Mustererkennung
Roman. Ausgezeichnet mit dem Canada Reads
Keiner schreibt über unsere Zeit wie William Gibson
Merkwürdige Clips, um die sich ein regelrechter Kult gebildet hat, geistern durch das Internet. Tausende von Usern weltweit sind geradezu süchtig nach diesen winzigen Schnipseln...
Merkwürdige Clips, um die sich ein regelrechter Kult gebildet hat, geistern durch das Internet. Tausende von Usern weltweit sind geradezu süchtig nach diesen winzigen Schnipseln...
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Produktinformationen zu „Mustererkennung “
Keiner schreibt über unsere Zeit wie William Gibson
Merkwürdige Clips, um die sich ein regelrechter Kult gebildet hat, geistern durch das Internet. Tausende von Usern weltweit sind geradezu süchtig nach diesen winzigen Schnipseln Videomaterial. Cayce Pollard, hoch bezahlte Marketingspezialistin mit einem untrüglichen Gespür für Trends, soll herausfinden, wer sich hinter den geheimnisvollen Filmchen verbirgt. Ihre Aufgabe führt sie nicht nur bis nach Moskau und Tokio, sondern auch tief in die Abgründe des World Wide Web...
Merkwürdige Clips, um die sich ein regelrechter Kult gebildet hat, geistern durch das Internet. Tausende von Usern weltweit sind geradezu süchtig nach diesen winzigen Schnipseln Videomaterial. Cayce Pollard, hoch bezahlte Marketingspezialistin mit einem untrüglichen Gespür für Trends, soll herausfinden, wer sich hinter den geheimnisvollen Filmchen verbirgt. Ihre Aufgabe führt sie nicht nur bis nach Moskau und Tokio, sondern auch tief in die Abgründe des World Wide Web...
Klappentext zu „Mustererkennung “
Keiner schreibt über unsere Zeit wie William GibsonMerkwürdige Clips, um die sich ein regelrechter Kult gebildet hat, geistern durch das Internet. Tausende von Usern weltweit sind geradezu süchtig nach diesen winzigen Schnipseln Videomaterial. Cayce Pollard, hoch bezahlte Marketingspezialistin mit einem untrüglichen Gespür für Trends, soll herausfinden, wer sich hinter den geheimnisvollen Filmchen verbirgt. Ihre Aufgabe führt sie nicht nur bis nach Moskau und Tokio, sondern auch tief in die Abgründe des World Wide Web...
Lese-Probe zu „Mustererkennung “
Mustererkennung von William Gibson Aus dem Amerikanischen von Cornelia Holfelder-von der Tann und Christachuenke
1 Nacht im Netz
Fünf Stunden Zeitunterschied zwischen New York und
London. Cayce Pollard erwacht in Camden Town, belauert
von den schaurigen, endlos kreisenden Wölfen der
Dysrhythmie.
Es ist die matte, gespenstische Unstunde, limbische
Impulse schwappen durch die graue Substanz, erratische
Regungen des Stammhirns funken inadäquates Reptilien
verlangen nach Sex, Nahrung, Betäubung, obwohl
im Augenblick nichts davon real verfügbar ist.
Nicht mal Nahrung, denn Damiens neue Küche enthält
so wenig Essbares wie die Ausstellungsstücke ihres
Designers in der Camden High Street. Sehr hübsch,
die Oberschränke kanariengelb beschichtet, die Unterschränke
ungebeiztes, klarlackversiegeltes Apfelbaumfurnier.
Blitzsauber und so gut wie leer, bis auf eine Packung
mit zwei trockenen Weetabix-Pellets und ein paar losen
Beuteln Kräutertee. Gähnende Leere im Kühlschrank,
Made in Germany, der noch so neu ist, dass es darin nur
nach Kälte und langkettigen Polymeren riecht.
Jetzt, da sie das weiße Rauschen Londons hört, ist ihr
klar, dass Damiens Jetlagtheorie stimmt: dass ihre Seele
meilenweit hinterherhängt, erst langsam eingeholt wird,
an einer geisterhaften Nabelschnur, in der längst verschwundenen
Wirbelspur ihres Flugzeugs hoch über dem
Atlantik. Seelen können sich nicht so schnell fortbewegen,
also bleiben sie zurück, und man muss auf sie warten
wie auf verlorengegangenes Gepäck.
Sie fragt sich, ob das mit dem Alter schlimmer wird,
die namenlose Stunde noch unendlicher, unwirklicher,
das Gefühl dabei noch seltsamer und gleichzeitig weniger
interessant.
... mehr
Wie betäubt liegt sie hier im Halbdunkel in Damiens
Schlafzimmer, unter einem topflappenartig silbrigen
Ding, das vom Hersteller garantiert nicht zum Zudecken
vorgesehen ist. Aber sie war zu müde, um sich eine Bettdecke
zu suchen. Die Laken zwischen ihrer Haut und der
schweren Hightech-Tagesdecke sind aus seidigem, weichem
Jacquardsatin und riechen schwach nach - Damien
vermutlich. Aber nicht schlecht. Eigentlich sogar ganz
angenehm; in dieser Situation ist jeder sinnliche Kontakt
zu einem Mitsäugetier willkommen.
Damien ist ein Freund.
Unsere Steckverbindungen sind nicht kompatibel,
würde er sagen.
Damien ist dreißig, Cayce zwei Jahre älter, aber er
hat ein sorgsam isoliertes Unreifemodul in sich, etwas
Scheues, Dickköpfiges, das den Geldgebern zuerst unheimlich
war. Beide sind sie hervorragend in ihrem Job,
und beide haben sie keine Ahnung, warum.
Wenn man Damien googelt, findet man einen Regisseur
von Musikvideos und Werbespots. Googelt man
Cayce, findet man »Coolhunter«, und wenn man genau
hinguckt, vielleicht auch noch ein paar Hinweise darauf,
dass sie so eine Art »Sensitive« ist, eine Wünschelrutengängerin
in der Welt des globalen Marketings.
