Mit ruhigem Herzen

abgeschnitten fühlst, auch wenn du gerade traurig und enttäuscht bist.

Der griechische Philosoph Aristoteles versteht die Freude als Ausdruck eines erfüllten Lebens. Man kann die Freude nicht direkt in sich hervorrufen. Aber wenn ich ein erfülltes Leben führe, wenn ich kreativ bin, wenn ich mich ganz auf das Leben einlasse, dann wird mein Herz mit Freude erfüllt. Mein Herz reagiert mit Freude, wenn mir etwas gelingt, wenn ich in einem Gespräch mit einem Freund etwas berühre, was mich innerlich bewegt und weitet. Diese Einsicht des griechischen Philosophen bedeutet für mich, dass ich aufhöre darüber zu jammern, dass es so wenig gibt, worüber ich mich freuen kann. Aristoteles lädt mich ein, die Lebendigkeit in mir zuzulassen, bewusst zu leben, kreativ zu sein, mit mir selbst in Einklang zu sein und die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu entfalten. Dann wird sich die Freude von alleine einstellen.

Ein anderer Weg, der Spur der Freude zu folgen, ist, die kleinen Freuden des Alltags bewusst wahrzunehmen. Indem ich dankbar genieße, was mir der Alltag an Freuden bietet, wird in mir die Freude wachsen. Jeden Tag gibt es genug Gelegenheiten, mich zu freuen. Da ist der freundliche Blick der Verkäuferin, der mich mit Freude erfüllt. Da ist der wunderbare Sonnenaufgang. Da ist die Frühlingssonne, die die Kälte aus meinem Herzen vertreibt. Da gelingt mir ein Gespräch. Ich habe das Gefühl, im Gespräch das Herz des anderen berührt zu haben. Ich komme in Berührung mit der Freude, die auf dem Grund meines Herzens bereitliegt, um immer wieder geweckt zu werden.

Nur der wird wirklich mit seiner Freude in Berührung kommen, der auch bereit ist, die negativen Erfahrungen seines Lebens anzuschauen. Zur Freude gehört auch die Trauer. Wer sich weigert, der eigenen Traurigkeit, dem eigenen Schmerz über Kränkungen, dem bedrückenden Alleinsein und Alleingelassenwerden ins Auge zu schauen, der wird auch keine Freude erleben. Er wird ständig in Angst leben, dass er von depressiven Gefühlen eingeholt wird. Nur wer alle Gefühle zulässt und ihnen auf den Grund geht, wird in seinem Innern auch die Freude finden, die unter allem Ärger, aller Eifersucht, aller Angst und Wut als Grundstimmung bereitliegt. Ich darf mich nicht unter Gefühlsdruck stellen, als ob ich mich immer freuen müsste. Nur wenn ich mir erlaube, auch einmal traurig, ängstlich und hilflos zu sein, werde ich auch die Freude in mir entdecken.

Die Kirchenväter sprechen von der immerwährenden und unzerstörbaren Freude, die uns Christus geschenkt hat. Das heißt nicht, dass ich mich immer und überall freuen müsste. Die Kirchenväter sind vielmehr überzeugt, dass in uns ein Raum der Stille ist, in dem Christus wohnt. Und dort, wo Christus in mir wohnt, ist auch die Freude. Jesus spricht im Johannesevangelium von der vollkommenen Freude, die er uns schenkt. Es ist eine Freude jenseits aller Gefühle, eine Freude, die nicht von dieser Welt ist und daher auch von dieser Welt nicht zerstört werden kann. Die vollkommene Freude, von der Jesus spricht, ist der Widerschein Gottes in meiner Seele.

