Montecore, ein Tiger auf zwei Beinen
Roman. Ausgezeichnet mit dem Per-Olov-Enquist-Preis
Jonas Hassen Khemiris Debüt >>Das Kamel ohne Höcker<< wurde zum Kultbuch einer Generation und bescherte ihm in Deutschland großes Kritikerlob. >>Montecore, ein Tiger auf zwei Beinen<< erzählt die Geschichte eines...
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Produktinformationen zu „Montecore, ein Tiger auf zwei Beinen “
Jonas Hassen Khemiris Debüt >>Das Kamel ohne Höcker<< wurde zum Kultbuch einer Generation und bescherte ihm in Deutschland großes Kritikerlob. >>Montecore, ein Tiger auf zwei Beinen<< erzählt die Geschichte eines gewissen Jonas. Sein Vater ist der Superheld dieses Buches, der schon auf der ersten Seite im weißen Anzug auf der Dachterrasse seines luxuriösen New Yorker Lofts auf und ab schlendert. Wie kommt ein elender tunesischer Waisenknabe zu einem so kosmischen Erfolg? Und warum weiß Jonas in Stockholm nichts davon? - Eigentlich fängt das Ganze mit Kadir an, Papas bestem Freund aus alten Tagen. Denn Kadir schreibt wortreiche Briefe an Jonas und erzählt ihm von seinem berühmten Vater und der Zeit in Tunesien. Jonas beginnt sich an die eigene schwedische Kindheit zu erinnern, an die ersten kuriosen Jahre mit seinem Vater in Stockholm. Wohin aber ist der Vater nun verschwunden? Und wer ist dieser zunehmend unheimliche Kadir?
Klappentext zu „Montecore, ein Tiger auf zwei Beinen “
"Montecore, ein Tiger auf zwei Beinen" erzählt die Geschichte eines gewissen Jonas. Sein Vater ist der Superheld dieses Buchs, der schon auf der ersten Seite im weißen Anzug auf der Dachterrasse seines luxuriösen New Yorker Lofts auf- und abschlendert. Wie kommt ein elender tunesischer Waisenknabe zu einem so kosmischen Erfolg? Und warum weiß Jonas in Stock holm nichts davon? Eigentlich fängt das Ganze mit Kadir an, Papas bestem Freund aus alten Tagen. Denn Kadir schreibt wortreiche Briefe an Jonas und erzählt ihm von seinem berühmten Vater und der Zeit in Tunesien. Jonas beginnt sich an die eigene schwedische Kindheit zu erinnern, an die ersten kuriosen Jahre mit seinem Vater in Stockholm. Wohin aber ist der Vater nun verschwunden? Und wer ist dieser zunehmend unheimliche Kadir?
Lese-Probe zu „Montecore, ein Tiger auf zwei Beinen “
Hallo, lieber Leser, der du da im Buchladen stehst und blätterst! Lass mich dir erklären, warum gerade in dieses Buch Zeit und Finanzen investiert werden sollten!Lass uns gemeinsam ansehen, wie der beste Papa der Welt und Superheld des Buches weiß beanzugt auf seines luxuriösen New Yorker Lofts Dachterrasse auf und ab schlendert. Über den rötlich werdenden Himmel schweben Vogelschatten, Taxihupen entfernen sich, und im Hintergrund blubbert ein gigantischer Jacuzzi.
Unser Held beobachtet das Gewimmel von Manhattan. Der Wind spielt mit seinem maskulinen Pferdeschwanz, während die Erinnerung sein Leben Revue passieren lässt. Die armselige Kindheit im Waisenhaus in Tunesien, die Übersiedelung nach Schweden und der Kampf um seine Karriere. Exzellente Fotokollektionen, frequente Enttäuschungen, repetierter Verrat. Begleitet von der Sonne Sinken und der Jacuzzibläschen Blinken, lächelt er bei dem Gedanken an seiner Karriere späten Erfolg.
Doch plötzlich wird seine nostalgische Aura durchbrochen. Wer sind denn die ballontragenden Überraschungsgäste, die, Hurra rufend, aus seinem Privatfahrstuhl strömen? Da winken ihm fotografische Äquilibristen wie Cartier-Bresson und Richard Avedon. Da werden intellektuelle Prominente wie Salman Rushdie und Naomi Klein willkommen geheißen. Da treffen die großherzigen Weltgewissensträger wie Kofi Annan und Sting ein. Champagnerkorken erheben sich gen Himmel, während die Kellner eine gigantische Torte mit seinem Namen darauf in Zuckerglasur hereinrollen. Noch ehe der Abend sich dem Ende zuneigt, wird ein ledergewandeter Bono ihm zu seinem fünfzigsten Geburtstag mit einer akustischen Version von Even Better Than The Real Thing huldigen.