Obwohl das in Wahrheit, sagt Damien, eher so was
wie eine Allergie ist, eine krankhafte und manchmal sehr
heftige Reaktion auf die Semiotik der Warenwelt.
Damien ist momentan in Russland; er hat sich vor
der Renovierung dorthin geflüchtet, angeblich, um einen
Dokumentarfilm zu drehen. Alles, was diese Räume hier
halbwegs bewohnt wirken lässt, weiß Cayce, ist dem Wirken
einer Produktionsassistentin zu verdanken.
Sie wälzt sich an die Bettkante, macht Schluss mit dieser
sinnlosen Schlafparodie. Grabbelt nach ihren Kleidern.
Ein schwarzes Fruit-of-the-Loom-T-Shirt, Knabengröße,
gründlich geschrumpft, ein dünner grauer Pullover
mit V-Ausschnitt, im halben Dutzend von einem Lieferanten
für Ostküsten-Privatschulen bezogen, und eine
neue schwarze Oversize-501, sorgsam von jedem Markenlogo
befreit. An dieser hier sind sogar die Knöpfe abgeschliffen
worden, von einem verblüfften koreanischen
Schlüsseldienst-Typen im Village, vor einer Woche.
Der Schalter der italienischen Stehlampe fühlt sich
fremd an: ein anderer Knipsmechanismus für eine andere
Voltzahl, exotischen britischen Strom.
Sie steht jetzt, steigt in ihre Jeans, richtet sich fröstelnd
wieder auf.
Spiegelwelt. Die Elektrostecker sind riesig, dreipolig,
für eine Sorte Strom, mit der in Amerika nur elektrische
Stühle betrieben werden. Die Autos sind innen rechtslinks-
verkehrt; die Telefonhörer haben ein anderes Gewicht,
einen anderen Schwerpunkt; die Taschenbuch-
Cover sehen aus wie australisches Geld.
Halogengeblendet, mit schmerzhaft kontrahierten Pupillen,
blinzelt sie in einen richtigen Spiegel, der an einer
grauen Wand lehnt und darauf wartet, aufgehängt zu
werden. Erblickt darin eine unkoordinierte schwarzbeinige
Marionette, deren strubbliges Haar wie eine Klo-
bürste aussieht. Sie schneidet ihr eine Fratze und denkt
aus irgendeinem Grund an einen Ex-Freund, der darauf
bestand, sie mit Helmut Newtons Aktporträt von Jane
Birkin zu vergleichen.
In der Küche lässt sie Wasser durch einen deutschen
Filter in einen italienischen Wasserkocher laufen. Müht
sich mit Schaltern ab, einer am Kocher, einer am Stecker,
einer an der Steckdose. Inspiziert, während das Wasser
zum Sieden kommt, geistesabwesend die kanariengelben
Laminatschränke. Beutel mit irgendeinem importierten
kalifornischen Tee-Ersatz in einen hohen weißen Becher.
Kochendes Wasser drauf.
Im Hauptraum findet sie Damiens treuen Cube eingeschaltet,
aber auf Sleepmodus; der Sensor blinkt leise vor
sich hin. Hier zeigt sich Damiens gespaltenes Verhältnis
zum Thema Design: Innendekorateure lässt er nur über
die Schwelle, wenn sie quasi versprechen, nicht das zu
tun, was ihr Job ist, aber sein Mac ist ihm lieb und teuer,
weil man ihn auf den Kopf stellen und mittels eines kleinen
Aluzaubergriffs die Innereien herausnehmen kann.
Wie das Geschlechtsteil der Robotergirls in seinem Video,
geht ihr jetzt auf.
Sie setzt sich in seinen hochlehnigen Bürosessel und
drückt die Taste der transparenten Maus. Infrarotflackern
auf dem hellen Holz der langen Schreibtischplatte. Der
Browser kommt hoch. Sie gibt Fetish:Footage:Forum ein,
was Damien mit seiner Virenangst niemals bookmarken
würde.
Die Startseite baut sich auf, so vertraut wie das Wohnzimmer
eines Freundes. Ein Frame-Grab aus #48 dient
als Hintergrund, düster und fast monochrom, keine Personen.
Das ist eine der Sequenzen, die Vergleiche mit Tarkowski
provozieren. Von Tarkowski kennt sie eigentlich
nur ein paar Stills, obwohl sie einmal bei Stalker im Kino
eingeschlafen ist; eine Endloseinstellung, Pfütze auf kaputtem
Mosaikboden, senkrecht von oben in Großaufnahme.
Aber sie gehört nicht zu denen, die sich viel davon
versprechen, die vermeintlichen Einflüsse auf den
Filmemacher zu analysieren. Der Clip-Kult unterteilt
sich in jede Menge Untersekten, die alle möglichen Ein-
flüsse erkannt haben wollen: Truffaut, Peckinpah ... Die
Peckinpah-Fraktion, deren Theorie wohl die abwegigste
ist, wartet immer noch darauf, dass geballert wird.
Sie geht jetzt ins eigentliche Forum, überfliegt automatisch
die Titel der Postings und die Namen der Absender
in den neueren Threads, hält Ausschau nach Freunden,
Feinden, Neuigkeiten. Eins ist allerdings auf den ersten
Blick klar: dass kein neuer Clip aufgetaucht ist. Der letzte
war dieser lange Strandschwenk, wobei sie allerdings
nicht die Auffassung teilt, dass es sich dabei um Cannes
im Winter handelt. Auch die französischen Clipheads, die
stundenlang ähnliche Szenerien gefilmt haben, konnten
kein überzeugendes Pendant liefern.
