Muss ich das alles lesen, Frau Professor?
Unerhörtes aus dem Uni-Alltag
Im zarten Alter von 38 bekommt Alix Both ihre erste feste Stelle an der Uni: Als Vertretungsprofessorin darf Geschlechterforschung darf sie ein Semester aktiv sein.
Doch Frau Both merkt schon bald, dass die neue Welt ganz nach ihren eigenen Regeln tickt -...
Doch Frau Both merkt schon bald, dass die neue Welt ganz nach ihren eigenen Regeln tickt -...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Muss ich das alles lesen, Frau Professor? “
Im zarten Alter von 38 bekommt Alix Both ihre erste feste Stelle an der Uni: Als Vertretungsprofessorin darf Geschlechterforschung darf sie ein Semester aktiv sein.
Doch Frau Both merkt schon bald, dass die neue Welt ganz nach ihren eigenen Regeln tickt - reichlich Stoff für verrückte Episoden.
Klappentext zu „Muss ich das alles lesen, Frau Professor? “
Na wenn das kein Lottogewinn ist: Nach nur fünf Jahren Studium, drei Jahren Promotion und sieben Jahren Habilitation bekommt Alix Both ihre erste feste Stelle an der Uni. Im zarten Alter von 38 darf sie für ein Semester als Vertretungsprofessorin für Geschlechterforschung ran. Voller Elan und Idealismus bezieht sie ihr neues Büro - doch es dauert nicht lang, bis sie merkt, dass diese Welt nach völlig eigenen Regeln tickt. Mal amüsiert, mal verwundert, mal schockiert schildert Alix Both die Höhen und Tiefen ihres Uni-Alltags und erzählt erfrischend komische Episoden - von überehrgeizigen Kollegen, die auf jedem Kongress und in jeder Festschrift auftauchen, von Scheinstudenten, die am liebsten ihren Charme benotet bekommen, und von akademischen Dresscodes, die den Geist betonen.
Lese-Probe zu „Muss ich das alles lesen, Frau Professor? “
Muss ich das alles lesen, Frau Professor? von Alix BothLektion Eins
Ich halte meine eiskalten Hände unter das Gebläse, bis ich sie wieder bewegen kann, und versuche mich zu sammeln. Aus einer Kabine dringt die dominante Telefon- stimme einer Studentin. Gerade noch ging es darum, ob Selbstbräuner für den Körper auch für das Gesicht geeignet sind, jetzt darf ich teilhaben an ihren Plänen für den Abend (Zumba-Klasse), an der Einschätzung des neuen Mitbewohners (kann kochen, aber nicht abwaschen) und an einem strammen Semesterprogramm (dreißig Stunden plus Lateinkurs!). Zur Verabschiedung wird die Wasserspülung gedrückt. Am Waschbecken kontrolliert die große Blonde mit Kosmetikerinnenblick ihr Gesicht. Scheint alles in Ordnung zu sein. Die Tür fällt mit einem Knall ins Schloss. Endlich bin ich allein. Um mich herum ein Inferno aus Toilettenpapier, leeren Wasserflaschen, die aus dem Abfalleimer quellen, Pfützen unter den Waschbecken. Das Pfirsicharoma aus den Raumbeduftungsgeräten macht die Lage nicht besser. Eine einsame Baseballkappe baumelt am Fensterkreuz.
Ich trete vor den Spiegel und taxiere mich. Die braunen schulterlangen Haare liegen eng am Kopf an, als hätte ich mit einer Badehaube geschlafen, auch der Lippenstift hat sich seit heute Morgen verflüchtigt. Fehlt nur noch ein angemalter Schnurrbart, denke ich. Sieht aus, als hätte ich mich im Cross-Dressing versucht. Für meine neuen Professorenkollegen das düstere Jackett und ein weißes Männerhemd, damit sie mich ernst nehmen, für die Studierenden die Jeans mit »Animal Print«, damit sie mich für jugendlich halten. Nun, das erste Ziel habe ich für heute wohl verfehlt.