Unser Held füllt seine Augen mit Tränen und dankt seinen Freunden.
Wie konnte ein ärmlicher Waisenknabe zu diesem kosmischen Erfolg gelangen?
Investiere sogleich in eine Fahrkarte für die Reise in dieses Buch, dann wirst du Wissen erhalten!
ERSTER TEIL
Beste Grüße!
Deviniere mal,
... mehr
wer dir diese Phrasen schreibt. KADIR ist es, der die Tasten drückt!!!! Deines Vaters antikester Freund! Du memorierst mich doch wohl? Ich hoffe auf deinen eifrig nickenden Kopf. Das Jahr zählte 1986, als ich euch in Stockholm besuchte: deine lächelnde Mutter, deine neugeborenen Kleinebrüder, deinen stolzen Vater mit seinem neuen Fotostudio. Und dann du, der mir und deinem Vater bei unseren Gelehrtheiten in der schwedischen Sprache assistiert hat. Erinnerst du dich noch an unsere Sprachregeln? Damals warst du ein korpulenter sprachbegabter Junge mit einem aus gewachsenen Hunger auf Eis und Pez-Bonbons. Jetzt bist du plötzlich ein aufgerichteter Mann, der schon bald seinen Debütroman veröffentlichen wird! Sei meiner gigantischen Gratulationen versichert! Ach, die Zeit tickt schnell, wenn man Humor hat, nicht wahr?
Dein Verlagshaus hat mir deinen E-Mail-Briefkasten korrespondiert, und ich schreibe dir, um zu fragen, ob du mit irgendwelchen Nachrichten von deinem Vater versehen bist. Weißt du, wo er sich in diesem Augenblick lokalisiert? Ist eure Beziehung ebenso tragisch still, wie sie es in den vergangenen acht Jahren war? Dein Vater und ich standen in steter Freundschaft, bis vor einem Monat, als er plötzlich aufhörte, meine E-Mails zu beantworten. Jetzt wird meine Brust von einer Sorge zerrissen. Ist er vom CIA gekidnappt und in einem orangefarbenen Overall nach Guantanamo Bay verschleppt worden? Ist er vom Mossad entführt worden? Ist er ein Gefangener bei Nestlé, als Vergeltung wegen seiner entlarvenden Fotografien von deren sklavenähnlichen Fabriken in Paraguay? Alle diese Alternativen sind absolut möglich, weil dein Vater zu einer sehr starken politischen Pro minenz gewachsen ist. Seit seiner Umlokalisierung aus Schweden hat sich seine fotografische Karriere zu goldigem Succé hochgeglänzt.
In den letzten Jahren ist er mit seiner Kamera als politischer Waffe durch die Welt getourt. Seine Logis ist in einem luxuriösen Loft in New York, seine Bücherregale sind okkupiert von intellektueller Gegenwartsliteratur und seine Zeit vergeht mit globalen Weltverbesserern wie dem Dalai Lama und Bob Geldof. An freien Abenden nimmt er an Friedenskonferenzen teil oder saust durch die Avenuen in seinem lilafarbenen Mercedes 500 SL mit Ledersitzen und interaktivem Scheibenwischer.
Schreib mir ... ist dein Erfolg äquivalent mit dem deines Vaters? Hat dein Buchvertrag dich zum Millionär oder zum Milliardär gemacht, oder nur ein paar Jahre sicheren Einkommens gesichert? Sind literarische Äquilibristen wie Stephen King und Dan Brown enge Freunde oder nur formell bekannte Kollegen? Durch wie viele Ritzen darf man flitzen als bald veröffentlichter Autor? Liegen in deiner Korrespondenz jeden Tag parfümierte Unterhosen? Respondiere mir gern, wenn die Zeit es dir möglich macht.
Auch ich habe literarische Träume gehabt. Eine längere Zeit über plante ich, deinem Vater eine Biographie zu widmen. Leider wurden meine Ambitionen durch Wissenslücken und blasierte Verlagshäuser behindert. Doch bevor ich diese Mitteilung schrieb, wurde mein Gehirn plötzlich von einer genialen Idee durchfahren: Wie wäre es, wenn du in deinem sekundären Buch das magische Leben deines Vaters beschreiben würdest?