Außerdem sieht sie, dass ihr Freund Parkaboy wieder
in Chicago ist, zurück von seinem Amtrak-Trip nach Kalifornien,
doch als sie sein Posting öffnet, stellt sie fest, dass
er buchstäblich nur Hallo sagt.
Sie klickt auf Beantworten, gibt als Usernamen CayceP
ein. Hi, Parkaboy. nt.
Als sie auf die Forumseite zurückgeht, ist ihr Posting da.
Das ist so eine Art transportables Zuhause. Das Forum
ist inzwischen einer der konstantesten Orte in ihrem Leben,
wie ein vertrautes Café irgendwie jenseits von Geographie
und Zeitzonen.
Es gibt etwa zwanzig Leute, die regelmäßig im F:F:F
posten, und eine unbekannte, aber wesentlich größere
Zahl von Mitlesern. Im Moment sind drei Leute im Chat,
aber wer das ist, weiß man erst, wenn man selbst drin
ist, und im Chatroom fühlt sie sich nicht so wohl. Es ist
komisch dort, selbst mit Freunden, als ob man in einem
stockdunklen Keller sitzt und über eine Entfernung von
fünf Metern miteinander redet. Das hektische Tempo, die
Kürze der Mitteilungen im Thread und das Gefühl, dass
alle durcheinanderquasseln, das schreckt sie ab.
Der Cube seufzt leise und macht subliminale Festplattengeräusche,
wie ein Oldtimer-Sportwagen, der auf einem
fernen Freeway dahinschnurrt. Sie nippt an ihrem
Tee-Ersatz, aber er ist noch zu heiß. Diffuses graues Licht
dringt jetzt in den Raum, enthüllt Damiena, die die Renovierung
überdauert haben.
An einer Wand lehnen demontierte Roboter, zwei davon
nur Torsi mit Köpfen, eindeutig weibliche Crashtest-
Dummies. Das sind Requisiten aus einem von Damiens
Videos, und sie fragt sich, warum sie die beiden selbst in
dieser Stimmung so tröstlich findet. Wahrscheinlich, weil
sie einfach schön sind, vermutet sie. Optimistische Darstellungen
des Weiblichen. Kein Sci-Fi-Kitsch, nicht bei
Damien. Traumwesen im Morgenzwielicht, die kleinen
Brüste schimmern, weißes Plastik mit dem sanften Glanz
von altem Marmor. Und doch privater Fetischimus; sie
weiß, dass sie nach einer Ganzkörperabformung seiner
vorvorletzten Freundin gegossen wurden.
Hotmail zeigt vier Mails an, von denen sie keine aufmachen
mag. Einmal ihre Mutter, dreimal Spam. Der Penisverlängerer
ist immer noch hinter ihr her, gleich zweimal,
außerdem soll sie ihren Brustumfang dramatisch
vergrößern.
Sie löscht den Spam. Trinkt ihren Tee-Ersatz. Sieht zu,
wie das Grau tageslichtähnlicher wird.
Schließlich geht sie in Damiens frisch renoviertes Bad.
Es kommt ihr vor, als ginge sie sich hier abduschen, um
eine unter sterilen Bedingungen aufbewahrte NASA-Gesteinsprobe
zu besichtigen, oder als träte sie gerade aus einem
Tschernobyl-Szenario heraus, um sich von gummiverpackten
Sowjettechnikern aus dem Bleianzug schälen
und anschließend mit langstieligen Bürsten abschrubben
zu lassen. Die Duscharmaturen sind mit den Ellbogen zu
bedienen, damit die geschrubbten Hände steril bleiben.
Sie zieht Pullover und T-Shirt aus und benutzt ganz
einfach die Hände, um die Dusche anzustellen und die
Temperatur zu regulieren.
Vier Stunden später liegt sie in einem Edelhinterhof namens
Neal's Yard im Pilates-Studio auf dem Reformer,
der Wagen von Blue Ant wartet draußen auf der Straße.
Der Reformer ist ein langes, niedriges, diffus bedrohlich
und weimardeutsch aussehendes Möbel, in dem sich
Zugfedern verbergen. Sie liegt auf dem Rücken, die Füße
auf der Stange am Fußende in V-Position. Die gepolsterte
Liegefläche fährt auf den Winkeleisenschienen des Rahmens
vor und zurück, wobei die Federn leise schnarren.
Jeweils zehnmal, mit den Zehen, mit den Fersen ... In
New York macht sie das in einem Fitness-Center, wo viele
Tanzprofis hingehen, aber hier in Neal's Yard ist sie heute
morgen anscheinend die einzige Kundin. Der Laden hat
wohl erst kürzlich aufgemacht, und vielleicht ist so was
hier ja auch noch nicht so populär. In der Spiegelwelt haben
sie es immer noch mit archaischen Drogen, denkt sie:
Die Leute rauchen und trinken, als ob das gesund wäre,
und die Begeisterung für Kokain scheint mehr oder minder
ungebrochen. Heroin, hat sie gelesen, ist hier billiger
denn je, weil der Markt noch von der ersten Dumping-
Welle mit afghanischem Opium überschwemmt ist.
Jetzt ist sie mit den Zehen fertig und geht zu den Fersenübungen
über, reckt den Hals, um sich zu vergewissern,
dass ihre Fußhaltung korrekt ist. Pilates gefällt ihr,
weil es nicht so meditativ ist, wie sie sich Yoga vorstellt.
Hier muss man hingucken und aufpassen.
Die Konzentration hilft gegen die Unruhe, die sie jetzt
verspürt, dieses Vorfeld-Flattern, das sie schon eine ganze
Weile nicht mehr gehabt hat.
