwest, verstümmelt, mumifiziert oder skelettiertist. Meistens beschäftige ich mit zwei Fragen: Wer ist der Tote? Was ist mitihm passiert?
Könnteman sagen, wie in dem Witz, dass Pathologen alles wissen, aber zu spät?
Vielleicht,obwohl wir bei weitem nicht alles wissen. Nur die Geschichten, die die Knochenerzählen.
"Mit Haut und Haar" istnichts für nervenschwache Leser. Müssen Krimis heutzutage besonders brutalsein, um Erfolg zu haben?
Überhauptnicht. Wenn meine Bücher eine Botschaft haben, dann die, dass Gewalt real istund Leid verursacht. Leid für das Opfer, Leid für seine Familie und Freunde undLeid für diejenigen, die mit den Toten arbeiten. Ich denke darüber nach, wasich tue, wenn ich mit den Toten arbeite, und zwar für die Lebenden.
Sie müssen viel Fanpost bekommen haben nach Erscheinen von "Mit Haut undHaar". Was hat Ihren Lesern besonders gefallen?
In denLeserbriefen kommt zum Ausdruck, dass sie die Hauptfigur TemperenceBrennan mögen, dass ihnen der Schauplatz besonders gefällt, in "Mit Hautund Haar" ist das North Carolina, und dass sie sich gut unterhalten fühlenvon den spannungsvollen Momenten, die meine Geschichten durchziehen.
Ist Schreiben ein Mittel für Sie, diegrausamen Erfahrungen zu verarbeiten, die sie als Gerichtsmedizinerin machen?
Vielleicht,obwohl das nicht der Grund ist, weshalb ich schreibe. Ich mag es, meineWissenschaft mit meinen Lesern zu teilen und ihnen einen Einblick zu geben indie reale Welt eines Gerichtsmediziners. Und ich habe Freude an der Welt derLiteratur - einer so anderen Welt als der von Verbrechen und Labor.
- Autor: Kathy Reichs
- 382 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 3896672479
- ISBN-13: 9783896672476
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