Lass uns unsere klugen Köpfe in der Absicht treffen, eine Biographie zu schaffen, die deinem prominenten Vater würdig ist! Lass uns in der Kreation eines Meisterwerkes kollaborieren, das ein Weltpublikum, nombreuse Nobelpreise und vielleicht sogar eine Einladung in Oprah Winfreys TV-Studio gewinnen wird!
Antworte mir schnellstmöglich deine positive Respons. Du wirst dir NICHT kondolieren müssen!
Dein neugefundener Freund
Kadir
PS: Um deine Lust an meiner Proposition zu befeuchten, füge ich zwei Word-Dokumente hinzu. Eines wäre das adäquate Vorwort zu unserem Buch, das andere beschreibt die Kindheit deines Vaters. Ich kenne den antiken Unwillen deines Vaters, dir seine Geschichte zu offenbaren. Aber glaube mir, wenn ich schreibe: Wenn er es nur gekonnt hätte, hätte er viel mehr abgegeben. Und wenn er nur von deinem zukünftigen Roman wüsste, würde er die breitesten Avenuen mit strahlendem Stolz erleuchten.
Es war einmal ein Dorf im Westen Tunesiens, das wurde Saqiyat Sidi Yusuf genannt. Hier lokalisierte im Herbst 1949 meine Geburt. Hier lebte ich bis 1958 in familiärem Idyll, als ein tragisches Unglück das Leben meines Vaters, meiner Mutter und meiner vier jüngeren Geschwister terminierte. Unglücklich lokalisierte Bomben der französischen Kolonialmacht fielen auf der Jagd nach Sympathisanten der FLN zufällig auf unser Dorf. Achtundsechzig Menschen starben, und als Konsequenz wurde ich familienfrei. Ein Freund der Familie brachte mich in die Stadt Jendouba und zu dem Haus, in dem die generöse Cherifa und der aimable Faizal meiner Aufnahme in ihr inoffizielles Waisenhaus für anti kolonialistische Märtyrer zustimmten.
Hat dein Vater dir je das Gerippe demonstriert, das von diesem Haus noch übrig ist? Es lokalisiert im östlichen Teil von Jendouba, nicht weit vom Skulpturenpark und dem inzwischen geschlossenen Kino. Dort gab es zwei Schlafsäle mit türkisfarbenen Fensternischen und schwarzen Ziergittern. Dort gab es eine Küche und einen Speisesaal, ein Schulzimmer mit alten Bänken und einer abgewetzten Schiefertafel sowie zahlreiche Kolonien von nachts tickenden Kakerlaken.
Schon in jener historischen Zeit war das Herz von Cherifa ebenso groß, wie ihr Hintern breit. Ihr gigantischer Glaube an Potentiale konnte es nur mit ihrem brennenden Hass für den Auftrag der Franzosen als Zivilisationsverbreiter aufnehmen. Faizal, Cherifas Ehemann, war ein schüchterner Dorfschullehrer, der als Ausgleich für sein Unvermögen zu sexueller Reproduktion die Fürsorge seiner Frau für solitäre Märtyrerkinder unterstützte. Meine Unterkunft partagierte ich mit den großmuskeligen Brüdern Dhib und Sofiane, deren Eltern bei jener Angriffsmethode gegen FLN-Terroristen ums Leben gekommen waren, die die Franzosen lustig mit "des ratonnades" (Rattenjagden) bezeichneten. Im Zimmer nebenan logierten Zmorda und ihre Schwester Olfa, deren Eltern mit verstümmelten Nägeln und flambierter Haut von Elektroschocks aufgefunden worden waren. Dann war da noch der hörgeschädigte Amine, Nader, dessen eines Bein kürzer war als das andere, und Omar mit dem überspannten Magen und nächtlichen Gasaussonderungen. Alle ihre Eltern und Geschwister waren wegradiert worden als Folge der effektiven Jagd französischer Truppen nach suspekten Terroristen. (Achtung: Lege im Buch kein besonderes tragisches Gewicht auf die Geschichte der Kinder. Konzentriere dich lieber auf die mythische Ankunft deines Vater als auf die Millionen Toten im Zuge der französischen Zivilisationsverbreitung. (Manche Eier müssen für ein deliziöses Omelett einfach geköpft werden.))
Mein premiäres Rendezvous mit deinem Vater geschah Ende 1962. Dieser Morgen war in vieler Hinsicht ordinär. Ich lag schon früh auf meiner Matratze wach, während Sofiane noch seine Schnarchgeräusche und Omar Blähungen von sich gaben. Ich hörte wie sich Cherifas Morgengestalt durch den Garten zur Wasserpumpe schleppte. Und dann plötzlich ... mitten in zwei heiserhälsigen Hahnengesängen ... ein Klopfen an der Tür. Erst leicht und flatterhaft. Dann stärker.