Sie ist hier, weil Blue Ant sie dafür bezahlt. Vergleichsweise
winzig, was den festen Mitarbeiterstamm angeht,
global präsent, eher postgeographisch als multinational,
hat sich diese Agentur von Anfang an als schnelle, hocheffiziente
Lebensform in einem Werbebiotop voller schwerfälliger
Herbivoren profiliert. Wenn nicht gar als nichtkohlenstoffbasierte
Lebensform, entsprungen der glatten,
ironischen Stirn ihres Gründers Hubertus Bigend, der offiziell
Belgier ist und aussieht wie Tom Cruise auf einer Diät
aus Jungfrauenblut und Trüffelpralinen.
Das Einzige, was Cayce an Bigend gefällt, ist, dass er
anscheinend gar nicht auf die Idee kommt, sein Name
könnte jemals auf irgendwen lächerlich wirken. Sonst
fände sie ihn noch unerträglicher.
Diese Aversion ist persönlicher, wenn auch vermittelter
Natur.
Noch immer bei den Fersenübungen, guckt sie auf ihre
Armbanduhr, den koreanischen Klon einer klassischen
Casio G-Shock, dessen Plastikgehäuse mit einem Fetzchen
japanischem Mikroschleifpapier logofrei geschmirgelt
wurde. In fünfzehn Minuten soll sie im Blue-Ant-
Büro in Soho sein.
Sie drapiert zwei schlaffe grüne Schaumstoffpolster
über die Fußstange, bringt sorgsam die Füße in Position,
zieht die Fersen an, als würde sie unsichtbare Stilettos
tragen, und beginnt mit ihren zehn Greifübungen.
2 Das Luder
Die CPUs für das Meeting, die sich jetzt in der Schaufensterscheibe
eines Mod-Ladens in Soho spiegeln, sind: ein
frisches Fruit-of-the-Loom-T-Shirt, ihre schwarze BuzzRickson-
MA-1, ein anonymer schwarzer Rock aus einem
Secondhand-Laden in Tulsa, die schwarze Leggings, die
sie zum Pilates anhatte, schwarze Harajuku-Schulmädchenschuhe.
Ihr Handtaschenäquivalent ist eine Dokumentenmappe
aus schwarz beschichteter DDR-Pappe, von
eBay - wenn nicht original Stasi, dann doch zumindest
auf der gleichen Linie.
Sie sieht ihre grauen Augen, blass in der Scheibe, dahinter
Ben-Sherman-Hemden und Fishtail-Parkas, Manschettenknöpfe
mit dem runden R.A.F.-Emblem, das in
einem früheren Krieg die Tragflächen der Spitfires kennzeichnete.
CPUs. Cayce-Pollard-Units. So nennt Damien die Sachen,
die sie trägt. CPUs sind schwarz, weiß oder grau
und scheinen im Idealfall ohne menschliches Zutun in
diese Welt gelangt zu sein. Die Elementarform von Basics.
Was die Leute für konsequenten Minimalismus halten,
rührt daher, dass Cayce zu lange den Reaktorkernen der
Mode ausgesetzt war. Das hat das Spektrum dessen, was
sie tragen kann und will, gnadenlos eingeschränkt. Sie
ist buchstäblich allergisch gegen Mode. Sie verträgt nur
Sachen, die in jedem beliebigen Jahr zwischen 1945 und
2000 unkommentiert durchgegangen wären. Sie ist eine
designfreie Zone, eine Ein-Frau-Verweigerungsbewegung,
deren spartanische Strenge gelegentlich ihren eigenen
Kult hervorzutreiben droht.
Um sie herum das geschäftige Treiben von Soho, ein
Freitagvormittag, der auf die Lunchzeit zusteuert, auf alkoholbegleitete
Mahlzeiten und kontrolliertes Tischgeplauder
in all diesen Restaurants. In einem davon, dem
Charlie Don't Surf, werden sie das obligatorische Nachmeetingsmittagessen
zu sich nehmen. Aber sie spürt, wie
sich vor ihr das nächste Jetlag-Tal auftut, und ihr ist klar,
das ist die Welle, die sie jetzt reiten muss: der Serotoninmangel,
die Seelenverspätung.
Sie guckt auf die Uhr und steuert auf das Office von
Blue Ant zu, in dem bis vor kurzem noch eine ältere,
konventionellere Werbeagentur residierte.
Der Himmel ist eine leuchtendgraue Schüssel, von aufgedröselten
Kondensstreifen durchzogen, und als sie auf
den Knopf drückt, um Blue Ant ihre Ankunft zu vermelden,
tut es ihr leid, dass sie ihre Sonnenbrille nicht mit
hat.
Sie sitzt jetzt Bernard Stonestreet gegenüber, den sie aus
der New Yorker Blue-Ant-Filiale kennt. Er ist blass und
sommersprossig wie eh und je; sein karottenrotes Haar
steht empor wie ein Flammenornament von Aubrey
Beards ley, was von einer unglücklichen Schlafstellung
herrühren könnte, wohl eher aber das Werk eines exklusiven
Friseurs ist. Er trägt etwas Schwarzes, das Cayce als
einen Anzug von Paul Smith identifiziert, genauer gesagt
als Jackett 118 und Hose 11T. Sein Londoner Stil sind offenbar
Klamotten im Wert von ein paar tausend Pfund,
die allesamt so aussehen, als wären sie nie getragen worden,
bevor er letzte Nacht darin geschlafen hat. In New
York hingegen sieht er bevorzugt so aus, als ob er von
einer ganzen Horde Trendexperten in die Mangel genommen
worden wäre. Unterschiedliche kulturelle Parameter.
Zu seiner Linken sitzt Dorotea Benedetti mit streng zurückgestriegeltem
Haar und einer nerdig-konzentrierten
Aura, die wohl geschäftlichen Ernst und Ärger zugleich
signalisiert. Dorotea, die Cayce von früheren, weniger
wichtigen Meetings in New York her flüchtig kennt, ist
irgendwas Höheres in der Grafik-Design-Firma Heinzi &
Pfaff. Sie ist heute Morgen von Frankfurt eingeschwebt,
um H&P's ersten Entwurf für das neue Logo eines der
beiden weltgrößten Sportschuhhersteller zu präsentieren.