... mehr
Mein erster Arbeitstag als Professorin ist noch nicht einmal halb überstanden, und doch wäre ich froh, wenn jemand »Klappe, die zweite« rufen würde. »Sie müssen unbedingt um zehn Uhr in Raum E 4110 sein«, hatte mir Frau Wegenich eingeschärft. Frau Professor Wegenich ist jemand, der man es auf jeden Fall recht machen will, wenn sie etwas für wichtig hält. Eine Kapazität auf ihrem Gebiet, den Genderwissenschaften. Und da ich sie ab heute vertreten darf, also ihren Lehrstuhl für ein Semester lang übernehmen soll, während sie für die Forschung beurlaubt ist, war mir ihr Wunsch natürlich Befehl. Es ist halb zehn, ich atme tief ein und aus und gehe noch einmal mein heutiges Programm durch. Zehn Uhr: Semesterempfang des Fachbereichs, bei dem ich als neue Vertretungsprofessorin dem Kollegium vorgestellt werde. Elf Uhr: Übergabe des Büros und der Hilfskräfte. 14 Uhr: erste Seminarsitzung.
Endlich ist es so weit! Nach so vielen mageren Jahren in der Bibliothek, im Hörsaal, in der Mensa, nach jahrzehntelanger Abhängigkeit von einem Doktorvater und von Gutachtern meiner Stipendienanträge, bin ich bei den Pfründen angekommen - oder zumindest in Sichtweite der Pfründe, denn es ist ja nur ein Semester, das ich beschäftigt sein werde, und keine lebenslange Verbeamtung. Aber immerhin: Nach fünf Jahren Studium, drei Jahren Promotion, sieben Jahren Habilitation und Privatdozentur, nach drei Jahren als studentische Hilfskraft und sieben Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin ist das in meinem Beruf so etwas wie ein Lotteriegewinn. Im zarten Alter von 38 Jahren, wenn andere Leute oft schon ihre berufliche Midlife- Crisis erleben, habe ich endlich meinen ersten ordentlich bezahlten Job an der Uni ergattert. Vertretungsprofessuren werden nicht auf dem freien Arbeitsmarkt ausgeschrieben, sondern unter der Hand als Freundschaftsdienste und Loyalitätsprämien vergeben. Professor Hirsle sei Dank! Ohne ihn, meinen ehemaligen Doktorvater als mächtigen und wohlwollenden Fürsprecher, hätte ich diese Chance nicht erhalten. Er hat die Idee seiner lieben Kollegin Wegenich eingeflüstert, und die hat mich im Fachbereich durchgesetzt.
Auch wenn die Lehrstuhlvertretung nur eine kleine Chancenverbesserung ist im Wettlauf um einen eigenen Lehrstuhl, auf dem so viele Nachwuchswissenschaftler auf der Strecke bleiben, so bedeutet sie mir doch viel: sechs Monate festes Gehalt einschließlich Ortszuschlag und Rentenansprüchen, eine kostenlose Parkberechtigung auf dem Uniparkplatz (zumindest, wenn ich den Papierkrieg dafür überlebe), ein eigenes Büro mit drei Fenstern (die schlechter dotierten Professoren haben nur zwei Fenster!), eine halbe Sekretärin, drei Hilfskräfte und natürlich: jede Menge professorale Würde!
Ich klemme die lederne Aktentasche unter den Arm, die ich mir eigens für diesen Job geleistet habe, und will gemessenen Schritts zu meinem neuen Büro schreiten, doch wie ein Fischschwarm schlagen alle gleichzeitig dieselbe Richtung ein, so dass mir nur übrigbleibt, mich von den Studentenleibern mitreißen zu lassen. Die Studierendenzahlen sind dieses Semester um zwanzig Prozent gestiegen, habe ich gehört. Hier sieht es eher nach einer Verdopplung aus. Wir fluten über die Treppen hinauf und hinunter, vorbei an Werbetafeln für einen bekannten Computerhersteller, an einem Dritte-Welt-Basar und an einem überdimensionalen Eulenkopf aus Knetmasse, der Kunst am Bau sein könnte, aber auch genauso ein Werk der Kindergartenbastelgruppe. Ab einem gewissen Punkt wird die Luft dicker, wir sind im Dunstkreis der Mensa angelangt.