Cherifa ging murmelnd zur Tür, ich hob mich hoch und folgte ihren Schritten. Die Tür wurde gegen der Morgendämmerung Sonnenlicht aufgeschoben, und draußen stand ...
Dein Vater.
Sein Alter war hier das eines kleingewachsenen Zwölfjährigen, seine Arme astgleich dünn und sein schwarzes Haar ein aufgeplusterter Wuschel. Sein Hemd trug rötliche Spuren von Erbrochenem, und sein Körper bebte im Sonnenlicht. Cherifa fragte, was sein Anliegen sei. Dein Vater separierte seine trockenen Lippen und gestikulierte seine Arme wie ein verzweifelter Vogel. Er räusperte sich und rasselte Heiserlaute hervor. Aber keine Worte wurden prononciert. Ich erinnere mich, wie er selbst sehr erstaunt über seine Stummheit aussah.
Die Grenze von Cherifas Mitleid war mehr als erreicht. Das Haus war übervoll, und sie hatte Faizal garantiert, dass KEINE weiteren Märtyrerkinder auf seine Kosten gerettet werden würden. Doch was konnte sie tun? Sollte sie dieses arme stumme Wesen auf die Straße zurückschicken? Während sie ihren Entschluss bedachte, präsentierte dein Vater ihr ein wohlgewichtiges Kuvert. Sie schielte auf seinen Inhalt und füllte dann schnell ihre Lungen, wie wenn das Duschwasser plötzlich eiskalt wird. Sogleich dirigierte sie deinen Vater in des Eingangs kühlen Schatten. Was hatte dein Vater Cherifa delegiert? Ich glaube, einen erklärenden Brief. Oder eine generöse Summe Ökonomie.
Während Cherifa den Inhalt des Kuverts noch einmal besah, um sicherzugehen, dass sie seine Substanz auch nicht falsch eingeschätzt hatte, begegneten die Augen deines Vaters den meinen. Ich schob meine sichere Hand auf seine schwammige zu und beruhigte seinen nervösen Blick mit einem strahlend weißen Willkommenslächeln.
"Ich heiße Kadir", offerierte ich. "Willkommen in deinem neuen Zuhause!"
"...", respondierte dein Vater.
"Äh... wie?"
"..."
Dein Vater betrachtete mich mit fragendem Blick. Es war, als ob schwarze Magie seine Sprache blockiert hätte. Im Grunde war das die natürliche Schockreaktion auf eine nächtliche Explosion, einer Mutter Tod, eine chaotische Flucht und das Gefühl, absolut solitärst auf der Welt zu sein. Ich klopfte deinem Vater auf die Schulter und flüsterte:
"Keine Sorge, hier bist du zu Hause."
Im Buch muss diese Szene mit großer dramatischer Würze und symphonischen Basstuben erfüllt werden.
Schreibe so:
"Hier begegnen sie sich also. Mein Vater und Kadir. Der Held und sein Begleiter. Kadir, der in alle Zukunft das Schicksal meines Vaters begleiten wird, ein wenig wie Robin Batman begleitet oder der Neger in Zwei stahlharte Profis Mel Gibson folgt. Sie sind zwei neugewonnene beste Freunde, die niemals die einander gegebenen Versprechen vergessen werden."
(Vielleicht kannst du dann zwei schwebende Vögel draußen in der Dämmerung beschreiben, die sich begegnen, die Schnäbel einander zuwenden und dann zum Kroumirieberg segeln. (Das als Symbol für unsere initiierte Freundschaft.))
Dein Vater und ich knüpften unser Freundschaftsband schnell zu einer schönen wortlosen Schleife. Schon am ersten Tag, als Faizal Unterricht hielt, wurden unsere Körper nebeneinander auf derselben Schulbank parkiert. Am Mittag zeigte ich ihm, wie man seine Süßigkeiten unter dem Pullover versteckte, um nicht die Jalousie der anderen Jungen auf sich zu ziehen. Bei der Siesta äußerte ich eine Reihe von Fragen bezüglich seiner Herkunft, die er auch zu respondieren versuchte, doch ... seine Zunge funktionierte immer noch nicht. Er wedelte mit den Armen. Er exponierte mir ein Schwarzweißfoto, das einen Mann im Anzug darstellte, Abend essend mit zwei Europäern. Er gab mir eine verbeulte Kastanie in die Hand. Doch kein Wort kam von seinen Lippen. Schon bald wurde er deshalb mit einem ironischen Spitznamen benannt: das arabische Äquivalent für "der, der so viel redet wie einer, der ein Radio verschluckt hat".
