Mrs Dalloway
Warum hat sie Peter Walsh, den unberechenbaren Abenteurer, nicht geheiratet, sondern Mr. Dalloway, den trockenen Parlamentsabgeordneten? Wie verliebt war sie einst in Sally Seton? Während sie in diesem zwanglosen Strom aus Fragen, Antworten und nächsten Antworten gleichsam ruhelos und doch obenauf dahinschwimmt und Big Ben unerbittlich die Stunden zählt, kann parallel dazu Septimus Warren Smith, ein junger Veteran des I. Weltkrieges, seinen Visionen, Klärungsversuchen und Wahnvorstellungen aus dem Schützengraben nicht entkommen. Weder seine Frau noch der Psychiater Sir William Bradshaw können die Gefahr abwenden, sich endgültig zu verlieren.
Am Abend auf der Party kreuzen sich die beiden Parallelstränge, als Sir William davon erzählt, dass sich der ehemalige Soldat umgebracht hat. Da durchzuckt es Clarissa: "Mitten in meiner Gesellschaft ist der Tod anwesend", und sie fühlt ihre eigene Lebendigkeit plötzlich ganz unmittelbar.
Mrs Dallowayvon Virginia Woolf
LESEPROBE
Mrs Dallowaysagte, sie wolle die Blumen selber kaufen. Denn Lucy hatte genug zu bestellen.Die Türen würden aus den Angeln gehängt werden; RumpelmayersLeute kämen. Und dann, dachte Clarissa Dalloway, wasfür ein Morgen - frisch, wie geschaffen für Kinder am Strand.
Was für ein Vergnügen! Was für einSprung! Denn so war es ihr immer vorgekommen, wenn sie, mit einem leichten Quietschender Angeln, das sie jetzt hören konnte, die Fenstertür zum Garten aufgerissenhatte und in Bourton' ins Freie gesprungen war. Wiefrisch, wie ruhig, stiller natürlich als jetzt, die Luft am frühen Morgen war;wie der Klaps einer Welle; der Kuß einer Welle;eiskalt und schneidend und doch (für ein Mädchen von achtzehn, das sie damalswar) feierlich, mit dem Gefühl, das sie an der offenen Tür stehend hatte, etwasBestürzendes werde sich gleich ereignen; auf die Blumen blickend, auf dieBäume mit dem entweichenden Dunst und die steigenden und sinkenden Krähen, stehendund blickend, bis Peter Walsh sagte »zum Grübeln ins Gemüse« - war es das? - »Menschensind mir lieber als Blumenkohl« - war es das? Er mußtees eines Morgens beim Frühstück gesagt haben, als sie auf die Terrasse getretenwar - Peter Walski. Er würde dieser Tage aus Indien zurückkehren, im Juni oderJuli, sie hatte vergessen, wann, denn seine Briefe waren schrecklichfade; seine Bemerkungen waren es, an die man sich erinnerte; seine Augen, seinTaschenmesser, sein Lächeln, seine Verdrossenheit und, wenn abertausend Dingelängst entschwunden waren - wie seltsam war das! -, ein paar Bemerkungen wiedie über Kohlköpfe.
Sie stockte ein wenig am Kantstein,bis Durtnalls Lieferwagen vorbeigefahren war. Einebezaubernde Frau, meinte Scrope Purvisvon ihr (er kannte sie, wie man Leute kennt, die neben einem in Westminsterwohnen); etwas von einem Vogel an ihr, einem Eichelhäher, blau-grün, leicht,lebhaft, obwohl sie über fünfzig und seit ihrer Krankheit sehr weiß gewordenwar. Da war sie, aufgebaumt, ganz ohne ihn zu sehen,aufs Hinübergehen wartend, sehr aufrecht.
Denn wenn man in Westminster gelebthatte - wie viele Jahre jetzt über zwanzig -, fühlt man selbst mitten im Verkehroder beim nächtlichen Wachen, Clarissa war, ganz sicher, eine besondere Stilleoder Erhabenheit; eine unbeschreibliche Pause; eine Beschwernis (aber daskonnte ihr Herz sein, das, hieß es, von der Grippe geschwächt war), bevor BigBen schlägt. Da! Voll dröhnte er. Erst eine Warnung, melodisch; dann dieStunde, unwiderruflich. Die bleiernen Kreise lösten sich auf in der Luft. Wasfür Narren wir sind, dachte sie, Victoria Street überquerend. Denn der Himmelallein weiß, warum man es so liebt, wieso man es so sieht, es erdenkend, es umsich gründend, es umstürzend, es jeden Augenblick neu erschaffend; aber diereinsten Vogelscheuchen, die am meisten von Elend entmutigten auf den TürstufenSitzenden (Trunksucht ihr Niedergang) tun das gleiche; nichts dagegen zumachen, sie fühlte das sicher, durch Parlamentsbeschlüsse, aus genau diesenGrund: sie liehen das Leben. In den Augen der Leute, in dem Schwung, Schrittund Gang; in dem Brüllen und dein Tosen; den Kutschen, Automobilen, Omnibussen,Lieferwagen, den schlurfenden und schwankenden Sandwichmännern; denBlaskapellen; den Drehorgeln; in der Glorie und dein Klingeln und dem seltsamenhohen Singen eines Aeroplans da oben war, was sie liebte; Leben; London; dieserJuni-Augenblick.