Bigend hat befunden, dass dieses Unternehmen einer
tiefgreifenden, aber noch nicht näher spezifizierten
Neu-Konzeptionierung seiner Markenidentität bedarf.
Der Absatz von Sportschuhen, in der Spiegelwelt »Trainers
« genannt, ist im Keller, und die Skater-Schuhe, die
eine Zeit lang ihre Nachfolge anzutreten schienen, gehen
auch nicht mehr so recht. Cayce selbst hat auf den Straßen
die Verbreitung von etwas ausgemacht, das sie im
stillen »Urban Survival«-Schuhwerk nennt, und wenn
sich dieser Prozess auch momentan noch auf der Ebene
des individuellen Repurposing abspielt, bezweifelt sie
doch nicht, dass der Identifizierung die Vermarktung auf
dem Fuße folgen wird.
Das neue Logo soll der Firma den Schub für das neue
Jahrhundert geben, und Cayce mit ihrer wertvollen Allergie
ist eingeflogen worden, um in persona das zu tun, was
ihre Spezialität ist. Das erscheint ihr seltsam oder zumindest
archaisch. Warum keine Telekonferenz? Vielleicht
steht ja so viel auf dem Spiel, dass Sicherheit großgeschrieben
wird, aber es ist schon eine ganze Weile her, dass sie
das letzte Mal geschäftlich aus New York wegmusste.
Wie auch immer, Dorotea scheint die Sache ernst zu
nehmen. Todernst. Vor ihr liegt, vielleicht eine Spur zu
sorgsam an der Tischkante ausgerichtet, ein edles graues
Pappkuvert mit dem schlichten und gleichzeitig verspielten
Logo von Heinzi & Pfaff. Der Verschluss - teuer und
altmodisch - besteht aus zwei kleinen braunen Papp-
knöpfen und einer Kordel.
Cayce löst den Blick von Dorotea und dem Umschlag,
guckt sich um und registriert, dass offenbar eine ganze
Menge Neunziger-Jahre-Pfund auf diesen im dritten Stock
gelegenen Konferenzraum verwandt wurden; die konvexen
Holzwände erinnern an die Erster-Klasse-Lounge eines
Transatlantik-Zeppelins. Sie bemerkt Schraubanker
im hellen Furnier der konvexen Wand, da, wo einst das
Logo der Vorgänger-Agentur hing, und Frühwarnzeichen
einer Renovierungsaktion: ein Gerüst im Flur, wo jemand
Leitungen untersucht hat, und neue, plastikumhüllte
Teppichbodenrollen, wie ein Stapel Baumstämme aus einem
Polyesterwald.
Möglich, dass Dorotea sie heute in Sachen Minimalismus
ausstechen wollte, befindet Cayce. Wenn ja, hat es
nicht geklappt. Doroteas Outfit will, bei aller scheinbaren
Schlichtheit, immer noch mehrerlei auf einmal sagen,
und das in mindestens drei Sprachen. Cayce hat ihre
Buzz-Rickson-Jacke über die Stuhllehne gehängt und ertappt
Dorotea beim Hingucken.
Die Rickson ist eine museumstaugliche Nachbildung
der U.S. Ma-1-Fliegerjacke, einer Ikone, da sie zu den
funktionalsten Kleidungsstücken gehört, die das vergangene
Jahrhundert hervorgebracht hat. Doroteas
schwelender Neid wird vermutlich durch die Erkenntnis
angefacht, dass Cayces MA-1 alle minimalistischen
Bestrebungen mühelos übertrumpft, denn die Rickson
wurde von japanischen Fanatikern kreiert, deren Passion
nichts, aber auch gar nichts mit Mode zu tun hatte.
So weiß Cayce beispielsweise, dass die charakteristisch
gekräuselten Ärmelnähte ursprünglich von Vorkriegsnähmaschinen
herrührten, die gegen das rutschige neue
Nylon rebellierten. Die Hersteller der Rickson haben dieses
Merkmal noch um eine Winzigkeit übertrieben und
hundert ähnlich minimale Dinge getan, so dass ihr Produkt
letztlich, auf sehr japanische Art, die Frucht eines
religiösen Akts ist. Die Rickson ist eine Imitation, die irgendwie
echter ist als das Original. Sie ist mit Abstand das
teuerste Kleidungsstück, das Cayce besitzt, und praktisch
unersetzbar.
»Stört Sie doch nicht?« Stonestreet zieht ein Päckchen
Zigaretten heraus, eine Sorte namens Silk Cut, die Cayce,
immer schon Nichtraucherin, für das britische Äquivalent
zur japanischen Mild Seven hält. Beides Pflichtmarken für Kreative.
»Nein«, sagt Cayce. »Nur zu.«
Auf dem Tisch steht tatsächlich ein Aschenbecher,
klein, rund und makellos weiß. In Amerika wäre das bei
einem Business-Meeting ein ähnlich archaisches Requisit
wie einer von diesen flachen, filigransilbernen Absinth-
löffeln. (Aber in London kann man garantiert auch auf
so was stoßen, obwohl es ihr selber noch nicht passiert
ist.) »Dorotea?« Er bietet ihr eine Zigarette an, Cayce
aber nicht. Dorotea lehnt dankend ab. Stonestreet steckt
sich ein Filterende zwischen die präzise-beweglichen Lippen
und zieht eine Schachtel Streichhölzer heraus, die
er wohl gestern Abend in irgendeinem Restaurant akquiriert
hat. Das Streichholzschächtelchen wirkt fast so
teuer wie Doroteas graues Kuvert. Er zündet sich die Zigarette
an. »Sorry, dass wir Sie dafür rüberholen mussten,
Cayce«, sagt er. Das abgebrannte Streichholz fällt mit
einem leisen keramischen Klick in den Aschenbecher.