Da ist mein Gang! Ich schiebe mich an den Rand des Mahlstroms, kann mich im rechten Moment lösen und eile zu meinem Zimmer, um Mantel und Tasche loszuwerden. Abgeschlossen, stimmt, ich habe ja noch gar keinen Schlüssel. Kein Problem. Gegenüber liegt das Sekretariat, mein Sekretariat, zumindest zur Hälfte. Die andere Hälfte gehört dem Juniorprofessor Schmuck. Ich klopfe, nichts, ich drücke die Türklinke, abgeschlossen. Niemand antwortet, weder meine Sekretärinnenhälfte noch die andere. Dann nehme ich eben Mantel und Tasche mit zum Semesterempfang. Schade, ich hätte auch noch gerne jemanden nach dem kürzesten Weg gefragt.
Es ist fünf vor zehn. Ich habe fünf Minuten, um von Gebäudeteil B zu Gebäudeteil C zu kommen, in dem ich noch nie war. Als sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben, erkenne ich am anderen Ende des Ganges ein weiteres Treppenhaus. Das müsste eine Abkürzung sein. Auf Ebene 4 weist das eine Schild Richtung BEF, das andere Richtung AEF. Wo ist C geblieben? Um die Ecke stoße ich schon wieder auf ein Treppenhaus. Mit dem sicheren Gefühl, in die falsche Richtung zu laufen, nehme ich die Stufen.
Zwei Stockwerke höher spüre ich erste Feuchtigkeit am Rücken. Es ist zwei vor zehn. Ich hasse es zu fragen, aber nun muss es sein. Ich klopfe an der nächstbesten Tür. Keine Antwort. Ich öffne trotzdem. Zwei große Brillengläser funkeln mir entgegen. Sie sitzen auf einem langen blassen Kopf auf einem schmächtigen Körper, der bucklig über dem Laptop hängt. »Entschuldigen Sie, dass ich störe, ich muss ganz schnell den Raum C 4110 finden. Wie komme ich da noch einmal hin?«
Hinter den Brillengläsern zwei erschreckte Makakenaugen, die nicht erkennen lassen, ob ich mich verständlich gemacht habe. Der junge Mann dreht seinen Kopf von der Tür zurück zu seinem Laptop. Spreche ich chinesisch? Spricht er chinesisch? Oder träume ich das alles? Ich schließe die Tür feierlich und eile weiter. Als ich schon am nächsten Treppenaufgang angekommen bin, höre ich ein Schlurfen hinter mir. Dann eine Stimme.
»Ich arbeite zwar seit drei Jahren hier, aber leider kenn ich nur den direkten Weg vom Bus zu meinem Büro. Tut mir leid.« Immerhin, das Wesen kann sprechen.
Eine Minute nach zehn. Da, eine Studentin, die so aussieht, als wäre sie nicht selbst auf der Suche. »Können Sie mir sagen ...?« Zu spät bemerke ich die weißen Stecker im Ohr. Ich jage kopflos treppauf und treppab. Als ich um eine Ecke biege, huscht etwas Weißes über den Gang und verschwindet in einem Seminarraum. Sah aus wie eine Katze, denke ich und schiebe die unwirkliche Erscheinung auf meinen Stress. Wieder eine Hinweistafel, ich bin zurück auf Start, gefangen im Gebäudeteil B, nun zwei Stockwerke unter meinem Büro. Am besten, ich kündige gleich wieder.
Ein älterer Student mit Rastalocken bleibt stehen. »Sie schickt der Himmel!«, sage ich und bin den Tränen nahe. »Ich bitte Sie, nehmen Sie mich an die Hand und führen Sie mich zu C 4110.«
»Keine Sorge, wir haben denselben Weg«, sagt er und geleitet mich aus dem Labyrinth.