Die Stummheit deines Vaters weckte Cherifas Fürsorge. Er wurde zu ihrem neuen Liebling, und oftmals assistierte er ihr mit Aufträgen aus dem Haushalt. Sie versuchte, seine Stummheit zu durchbrechen, indem sie ständig mit ihm redete. Sie diskutierte Himmel und Erde, Wetter und Wind, Dorftratsch und Beziehungen, ruchlose Paprikapreise und erotische Nachbarbesuche.
Weil er auf die aktive Aufmerksamkeit neidisch war, die dein Vater von Cherifa erhielt, fing Faizal an, seine Handflächen mit harten strafenden Schlägen zu traktieren. Er hoffte auf ein Jammern deines Vaters, doch alles, was je geschah, war, dass die Handflächen rot wurden, bluteten und zu festem Schorf heilten. Die Stummheit deines Vaters war immer noch intakt. (Ist es nicht witzig, dass du das Sprachproblem deines Vaters geerbt hast? Denn du erinnerst dich doch, welche Schwierigkeiten du in deiner Kindheit hattest, einfache Buchstaben wie "r" und "s" auszusprechen?)
Lass den Kalender nun das Frühjahr verlassen und nach dem Herbst zum nächsten Winter kommen. Lass den Frost den Hof draußen überziehen, lass die Grillen verstummen. Dein Vater und ich spielten wortlose Spiele, teilten Karamelbonbons, spionierten die wasserholenden Mädchen des Viertels aus. Wir entwickelten eine avancierte Zeichensprache, die nur wir verstanden.
Die Nächte deines Vater bestanden immer noch aus transpirierendem Aufwachen, der Erinnerung an den Schrei einer Mutter, an Funken und Flammen und nächtlich überquerte Grenzen. Seine Augen waren frequent von Tränen erfüllt, von den Erinnerungsbildern, die immer den Charakter der Undeutlichkeit trugen. Ich versuchte, ihn zu trösten, doch nur eine bestimmte Trauer kann getröstet werden. Andere nicht. Das ist des Lebens tragische Tatsache.
Hier biete ich an, dass du einige eigene Erinnerungen von eurem jährlichen Urlaub in Tunesien einfügst. Wenn du fürchtest, mit meiner metaphorischen Magnifizienz konkurrieren zu müssen, dann kannst du eine andere Schriftgröße verwenden. Memorierst du etwas von Jendouba?
Dein Verlagshaus hat mir deinen E-Mail-Briefkasten korrespondiert, und ich schreibe dir, um zu fragen, ob du mit irgendwelchen Nachrichten von deinem Vater versehen bist. Weißt du, wo er sich in diesem Augenblick lokalisiert? Ist eure Beziehung ebenso tragisch still, wie sie es in den vergangenen acht Jahren war? Dein Vater und ich standen in steter Freundschaft, bis vor einem Monat, als er plötzlich aufhörte, meine E-Mails zu beantworten. Jetzt wird meine Brust von einer Sorge zerrissen. Ist er vom CIA gekidnappt und in einem orangefarbenen Overall nach Guantanamo Bay verschleppt worden? Ist er vom Mossad entführt worden? Ist er ein Gefangener bei Nestlé, als Vergeltung wegen seiner entlarvenden Fotografien von deren sklavenähnlichen Fabriken in Paraguay? Alle diese Alternativen sind absolut möglich, weil dein Vater zu einer sehr starken politischen Pro minenz gewachsen ist. Seit seiner Umlokalisierung aus Schweden hat sich seine fotografische Karriere zu goldigem Succé hochgeglänzt.
In den letzten Jahren ist er mit seiner Kamera als politischer Waffe durch die Welt getourt. Seine Logis ist in einem luxuriösen Loft in New York, seine Bücherregale sind okkupiert von intellektueller Gegenwartsliteratur und seine Zeit vergeht mit globalen Weltverbesserern wie dem Dalai Lama und Bob Geldof. An freien Abenden nimmt er an Friedenskonferenzen teil oder saust durch die Avenuen in seinem lilafarbenen Mercedes 500 SL mit Ledersitzen und interaktivem Scheibenwischer.