»Ist ja mein Job, Bernard«, sagt Cayce.
»Sie sehen müde aus«, sagt Dorotea.
»Fünf Stunden Zeitunterschied.« Sie lächelt, aber nur
mit den Mundwinkeln.
»Haben Sie mal diese neuseeländischen Pillen probiert?
«, fragt Stonestreet. Cayce fällt wieder ein, dass
seine Frau, einst die Naive in einem Akte X-Abklatsch, inzwischen
eine offenbar recht erfolgreiche, irgendwie homöopathische
Kosmetikserie kreiert hat.
»Jacques Cousteau hat mal gesagt, der Jetlag sei seine
Lieblingsdroge.«
»Also?« Dorotea schaut ostentativ auf die H&P-Mappe.
Stonestreet bläst einen Rauchstrom aus. »Tja, vielleicht
sollten wir mal.«
Beide sehen Cayce an. Cayce sieht Dorotea in die Augen.
»Meinetwegen können wir.«
Dorotea wickelt die Kordel von dem zu Cayce hin gelegenen
Pappknopf. Lüpft die Klappe. Greift mit Daumen
und Zeigefinger in das Kuvert.
Stille.
»Tja, dann«, sagt Stonestreet und drückt seine Silk Cut aus. Dorotea zieht ein quadratisches Stück Zeichenkarton
aus dem Umschlag. Hält es an den oberen Ecken zwischen
ihren perfekt manikürten Zeigefingerspitzen und
präsentiert es Cayce.
Darauf ist ein Geschlängel in schwarzer Japantusche,
mit breitem Schreibpinsel hingeworfen. Herrn Heinzis
höchsteigenes Markenzeichen, wie Cayce weiß. Für sie
ähnelt das Ganze am ehesten einem jener psychedelischen
Spermien, wie sie der amerikanische Underground-
Zeichner Rick Griffin um 1967 zu Papier brachte. Ihr unerklärliches
inneres Radar sagt ihr sofort, dass es nicht
funktioniert. Sie weiß es, ohne zu wissen, warum.
Dennoch denkt sie kurz an die unzähligen asiatischen
Arbeiterinnen, die, wenn von ihr jetzt ein Ja käme, Jahre
ihres Lebens damit verbringen würden, eine endlose,
stete Flut von Schuhen mit diesem Symbol zu versehen.
Was würde dieses kregle Spermium wohl für sie bedeuten?
Würde es sich irgendwann in ihre Träume schlängeln?
Würden ihre Kinder es mit Kreide an Hauswände
malen, noch ehe sie begriffen hätten, dass es ein Markensymbol
war?
»Nein«, sagt sie.
Stonestreet seufzt. Nicht sonderlich tief. Dorotea steckt
den Entwurf in den Umschlag zurück, macht sich aber
nicht die Mühe, diesen wieder zu verschließen.
In Cayces Verträgen über solche Beratungsjobs ist
ausdrücklich festgelegt, dass von ihr keinerlei konkrete
Kritik oder kreativer Input zu erwarten ist. Sie fungiert
ledig lich als ein hochspezialisiertes menschliches Stück
Lackmuspapier.
Dorotea nimmt sich eine von Stonestreets Zigaretten,
zündet sie an und lässt das Streichholz neben den
Aschenbecher fallen. »Wie war der Winter in New York?«
»Kalt«, sagt Cayce.
»Und traurig? Ist es da immer noch so traurig?«
Cayce sagt nichts.
»Und Sie können sich hier zur Verfügung halten«,
fragt Dorotea, »während wir wieder ans Zeichenbrett zurückgehen?«
Cayce überlegt, ob Dorotea weiß, dass diese Wendung
im Volksmund »nochmal von vorne anfangen« heißt.
»Ich bin zwei Wochen hier«, sagt sie. »Ich hüte die Wohnung
von einem Freund.«
»Urlaub also.«
»Nicht, solange ich hier mitarbeite.«
Dorotea schweigt.
»Muss schwer sein«, sagt Stonestreet hinter ver-
schränkten, sommersprossigen Fingern, aus denen seine
roten Haare hervorlodern wie Flammen aus dem Dach
einer Kathedrale, »wenn Sie etwas nicht mögen. Emotional,
meine ich.«
Cayce sieht Dorotea aufstehen und - mit der Silk Cut
in der Hand - zu einem Sideboard gehen, um sich ein
Glas Perrier einzugießen.
»Mit mögen hat das nichts zu tun, Bernard«, sagt Cayce
und wendet sich wieder Stonestreet zu. »Es ist wie diese
Teppichbodenrolle dort drüben: blau oder nicht blau. Ob
blau oder nicht, das tangiert mich emotional nicht.«
Sie fühlt einen Schwall negativer Energie im Rücken,
als Dorotea an ihren Platz zurückkehrt.
Dorotea stellt ihr Wasserglas neben den H&P-Umschlag
und drückt ziemlich ungeschickt ihre Zigarette aus. »Ich
spreche heute Nachmittag mit Heinzi. Ich würde ihn ja
gleich anrufen, aber ich weiß, dass er in Stockholm ist, er
hat einen Termin bei Volvo.«
Die Luft erscheint Cayce jetzt total verqualmt; sie verspürt
einen Hustenreiz.
»Es eilt nicht, Dorotea«, sagt Stonestreet, und Cayce
hofft, dass das heißt, es eilt ganz fürchterlich.