Denn es war Mitte Juni. Der Kriegwar zu Ende,' bloß nicht für jemand wie Mrs Foxcroft gestern abend im Embassy, deren Herz sich verzehrte, weil der nette Jungegefallen war und der alte Herrensitz jetzt an einen Vetter fällt; oder Lady Bexborough, die, hieß es, einen Wohltätigkeitsbazareröffnete, in der Hand das Telegramm, John, ihr Liebling, sei gefallen; aber erwar zu Ende; gottseidank - zu Ende. Es war Juni. DerKönig und die Königin' waren im Schloß. Und überall,obgleich es noch so früh war, war ein Stampfen, ein Wirbeln galoppierender Ponies, Schlagen von Krickethölzern; Lords, Ascot, Ranelagh und was es sonstnoch gab; gehüllt in das weiche Gespinst der graublauen Morgenluft, die sie,wenn der Tag verstrich, abspulen und auf ihre Rasenplätze und Markierungen stellenwürde, die stürmenden Ponies, deren Vorderbeine den Bodenkaum berührten, und schon sprangen sie hoch, die herumwirbelnden jungen Männerund lachenden Mädchen in ihren durchscheinenden Musselinkleidern,die, eben jetzt, nach einer durchtanzten Nacht, ihre absurden wolligen Hunde ausführten;und eben jetzt, zu dieser Stunde, kamen diskrete alte Witwen von Stande inihren Automobilen zu geheimnisvollen Besorgungen herausgeschossen; und dieLadeninhaber pusselten in ihren Schaufenstern mit ihren Kunststeinen und Diamanten,ihren himmlischen alten, seegrünen Broschen in Fassungen aus dem achtzehntenJahrhundert, um Amerikanerinnen zu verführen (aber man mußsich einschränken, nicht unbesonnen etwas für Elizabeth kaufen), und auch sie,die das mit einer verdrehten und treulichen Leidenschaft liebte, da sie einTeil davon war, denn ihre Vorfahren waren früher in den georgianischenZeiten' hei Hofe gewesen, auch sie würde heute abendanzünden und erleuchten; ihre Gesellschaft gehen. Aber wie seltsam, beimBetreten des Parks,6 die Stille; der Dunst;das Summen; die träg-schwimmenden glücklichen Enten;die aufgeplusterten watschelnden Vögel; und wer anders konnte da mit dem Rückenzu den Regierungsgebäuden, wie gerufen, daherkommen, eine Depeschentasche mirdem königlichen Wappen in der Hand. Wer anders als Hugh Whitbread;ihr alter Freund Hugh - der wunderbare Hugh!
»Einen guten Morgen wünsche ichIhnen, Clarissa!« sagte Hugh, ziemlich übertrieben, denn siekannten einander von Kindheit an. »Wohin führt Sie der Weg?«
»Ich gehe so gern in Londonspazieren«, sagte Mrs Dalloway.»Wirklich, das ist besser als auf dem Lande spazierenzugehen.«
Sie seien gerade erst hereingekommen-dummerweise-, um den Arzt aufzusuchen. Andere Leute kämen, um sich Museen anzusehen;um in die Oper zu gehen; um ihre Töchter auszuführen; die Whitbreadskämen, »um den Arzt aufzusuchen«. Zahllose Male hatte Clarissa Evelyn Whitbread im Sanatorium besucht. Sei Evelyn wieder krank:Evelyn sei gewissermaßen unpäßlich, sagte Hugh undgab durch eine Art Vorwölben oder Anschwellen seines vortrefflicheingehüllten, männlichen, äußerst ansehnlichen, vollendet aufgepolstertenKörpers (er war immer fast zu gut angezogen, mußte esaber, seines kleinen Postens bei Hofe wegen, vermutlich sein) zu verstehen, daß seine Frau ein inneres Leiden habe, nichts Ernstes, wasClarissa Dalloway, als eine alte Freundin, leicht verstehenwürde, auch ohne ihn um Einzelheiten zu ersuchen. 0 ja, das tat sieselbstverständlich; wie verdrießlich; und empfand schwesterliches Mitgefühl undwar sich gleichzeitig ihres Hutes merkwürdig bewußt.Nicht der richtige Hut für den frühen Morgen, war es das? Denn Hugh gab ihrimmer das Gefühl, wie er sich tummelte, seinen Hut ziemlich übertriebenlüftete und ihr versicherte, sie könnte ein Mädchen von achtzehn sein, undnatürlich käme er heut abend zu ihrer Gesellschaft,Evelyn bestehe unbedingt darauf, es könnte nur ein bißchenspäter werden nach dem Empfang im Buckingham Palace, zu dem er einen von JimsSöhnen mitnehmen müsse - sie fühlte sich immer ein bißchenmickrig neben Hugh; schulmädchenhaft; aber anhänglich an ihn, teils weil sieihn schon immer gekannt hatte, aber sie fand ihn, auf seine Weise, ganz inOrdnung, obgleich er Richard mehr oder minder rasend machte, und was PeterWalsh anging, der hatte ihr bis zum heutigen Tage nie verziehen, daß sie ihn mochte.
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© Süddeutschw Zeitung - Bibliothek
Übersetzung:Walter Boehlich
- Autor: Virginia Woolf
- 2007, 207 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben: Klaus Reichert
- Übersetzer: Walter Boehlich
- Verlag: Süddeutsche Zeitung / Bibliothek
- ISBN-10: 3866155042
- ISBN-13: 9783866155046
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