Schreib mir ... ist dein Erfolg äquivalent mit dem deines Vaters? Hat dein Buchvertrag dich zum Millionär oder zum Milliardär gemacht, oder nur ein paar Jahre sicheren Einkommens gesichert? Sind literarische Äquilibristen wie Stephen King und Dan Brown enge Freunde oder nur formell bekannte Kollegen? Durch wie viele Ritzen darf man flitzen als bald veröffentlichter Autor? Liegen in deiner Korrespondenz jeden Tag parfümierte Unterhosen? Respondiere mir gern, wenn die Zeit es dir möglich macht.
Auch ich habe literarische Träume gehabt. Eine längere Zeit über plante ich, deinem Vater eine Biographie zu widmen. Leider wurden meine Ambitionen durch Wissenslücken und blasierte Verlagshäuser behindert. Doch bevor ich diese Mitteilung schrieb, wurde mein Gehirn plötzlich von einer genialen Idee durchfahren: Wie wäre es, wenn du in deinem sekundären Buch das magische Leben deines Vaters beschreiben würdest?
Lass uns unsere klugen Köpfe in der Absicht treffen, eine Biographie zu schaffen, die deinem prominenten Vater würdig ist! Lass uns in der Kreation eines Meisterwerkes kollaborieren, das ein Weltpublikum, nombreuse Nobelpreise und vielleicht sogar eine Einladung in Oprah Winfreys TV-Studio gewinnen wird!
Antworte mir schnellstmöglich deine positive Respons. Du wirst dir NICHT kondolieren müssen!
Dein neugefundener Freund
Kadir
PS: Um deine Lust an meiner Proposition zu befeuchten, füge ich zwei Word-Dokumente hinzu. Eines wäre das adäquate Vorwort zu unserem Buch, das andere beschreibt die Kindheit deines Vaters. Ich kenne den antiken Unwillen deines Vaters, dir seine Geschichte zu offenbaren. Aber glaube mir, wenn ich schreibe: Wenn er es nur gekonnt hätte, hätte er viel mehr abgegeben. Und wenn er nur von deinem zukünftigen Roman wüsste, würde er die breitesten Avenuen mit strahlendem Stolz erleuchten.
Es war einmal ein Dorf im Westen Tunesiens, das wurde Saqiyat Sidi Yusuf genannt. Hier lokalisierte im Herbst 1949 meine Geburt. Hier lebte ich bis 1958 in familiärem Idyll, als ein tragisches Unglück das Leben meines Vaters, meiner Mutter und meiner vier jüngeren Geschwister terminierte. Unglücklich lokalisierte Bomben der französischen Kolonialmacht fielen auf der Jagd nach Sympathisanten der FLN zufällig auf unser Dorf. Achtundsechzig Menschen starben, und als Konsequenz wurde ich familienfrei. Ein Freund der Familie brachte mich in die Stadt Jendouba und zu dem Haus, in dem die generöse Cherifa und der aimable Faizal meiner Aufnahme in ihr inoffizielles Waisenhaus für anti kolonialistische Märtyrer zustimmten.
Hat dein Vater dir je das Gerippe demonstriert, das von diesem Haus noch übrig ist? Es lokalisiert im östlichen Teil von Jendouba, nicht weit vom Skulpturenpark und dem inzwischen geschlossenen Kino. Dort gab es zwei Schlafsäle mit türkisfarbenen Fensternischen und schwarzen Ziergittern. Dort gab es eine Küche und einen Speisesaal, ein Schulzimmer mit alten Bänken und einer abgewetzten Schiefertafel sowie zahlreiche Kolonien von nachts tickenden Kakerlaken.
Schon in jener historischen Zeit war das Herz von Cherifa ebenso groß, wie ihr Hintern breit. Ihr gigantischer Glaube an Potentiale konnte es nur mit ihrem brennenden Hass für den Auftrag der Franzosen als Zivilisationsverbreiter aufnehmen. Faizal, Cherifas Ehemann, war ein schüchterner Dorfschullehrer, der als Ausgleich für sein Unvermögen zu sexueller Reproduktion die Fürsorge seiner Frau für solitäre Märtyrerkinder unterstützte. Meine Unterkunft partagierte ich mit den großmuskeligen Brüdern Dhib und Sofiane, deren Eltern bei jener Angriffsmethode gegen FLN-Terroristen ums Leben gekommen waren, die die Franzosen lustig mit "des ratonnades" (Rattenjagden) bezeichneten. Im Zimmer nebenan logierten Zmorda und ihre Schwester Olfa, deren Eltern mit verstümmelten Nägeln und flambierter Haut von Elektroschocks aufgefunden worden waren. Dann war da noch der hörgeschädigte Amine, Nader, dessen eines Bein kürzer war als das andere, und Omar mit dem überspannten Magen und nächtlichen Gasaussonderungen. Alle ihre Eltern und Geschwister waren wegradiert worden als Folge der effektiven Jagd französischer Truppen nach suspekten Terroristen. (Achtung: Lege im Buch kein besonderes tragisches Gewicht auf die Geschichte der Kinder. Konzentriere dich lieber auf die mythische Ankunft deines Vater als auf die Millionen Toten im Zuge der französischen Zivilisationsverbreitung. (Manche Eier müssen für ein deliziöses Omelett einfach geköpft werden.))