Das Charlie Don't Surf ist voll, das Essen kalifornisch angehauchte
vietnamesische Küche mit mehr als nur der
üblichen Prise kolonialfranzösischer Cuisine. An den weißen
Wänden hängen riesige Schwarz-Weiß-Fotos, Großaufnahmen
von Zippo-Feuerzeugen aus Vietnamkriegszeiten,
alle mit primitiv eingravierten amerikanischen
Militärsymbolen, noch primitiveren sexuellen Motiven
und Schablonenschriftsprüchen. Abgesehen vom Inhalt
der Sprüche und dem pornographischen Touch erinnern
sie Cayce an Fotos von Grabsteinen auf Konföderierten
Friedhöfen, und das Vietnam-Thema lässt darauf schließen,
dass das Lokal schon eine ganze Weile existiert.
Nostalgische Erinnerungen an einen Krieg, den Amerika
verloren hat, wären heute wohl kein sehr wahrscheinliches
Thema für ein Restaurant.
HÄTTE ICH EINE FARM IN DER HÖLLE UND EIN HAUS
IN VIETNAM, ICH WÜRDE BEIDES VERKAUFEN
Die Feuerzeuge auf den Fotos sind so abgegriffen, verbeult
und von Schweiß zerfressen, dass Cayce womöglich
der erste Gast ist, der die Inschriften tatsächlich entziffert.
BEGRABT MICH MIT DEM GESICHT NACH UNTEN, DAMIT
DIE WELT MICH AM ARSCH LECKEN KANN
»Er heißt übrigens wirklich ›Heinzi‹ mit Nachnamen«,
sagt Stonestreet und gießt Cayce ein zweites Glas von
dem kalifornischen Cabernet ein, den sie wider besseres
Wissen trinkt. »Es klingt nur wie ein Spitzname. Seine
Vornamen sind allerdings längst über Bord gegangen.«
»Vor Ibiza«, tippt Cayce.
»Hm?«
»Sorry, Bernard, ich bin müde.«
»Diese Pillen. Aus Neuseeland.«
ES GIBT KEINE SCHWERKRAFT DIE WELT ZIEHT EINEN
RUNTER
»Geht schon wieder vorbei.« Einen Schluck Wein.
»Die ist schon eine Type, hm?«
»Dorotea?«
Stonestreet verdreht die Augen, die von einem eigenartigen
Braun sind, wie mit Mercurochrom versetzt, irgendwie
schillernd, mit Kupferoxid-Einsprengseln.
173. LUFTLANDEDIVISION
Sie erkundigt sich nach der amerikanischen Gattin.
Stonestreet berichtet brav vom Launch einer Gurkengesichtsmaske,
der Wegbereiterin eines neuen Produktsegments,
und landet bei den Finessen des Placements im
Copyright © 2004 der Übersetzung by J. G. Cotta'sche
Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Copyright © 2010 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag,
München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Printed in Germany 2010
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-453-52204-6
www.heyne-magische-bestseller.de
Wie betäubt liegt sie hier im Halbdunkel in Damiens
Schlafzimmer, unter einem topflappenartig silbrigen
Ding, das vom Hersteller garantiert nicht zum Zudecken
vorgesehen ist. Aber sie war zu müde, um sich eine Bettdecke
zu suchen. Die Laken zwischen ihrer Haut und der
schweren Hightech-Tagesdecke sind aus seidigem, weichem
Jacquardsatin und riechen schwach nach - Damien
vermutlich. Aber nicht schlecht. Eigentlich sogar ganz
angenehm; in dieser Situation ist jeder sinnliche Kontakt
zu einem Mitsäugetier willkommen.
Damien ist ein Freund.
Unsere Steckverbindungen sind nicht kompatibel,
würde er sagen.
Damien ist dreißig, Cayce zwei Jahre älter, aber er
hat ein sorgsam isoliertes Unreifemodul in sich, etwas
Scheues, Dickköpfiges, das den Geldgebern zuerst unheimlich
war. Beide sind sie hervorragend in ihrem Job,
und beide haben sie keine Ahnung, warum.
Wenn man Damien googelt, findet man einen Regisseur
von Musikvideos und Werbespots. Googelt man
Cayce, findet man »Coolhunter«, und wenn man genau
hinguckt, vielleicht auch noch ein paar Hinweise darauf,
dass sie so eine Art »Sensitive« ist, eine Wünschelrutengängerin
in der Welt des globalen Marketings.
Obwohl das in Wahrheit, sagt Damien, eher so was
wie eine Allergie ist, eine krankhafte und manchmal sehr
heftige Reaktion auf die Semiotik der Warenwelt.
Damien ist momentan in Russland; er hat sich vor
der Renovierung dorthin geflüchtet, angeblich, um einen
Dokumentarfilm zu drehen. Alles, was diese Räume hier
halbwegs bewohnt wirken lässt, weiß Cayce, ist dem Wirken
einer Produktionsassistentin zu verdanken.
Sie wälzt sich an die Bettkante, macht Schluss mit dieser
sinnlosen Schlafparodie. Grabbelt nach ihren Kleidern.
Ein schwarzes Fruit-of-the-Loom-T-Shirt, Knabengröße,
gründlich geschrumpft, ein dünner grauer Pullover
mit V-Ausschnitt, im halben Dutzend von einem Lieferanten
für Ostküsten-Privatschulen bezogen, und eine
neue schwarze Oversize-501, sorgsam von jedem Markenlogo
befreit. An dieser hier sind sogar die Knöpfe abgeschliffen
worden, von einem verblüfften koreanischen
Schlüsseldienst-Typen im Village, vor einer Woche.
Der Schalter der italienischen Stehlampe fühlt sich
fremd an: ein anderer Knipsmechanismus für eine andere
Voltzahl, exotischen britischen Strom.
Sie steht jetzt, steigt in ihre Jeans, richtet sich fröstelnd
wieder auf.
Spiegelwelt. Die Elektrostecker sind riesig, dreipolig,
für eine Sorte Strom, mit der in Amerika nur elektrische
Stühle betrieben werden. Die Autos sind innen rechtslinks-
verkehrt; die Telefonhörer haben ein anderes Gewicht,
einen anderen Schwerpunkt; die Taschenbuch-
Cover sehen aus wie australisches Geld.