Als wir endlich ankommen, haben wir fast zehn Minuten Verspätung. Gleich hinter der Tür hat sich eine Traube aus Studierenden gebildet, offenbar die Vertreter der Fachschaft, für die beim Semesterempfang kein Platz zum Sitzen vorgesehen ist. Ich lasse einen Moment lang das Bild auf mich wirken. Erinnert an eine historische Szene, denke ich, in der das gemeine Volk vor die hohe Herrschaft getreten ist und um Befreiung von seinen Tributzahlungen fleht. Weit vorne mache ich eine hufeisenförmige Tischanordnung aus. Da residieren meine neuen Kolleginnen und Kollegen. Also, außer Frau Professor Wegenich eigentlich nur eine Kollegin, und der Rest Kollegen. Ich dränge mich an den Studierenden vorbei und gebe Frau Wegenich Zeichen.
»Da sind Sie ja«, zischt sie und winkt mich herbei. Ihr Sitznachbar schreckt auf, dann versinkt er wieder in Gedankenschwere. Als ich es endlich wage, mich umzuschauen, ruht ein strenger Blick auf mir. Er kommt vom Mitarbeiter des Dekans, einem in sich zusammengesunkenen Enddreißiger mit verkniffenem Mund. Neben ihm thront mit seinem charakteristischen einschüchternden Haarschopf der allseits berühmte Manfred »Bonaparte« Krämer. Schon im Sitzen ein großer Mann. Unter den echsenartigen Augen hängen olympische Ringe. Der berühmte Bonaparte, wie er leibt und lebt, Kaiser unter Lehrstuhl-Fürsten, Papst der Diskurstheorie, Herrscher über mehrere Millionen Steuergelder, die er unter seinem Gefolge, den minderschweren Professoren und Wissenschaftsorganisatoren, den zahllosen hungrigen Nachwuchswissenschaftlern und Gastwissenschaftlerinnen und den hoffnungsvollen Doktorandinnen und studentischen Hilfskräften verteilen darf. Ein Mann, mit dem man es sich nicht verscherzt.
Wegenich schiebt mir die Tagesordnung zu und deutet auf TOP 1: Begrüßung der neuen Kollegen. »Leider schon vorbei«, sagt sie spitz. Wir sind inzwischen bei TOP 3: Wünsche und Anregungen der Fachschaft. Ein Student baut sich gerade todesmutig vor den Rittern der Schwafelrunde auf und stimmt eine eloquente Klage über das neue Vorlesungsverzeichnis an. Ich erkenne meinen Retter mit den Rastalocken wieder. »Wir haben zu wenige Einführungsveranstaltungen - wie jedes Jahr -, wir haben zu wenige Tutorien - wie jedes Jahr -, wir haben zu wenige Überblicksveranstaltungen - ...« An diesem Punkt hat der Professor, der mir gegenübersitzt, offenbar genug gehört. Das müsste Schmiedinger sein, der gefürchtete Mittelalterhistoriker.
»Das kennen wir schon alles. Haben Sie zur Abwechslung auch mal irgendwelche konstruktiven Vorschläge?«, fragt er mit gespitztem Mund und schaut beifallheischend in die Runde.
»Mehr Lehrveranstaltungen anbieten?«, schlägt der Student vor.
»Also erlauben Sie, dass ich Sie ein bisschen aufkläre.« Schmiedinger stützt die Hände auf den Tisch und beginnt, über den heroischen Einsatz seines Lehrstuhls und das beklagenswerte Desinteresse der Studentenschaft an seinen Veranstaltungen zu referieren. Das Kollegium geht in Trance. Die einzige Frau außer Frau Wegenich lässt ihren Pony wie einen Schleier über ihre schwarzgeränderten Brillengläser fallen. Sie ist Ethnologin und trägt standesgemäß von Kopf bis Fuß Schwarz. Ich kenne sie von einem Workshop zum Thema »Hegels Kernfamilie«. Bonaparte sitzt mit abwesendem Blick in der Mitte der illustren Runde und scheint jeden Moment einen Geistesblitz zu erwarten. Wahrscheinlich denkt er darüber nach, wie man den Bologna-Prozess stoppen könnte. Oder ist der tiefernste Gesichtsausdruck nur eine gut eingeübte Fassade, und er träumt in Wirklichkeit von einem kühlen Bier?