Im Gebet komme ich mit dieser Freude in Berührung. Aber ich weiß, dass ich diese Freude nicht festhalten kann. Sie wird immer wieder auch den Gefühlen von Trauer und Angst weichen. Doch in der Tiefe meines Herzens bin ich überzeugt, dass in mir diese vollkommene, unzerstörbare, unvergängliche Freude ist, die von Gott kommt, der in mir wohnt. Jesus verheißt uns diese Freude mitten im Kummer, mitten im Schmerz über die Erfahrung von Verlassenheit und Angst: „Euer Herz wird sich freuen, und niemand nimmt euch eure Freude“ (Johannes 16, 22).

Die Bibel weiß um die gesund machende Wirkung der Freude. Die Freude verändert sogar das Aussehen des Menschen: „Ein fröhliches Herz macht das Gesicht heiter“ (Sprüche 15, 13). Einem fröhlichen Menschen sieht man gerne ins Gesicht. Die Freude zeigt die innere Schönheit eines Menschen. Wer sich freut, spürt auch die positiven Auswirkungen auf seinen Leib: „Ein fröhliches Herz tut dem Leib wohl, ein bedrücktes Gemüt lässt die Glieder verdorren“ (Sprüche 17, 22).

Jesus Sirach, der alttestamentliche Weisheitslehrer, singt das Lob der Freude. Er hat ein Gespür für die kleinen Freuden des Alltags, für die Freude an der Schönheit der Schöpfung, an den Wohltaten Gottes, an einem guten Essen und einem hinreißenden Fest: „Herzensfreude ist Leben für den Menschen, Frohsinn verlängert ihm die Tage“ (Jesus Sirach 30, 22).

So wünsche ich dir, lieber Leser, liebe Leserin, dass du beim Lesen der Texte in diesem Buch mit deiner Freude in Berührung kommst, die unter allen bedrückenden Gefühlen in deinem Herzen verborgen ist. Ich wünsche dir, dass dir die Kraft der Liebe Selbstvertrauen gibt und du in dem einen oder anderen Ritual einen schönen Rückzugspunkt findest.


MEDI TAT ION
Mein Herz ist erfüllt mit Freude
Der Winter hat seine eigenen Freuden. Der Raureif verzaubert den Baum, ja die ganze Landschaft. Er zieht ein mildes Licht an und spiegelt es wider. Wenn ich die verschneite Winterlandschaft betrachte und ganz Auge bin, dann füllt sich mein Herz mit Freude. Es ist die Freude an der Schönheit, die Gott überall in seiner Schöpfung aufleuchten lässt. Selbst dort, wo alles vor Kälte klirrt, wo nichts wachsen kann, selbst dort strahlt Gottes Herrlichkeit mir entgegen. In meiner Kälte, im Winter meiner Seele wirkt Gott ein stilles Leuchten. Es gibt in mir kein Gestimmtsein, das nicht Freude kennt.


MEDI TAT ION
Wer in Gott ist, ist in der Freude
Auch im Winter gibt es das Grün der Wälder und das Grün des Mooses. Die Grünkraft der Natur ist stärker als alle lebensfeindlichen Mächte. Die Freude überwintert. Sie ist auf dem Grund meines Herzens, auch wenn es traurig ist. Sie ist in mir, auch wenn ich vor Kälte erstarre. Sie lässt sich nicht zugrunde richten.Wer in Gott ist, so sagen die Mystiker, der ist in der Freude. Er freut sich nicht an den schönen Dingen, sondern die Freude ist in ihm. Und das Schauen auf die göttliche Grünkraft mitten im Winter weckt die Freude, die in ihm ist.

Titel der Originalausgabe: Mit ruhigem Herzen
©2007 Verlag Kreuz GmbH
Alle Rechte vorbehalten
©Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2009
www.herder.de
Umschlaggestaltung und -konzeption:
R•M•E München/Roland Eschlbeck, Liana Tuchel
Umschlagmotiv: ©Getty Images/Frank Krahmer
Satz: Dtp-Satzservice Peter Huber, Freiburg
Herstellung: fgb • freiburger graphische betriebe
www.fgb.de
Gedruckt auf umweltfreundlichem,
chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany
ISBN 978-3-451-06013-7