Mein premiäres Rendezvous mit deinem Vater geschah Ende 1962. Dieser Morgen war in vieler Hinsicht ordinär. Ich lag schon früh auf meiner Matratze wach, während Sofiane noch seine Schnarchgeräusche und Omar Blähungen von sich gaben. Ich hörte wie sich Cherifas Morgengestalt durch den Garten zur Wasserpumpe schleppte. Und dann plötzlich ... mitten in zwei heiserhälsigen Hahnengesängen ... ein Klopfen an der Tür. Erst leicht und flatterhaft. Dann stärker.
Cherifa ging murmelnd zur Tür, ich hob mich hoch und folgte ihren Schritten. Die Tür wurde gegen der Morgendämmerung Sonnenlicht aufgeschoben, und draußen stand ...
Dein Vater.
Sein Alter war hier das eines kleingewachsenen Zwölfjährigen, seine Arme astgleich dünn und sein schwarzes Haar ein aufgeplusterter Wuschel. Sein Hemd trug rötliche Spuren von Erbrochenem, und sein Körper bebte im Sonnenlicht. Cherifa fragte, was sein Anliegen sei. Dein Vater separierte seine trockenen Lippen und gestikulierte seine Arme wie ein verzweifelter Vogel. Er räusperte sich und rasselte Heiserlaute hervor. Aber keine Worte wurden prononciert. Ich erinnere mich, wie er selbst sehr erstaunt über seine Stummheit aussah.
Die Grenze von Cherifas Mitleid war mehr als erreicht. Das Haus war übervoll, und sie hatte Faizal garantiert, dass KEINE weiteren Märtyrerkinder auf seine Kosten gerettet werden würden. Doch was konnte sie tun? Sollte sie dieses arme stumme Wesen auf die Straße zurückschicken? Während sie ihren Entschluss bedachte, präsentierte dein Vater ihr ein wohlgewichtiges Kuvert. Sie schielte auf seinen Inhalt und füllte dann schnell ihre Lungen, wie wenn das Duschwasser plötzlich eiskalt wird. Sogleich dirigierte sie deinen Vater in des Eingangs kühlen Schatten. Was hatte dein Vater Cherifa delegiert? Ich glaube, einen erklärenden Brief. Oder eine generöse Summe Ökonomie.
Während Cherifa den Inhalt des Kuverts noch einmal besah, um sicherzugehen, dass sie seine Substanz auch nicht falsch eingeschätzt hatte, begegneten die Augen deines Vaters den meinen. Ich schob meine sichere Hand auf seine schwammige zu und beruhigte seinen nervösen Blick mit einem strahlend weißen Willkommenslächeln.
"Ich heiße Kadir", offerierte ich. "Willkommen in deinem neuen Zuhause!"
"...", respondierte dein Vater.
"Äh... wie?"
"..."
Dein Vater betrachtete mich mit fragendem Blick. Es war, als ob schwarze Magie seine Sprache blockiert hätte. Im Grunde war das die natürliche Schockreaktion auf eine nächtliche Explosion, einer Mutter Tod, eine chaotische Flucht und das Gefühl, absolut solitärst auf der Welt zu sein. Ich klopfte deinem Vater auf die Schulter und flüsterte:
"Keine Sorge, hier bist du zu Hause."
Im Buch muss diese Szene mit großer dramatischer Würze und symphonischen Basstuben erfüllt werden.
Schreibe so:
"Hier begegnen sie sich also. Mein Vater und Kadir. Der Held und sein Begleiter. Kadir, der in alle Zukunft das Schicksal meines Vaters begleiten wird, ein wenig wie Robin Batman begleitet oder der Neger in Zwei stahlharte Profis Mel Gibson folgt. Sie sind zwei neugewonnene beste Freunde, die niemals die einander gegebenen Versprechen vergessen werden."