Mir selbst mangelt es jedenfalls an Konzentration. Ich bin viel zu aufgeregt. All die Professoren endlich auf Augenhöhe! Die meisten kenne ich dem Namen nach, ich wurde an dieser Uni habilitiert, habe sogar einige von ihnen persönlich erlebt, aber aus einem ganz anderen Blickwinkel, aus der Underdog-Perspektive, als Mitglied der Kaste der Unsichtbaren. Ich erinnere mich noch zu gut an meine jahrelange Schattenexistenz. Wenn mein Doktorvater, Herr Hirsle, und ich gemeinsam auftraten, bei einer Tagung oder einem Kolloquium, war ich sein Wurmfortsatz, quasi sein »le«. Wir konnten nebeneinander in einem Raum stehen, und der Professor, der neu hinzutrat, drückte nur ihm die Hand. Als ich diesen seltsamen Brauch noch nicht kannte, machte ich einmal den Fehler, ebenfalls meine Hand auszustrecken. Der Professor musterte mich, als käme ich aus dem Jenseits. Die Regel, dass Frauen ab einem bestimmten Alter zuerst die Hand reichen, galt offenbar nicht hier, nicht in diesem einzigartigen sozialen Biotop, in dem der Mensch/Mann überhaupt erst nach seiner Habilitation die Wahrnehmungsschwelle der Kollegen überschreiten kann.
Copyright © Ullstein Verlag.
Mein erster Arbeitstag als Professorin ist noch nicht einmal halb überstanden, und doch wäre ich froh, wenn jemand »Klappe, die zweite« rufen würde. »Sie müssen unbedingt um zehn Uhr in Raum E 4110 sein«, hatte mir Frau Wegenich eingeschärft. Frau Professor Wegenich ist jemand, der man es auf jeden Fall recht machen will, wenn sie etwas für wichtig hält. Eine Kapazität auf ihrem Gebiet, den Genderwissenschaften. Und da ich sie ab heute vertreten darf, also ihren Lehrstuhl für ein Semester lang übernehmen soll, während sie für die Forschung beurlaubt ist, war mir ihr Wunsch natürlich Befehl. Es ist halb zehn, ich atme tief ein und aus und gehe noch einmal mein heutiges Programm durch. Zehn Uhr: Semesterempfang des Fachbereichs, bei dem ich als neue Vertretungsprofessorin dem Kollegium vorgestellt werde. Elf Uhr: Übergabe des Büros und der Hilfskräfte. 14 Uhr: erste Seminarsitzung.
Endlich ist es so weit! Nach so vielen mageren Jahren in der Bibliothek, im Hörsaal, in der Mensa, nach jahrzehntelanger Abhängigkeit von einem Doktorvater und von Gutachtern meiner Stipendienanträge, bin ich bei den Pfründen angekommen - oder zumindest in Sichtweite der Pfründe, denn es ist ja nur ein Semester, das ich beschäftigt sein werde, und keine lebenslange Verbeamtung. Aber immerhin: Nach fünf Jahren Studium, drei Jahren Promotion, sieben Jahren Habilitation und Privatdozentur, nach drei Jahren als studentische Hilfskraft und sieben Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin ist das in meinem Beruf so etwas wie ein Lotteriegewinn. Im zarten Alter von 38 Jahren, wenn andere Leute oft schon ihre berufliche Midlife- Crisis erleben, habe ich endlich meinen ersten ordentlich bezahlten Job an der Uni ergattert. Vertretungsprofessuren werden nicht auf dem freien Arbeitsmarkt ausgeschrieben, sondern unter der Hand als Freundschaftsdienste und Loyalitätsprämien vergeben. Professor Hirsle sei Dank! Ohne ihn, meinen ehemaligen Doktorvater als mächtigen und wohlwollenden Fürsprecher, hätte ich diese Chance nicht erhalten. Er hat die Idee seiner lieben Kollegin Wegenich eingeflüstert, und die hat mich im Fachbereich durchgesetzt.
Auch wenn die Lehrstuhlvertretung nur eine kleine Chancenverbesserung ist im Wettlauf um einen eigenen Lehrstuhl, auf dem so viele Nachwuchswissenschaftler auf der Strecke bleiben, so bedeutet sie mir doch viel: sechs Monate festes Gehalt einschließlich Ortszuschlag und Rentenansprüchen, eine kostenlose Parkberechtigung auf dem Uniparkplatz (zumindest, wenn ich den Papierkrieg dafür überlebe), ein eigenes Büro mit drei Fenstern (die schlechter dotierten Professoren haben nur zwei Fenster!), eine halbe Sekretärin, drei Hilfskräfte und natürlich: jede Menge professorale Würde!
Ich klemme die lederne Aktentasche unter den Arm, die ich mir eigens für diesen Job geleistet habe, und will gemessenen Schritts zu meinem neuen Büro schreiten, doch wie ein Fischschwarm schlagen alle gleichzeitig dieselbe Richtung ein, so dass mir nur übrigbleibt, mich von den Studentenleibern mitreißen zu lassen. Die Studierendenzahlen sind dieses Semester um zwanzig Prozent gestiegen, habe ich gehört. Hier sieht es eher nach einer Verdopplung aus. Wir fluten über die Treppen hinauf und hinunter, vorbei an Werbetafeln für einen bekannten Computerhersteller, an einem Dritte-Welt-Basar und an einem überdimensionalen Eulenkopf aus Knetmasse, der Kunst am Bau sein könnte, aber auch genauso ein Werk der Kindergartenbastelgruppe. Ab einem gewissen Punkt wird die Luft dicker, wir sind im Dunstkreis der Mensa angelangt.
Da ist mein Gang! Ich schiebe mich an den Rand des Mahlstroms, kann mich im rechten Moment lösen und eile zu meinem Zimmer, um Mantel und Tasche loszuwerden. Abgeschlossen, stimmt, ich habe ja noch gar keinen Schlüssel. Kein Problem. Gegenüber liegt das Sekretariat, mein Sekretariat, zumindest zur Hälfte. Die andere Hälfte gehört dem Juniorprofessor Schmuck. Ich klopfe, nichts, ich drücke die Türklinke, abgeschlossen. Niemand antwortet, weder meine Sekretärinnenhälfte noch die andere. Dann nehme ich eben Mantel und Tasche mit zum Semesterempfang. Schade, ich hätte auch noch gerne jemanden nach dem kürzesten Weg gefragt.
Es ist fünf vor zehn. Ich habe fünf Minuten, um von Gebäudeteil B zu Gebäudeteil C zu kommen, in dem ich noch nie war. Als sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt haben, erkenne ich am anderen Ende des Ganges ein weiteres Treppenhaus. Das müsste eine Abkürzung sein. Auf Ebene 4 weist das eine Schild Richtung BEF, das andere Richtung AEF. Wo ist C geblieben? Um die Ecke stoße ich schon wieder auf ein Treppenhaus. Mit dem sicheren Gefühl, in die falsche Richtung zu laufen, nehme ich die Stufen.