(Vielleicht kannst du dann zwei schwebende Vögel draußen in der Dämmerung beschreiben, die sich begegnen, die Schnäbel einander zuwenden und dann zum Kroumirieberg segeln. (Das als Symbol für unsere initiierte Freundschaft.))
Dein Vater und ich knüpften unser Freundschaftsband schnell zu einer schönen wortlosen Schleife. Schon am ersten Tag, als Faizal Unterricht hielt, wurden unsere Körper nebeneinander auf derselben Schulbank parkiert. Am Mittag zeigte ich ihm, wie man seine Süßigkeiten unter dem Pullover versteckte, um nicht die Jalousie der anderen Jungen auf sich zu ziehen. Bei der Siesta äußerte ich eine Reihe von Fragen bezüglich seiner Herkunft, die er auch zu respondieren versuchte, doch ... seine Zunge funktionierte immer noch nicht. Er wedelte mit den Armen. Er exponierte mir ein Schwarzweißfoto, das einen Mann im Anzug darstellte, Abend essend mit zwei Europäern. Er gab mir eine verbeulte Kastanie in die Hand. Doch kein Wort kam von seinen Lippen. Schon bald wurde er deshalb mit einem ironischen Spitznamen benannt: das arabische Äquivalent für "der, der so viel redet wie einer, der ein Radio verschluckt hat".
Die Stummheit deines Vaters weckte Cherifas Fürsorge. Er wurde zu ihrem neuen Liebling, und oftmals assistierte er ihr mit Aufträgen aus dem Haushalt. Sie versuchte, seine Stummheit zu durchbrechen, indem sie ständig mit ihm redete. Sie diskutierte Himmel und Erde, Wetter und Wind, Dorftratsch und Beziehungen, ruchlose Paprikapreise und erotische Nachbarbesuche.
Weil er auf die aktive Aufmerksamkeit neidisch war, die dein Vater von Cherifa erhielt, fing Faizal an, seine Handflächen mit harten strafenden Schlägen zu traktieren. Er hoffte auf ein Jammern deines Vaters, doch alles, was je geschah, war, dass die Handflächen rot wurden, bluteten und zu festem Schorf heilten. Die Stummheit deines Vaters war immer noch intakt. (Ist es nicht witzig, dass du das Sprachproblem deines Vaters geerbt hast? Denn du erinnerst dich doch, welche Schwierigkeiten du in deiner Kindheit hattest, einfache Buchstaben wie "r" und "s" auszusprechen?)
Lass den Kalender nun das Frühjahr verlassen und nach dem Herbst zum nächsten Winter kommen. Lass den Frost den Hof draußen überziehen, lass die Grillen verstummen. Dein Vater und ich spielten wortlose Spiele, teilten Karamelbonbons, spionierten die wasserholenden Mädchen des Viertels aus. Wir entwickelten eine avancierte Zeichensprache, die nur wir verstanden.
Die Nächte deines Vater bestanden immer noch aus transpirierendem Aufwachen, der Erinnerung an den Schrei einer Mutter, an Funken und Flammen und nächtlich überquerte Grenzen. Seine Augen waren frequent von Tränen erfüllt, von den Erinnerungsbildern, die immer den Charakter der Undeutlichkeit trugen. Ich versuchte, ihn zu trösten, doch nur eine bestimmte Trauer kann getröstet werden. Andere nicht. Das ist des Lebens tragische Tatsache.
Hier biete ich an, dass du einige eigene Erinnerungen von eurem jährlichen Urlaub in Tunesien einfügst. Wenn du fürchtest, mit meiner metaphorischen Magnifizienz konkurrieren zu müssen, dann kannst du eine andere Schriftgröße verwenden. Memorierst du etwas von Jendouba?
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Autoren-Porträt von Jonas H. Khemiri
Jonas Hassen Khemiri, Jahrgang 1978, debütierte 2003 mit seinem Entwicklungsroman "Das Kamel ohne Höcker", der zu dem Erfolgsbuch der letzten Jahre in Schweden avancierte, mit dem Boras-Tidning-Preis ausgezeichnet wurde und ihm internationale Anerkennung eintrug. Auch in Deutschland fand der Sohn einer Schwedin und eines Tunesiers breite Aufmerksamkeit und wurde für "seinen Witz, seine Ironie und sein Tempo" (Buchreport) gerühmt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jonas H. Khemiri
- 2007, 384 Seiten, Maße: 13,9 x 21,2 cm, Leinen, Deutsch
- Aus d. Schwed. v. Susanne Dahmann
- Übersetzer: Susanne Dahmann
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492050336
- ISBN-13: 9783492050333
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