Zwei Stockwerke höher spüre ich erste Feuchtigkeit am Rücken. Es ist zwei vor zehn. Ich hasse es zu fragen, aber nun muss es sein. Ich klopfe an der nächstbesten Tür. Keine Antwort. Ich öffne trotzdem. Zwei große Brillengläser funkeln mir entgegen. Sie sitzen auf einem langen blassen Kopf auf einem schmächtigen Körper, der bucklig über dem Laptop hängt. »Entschuldigen Sie, dass ich störe, ich muss ganz schnell den Raum C 4110 finden. Wie komme ich da noch einmal hin?«
Hinter den Brillengläsern zwei erschreckte Makakenaugen, die nicht erkennen lassen, ob ich mich verständlich gemacht habe. Der junge Mann dreht seinen Kopf von der Tür zurück zu seinem Laptop. Spreche ich chinesisch? Spricht er chinesisch? Oder träume ich das alles? Ich schließe die Tür feierlich und eile weiter. Als ich schon am nächsten Treppenaufgang angekommen bin, höre ich ein Schlurfen hinter mir. Dann eine Stimme.
»Ich arbeite zwar seit drei Jahren hier, aber leider kenn ich nur den direkten Weg vom Bus zu meinem Büro. Tut mir leid.« Immerhin, das Wesen kann sprechen.
Eine Minute nach zehn. Da, eine Studentin, die so aussieht, als wäre sie nicht selbst auf der Suche. »Können Sie mir sagen ...?« Zu spät bemerke ich die weißen Stecker im Ohr. Ich jage kopflos treppauf und treppab. Als ich um eine Ecke biege, huscht etwas Weißes über den Gang und verschwindet in einem Seminarraum. Sah aus wie eine Katze, denke ich und schiebe die unwirkliche Erscheinung auf meinen Stress. Wieder eine Hinweistafel, ich bin zurück auf Start, gefangen im Gebäudeteil B, nun zwei Stockwerke unter meinem Büro. Am besten, ich kündige gleich wieder.
Ein älterer Student mit Rastalocken bleibt stehen. »Sie schickt der Himmel!«, sage ich und bin den Tränen nahe. »Ich bitte Sie, nehmen Sie mich an die Hand und führen Sie mich zu C 4110.«
»Keine Sorge, wir haben denselben Weg«, sagt er und geleitet mich aus dem Labyrinth.
Als wir endlich ankommen, haben wir fast zehn Minuten Verspätung. Gleich hinter der Tür hat sich eine Traube aus Studierenden gebildet, offenbar die Vertreter der Fachschaft, für die beim Semesterempfang kein Platz zum Sitzen vorgesehen ist. Ich lasse einen Moment lang das Bild auf mich wirken. Erinnert an eine historische Szene, denke ich, in der das gemeine Volk vor die hohe Herrschaft getreten ist und um Befreiung von seinen Tributzahlungen fleht. Weit vorne mache ich eine hufeisenförmige Tischanordnung aus. Da residieren meine neuen Kolleginnen und Kollegen. Also, außer Frau Professor Wegenich eigentlich nur eine Kollegin, und der Rest Kollegen. Ich dränge mich an den Studierenden vorbei und gebe Frau Wegenich Zeichen.
»Da sind Sie ja«, zischt sie und winkt mich herbei. Ihr Sitznachbar schreckt auf, dann versinkt er wieder in Gedankenschwere. Als ich es endlich wage, mich umzuschauen, ruht ein strenger Blick auf mir. Er kommt vom Mitarbeiter des Dekans, einem in sich zusammengesunkenen Enddreißiger mit verkniffenem Mund. Neben ihm thront mit seinem charakteristischen einschüchternden Haarschopf der allseits berühmte Manfred »Bonaparte« Krämer. Schon im Sitzen ein großer Mann. Unter den echsenartigen Augen hängen olympische Ringe. Der berühmte Bonaparte, wie er leibt und lebt, Kaiser unter Lehrstuhl-Fürsten, Papst der Diskurstheorie, Herrscher über mehrere Millionen Steuergelder, die er unter seinem Gefolge, den minderschweren Professoren und Wissenschaftsorganisatoren, den zahllosen hungrigen Nachwuchswissenschaftlern und Gastwissenschaftlerinnen und den hoffnungsvollen Doktorandinnen und studentischen Hilfskräften verteilen darf. Ein Mann, mit dem man es sich nicht verscherzt.
Wegenich schiebt mir die Tagesordnung zu und deutet auf TOP 1: Begrüßung der neuen Kollegen. »Leider schon vorbei«, sagt sie spitz. Wir sind inzwischen bei TOP 3: Wünsche und Anregungen der Fachschaft. Ein Student baut sich gerade todesmutig vor den Rittern der Schwafelrunde auf und stimmt eine eloquente Klage über das neue Vorlesungsverzeichnis an. Ich erkenne meinen Retter mit den Rastalocken wieder. »Wir haben zu wenige Einführungsveranstaltungen - wie jedes Jahr -, wir haben zu wenige Tutorien - wie jedes Jahr -, wir haben zu wenige Überblicksveranstaltungen - ...« An diesem Punkt hat der Professor, der mir gegenübersitzt, offenbar genug gehört. Das müsste Schmiedinger sein, der gefürchtete Mittelalterhistoriker.
»Das kennen wir schon alles. Haben Sie zur Abwechslung auch mal irgendwelche konstruktiven Vorschläge?«, fragt er mit gespitztem Mund und schaut beifallheischend in die Runde.
»Mehr Lehrveranstaltungen anbieten?«, schlägt der Student vor.
»Also erlauben Sie, dass ich Sie ein bisschen aufkläre.« Schmiedinger stützt die Hände auf den Tisch und beginnt, über den heroischen Einsatz seines Lehrstuhls und das beklagenswerte Desinteresse der Studentenschaft an seinen Veranstaltungen zu referieren. Das Kollegium geht in Trance. Die einzige Frau außer Frau Wegenich lässt ihren Pony wie einen Schleier über ihre schwarzgeränderten Brillengläser fallen. Sie ist Ethnologin und trägt standesgemäß von Kopf bis Fuß Schwarz. Ich kenne sie von einem Workshop zum Thema »Hegels Kernfamilie«. Bonaparte sitzt mit abwesendem Blick in der Mitte der illustren Runde und scheint jeden Moment einen Geistesblitz zu erwarten. Wahrscheinlich denkt er darüber nach, wie man den Bologna-Prozess stoppen könnte. Oder ist der tiefernste Gesichtsausdruck nur eine gut eingeübte Fassade, und er träumt in Wirklichkeit von einem kühlen Bier?
Mir selbst mangelt es jedenfalls an Konzentration. Ich bin viel zu aufgeregt. All die Professoren endlich auf Augenhöhe! Die meisten kenne ich dem Namen nach, ich wurde an dieser Uni habilitiert, habe sogar einige von ihnen persönlich erlebt, aber aus einem ganz anderen Blickwinkel, aus der Underdog-Perspektive, als Mitglied der Kaste der Unsichtbaren. Ich erinnere mich noch zu gut an meine jahrelange Schattenexistenz. Wenn mein Doktorvater, Herr Hirsle, und ich gemeinsam auftraten, bei einer Tagung oder einem Kolloquium, war ich sein Wurmfortsatz, quasi sein »le«. Wir konnten nebeneinander in einem Raum stehen, und der Professor, der neu hinzutrat, drückte nur ihm die Hand. Als ich diesen seltsamen Brauch noch nicht kannte, machte ich einmal den Fehler, ebenfalls meine Hand auszustrecken. Der Professor musterte mich, als käme ich aus dem Jenseits. Die Regel, dass Frauen ab einem bestimmten Alter zuerst die Hand reichen, galt offenbar nicht hier, nicht in diesem einzigartigen sozialen Biotop, in dem der Mensch/Mann überhaupt erst nach seiner Habilitation die Wahrnehmungsschwelle der Kollegen überschreiten kann.
Copyright © Ullstein Verlag.
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Autoren-Porträt von Alix Both
Both, AlixAlix Both, die in Wirklichkeit anders heißt, ist Gender-Wissenschaftlerin an einer deutschen Universität und erlebte ein Semester lang als Lehrstuhlvertretung deutsche Professoren (fast) auf Augenhöhe.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alix Both
- 2013, 219 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548374859
- ISBN-13: 9783548374857
- Erscheinungsdatum: 11.10.2013
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