Halogengeblendet, mit schmerzhaft kontrahierten Pupillen,
blinzelt sie in einen richtigen Spiegel, der an einer
grauen Wand lehnt und darauf wartet, aufgehängt zu
werden. Erblickt darin eine unkoordinierte schwarzbeinige
Marionette, deren strubbliges Haar wie eine Klo-
bürste aussieht. Sie schneidet ihr eine Fratze und denkt
aus irgendeinem Grund an einen Ex-Freund, der darauf
bestand, sie mit Helmut Newtons Aktporträt von Jane
Birkin zu vergleichen.
In der Küche lässt sie Wasser durch einen deutschen
Filter in einen italienischen Wasserkocher laufen. Müht
sich mit Schaltern ab, einer am Kocher, einer am Stecker,
einer an der Steckdose. Inspiziert, während das Wasser
zum Sieden kommt, geistesabwesend die kanariengelben
Laminatschränke. Beutel mit irgendeinem importierten
kalifornischen Tee-Ersatz in einen hohen weißen Becher.
Kochendes Wasser drauf.
Im Hauptraum findet sie Damiens treuen Cube eingeschaltet,
aber auf Sleepmodus; der Sensor blinkt leise vor
sich hin. Hier zeigt sich Damiens gespaltenes Verhältnis
zum Thema Design: Innendekorateure lässt er nur über
die Schwelle, wenn sie quasi versprechen, nicht das zu
tun, was ihr Job ist, aber sein Mac ist ihm lieb und teuer,
weil man ihn auf den Kopf stellen und mittels eines kleinen
Aluzaubergriffs die Innereien herausnehmen kann.
Wie das Geschlechtsteil der Robotergirls in seinem Video,
geht ihr jetzt auf.
Sie setzt sich in seinen hochlehnigen Bürosessel und
drückt die Taste der transparenten Maus. Infrarotflackern
auf dem hellen Holz der langen Schreibtischplatte. Der
Browser kommt hoch. Sie gibt Fetish:Footage:Forum ein,
was Damien mit seiner Virenangst niemals bookmarken
würde.
Die Startseite baut sich auf, so vertraut wie das Wohnzimmer
eines Freundes. Ein Frame-Grab aus #48 dient
als Hintergrund, düster und fast monochrom, keine Personen.
Das ist eine der Sequenzen, die Vergleiche mit Tarkowski
provozieren. Von Tarkowski kennt sie eigentlich
nur ein paar Stills, obwohl sie einmal bei Stalker im Kino
eingeschlafen ist; eine Endloseinstellung, Pfütze auf kaputtem
Mosaikboden, senkrecht von oben in Großaufnahme.
Aber sie gehört nicht zu denen, die sich viel davon
versprechen, die vermeintlichen Einflüsse auf den
Filmemacher zu analysieren. Der Clip-Kult unterteilt
sich in jede Menge Untersekten, die alle möglichen Ein-
flüsse erkannt haben wollen: Truffaut, Peckinpah ... Die
Peckinpah-Fraktion, deren Theorie wohl die abwegigste
ist, wartet immer noch darauf, dass geballert wird.
Sie geht jetzt ins eigentliche Forum, überfliegt automatisch
die Titel der Postings und die Namen der Absender
in den neueren Threads, hält Ausschau nach Freunden,
Feinden, Neuigkeiten. Eins ist allerdings auf den ersten
Blick klar: dass kein neuer Clip aufgetaucht ist. Der letzte
war dieser lange Strandschwenk, wobei sie allerdings
nicht die Auffassung teilt, dass es sich dabei um Cannes
im Winter handelt. Auch die französischen Clipheads, die
stundenlang ähnliche Szenerien gefilmt haben, konnten
kein überzeugendes Pendant liefern.
Außerdem sieht sie, dass ihr Freund Parkaboy wieder
in Chicago ist, zurück von seinem Amtrak-Trip nach Kalifornien,
doch als sie sein Posting öffnet, stellt sie fest, dass
er buchstäblich nur Hallo sagt.
Sie klickt auf Beantworten, gibt als Usernamen CayceP
ein. Hi, Parkaboy. nt.
Als sie auf die Forumseite zurückgeht, ist ihr Posting da.
Das ist so eine Art transportables Zuhause. Das Forum
ist inzwischen einer der konstantesten Orte in ihrem Leben,
wie ein vertrautes Café irgendwie jenseits von Geographie
und Zeitzonen.
Es gibt etwa zwanzig Leute, die regelmäßig im F:F:F
posten, und eine unbekannte, aber wesentlich größere
Zahl von Mitlesern. Im Moment sind drei Leute im Chat,
aber wer das ist, weiß man erst, wenn man selbst drin
ist, und im Chatroom fühlt sie sich nicht so wohl. Es ist
komisch dort, selbst mit Freunden, als ob man in einem
stockdunklen Keller sitzt und über eine Entfernung von
fünf Metern miteinander redet. Das hektische Tempo, die
Kürze der Mitteilungen im Thread und das Gefühl, dass
alle durcheinanderquasseln, das schreckt sie ab.
Der Cube seufzt leise und macht subliminale Festplattengeräusche,
wie ein Oldtimer-Sportwagen, der auf einem
fernen Freeway dahinschnurrt. Sie nippt an ihrem
Tee-Ersatz, aber er ist noch zu heiß. Diffuses graues Licht
dringt jetzt in den Raum, enthüllt Damiena, die die Renovierung
überdauert haben.
An einer Wand lehnen demontierte Roboter, zwei davon
nur Torsi mit Köpfen, eindeutig weibliche Crashtest-
Dummies. Das sind Requisiten aus einem von Damiens
Videos, und sie fragt sich, warum sie die beiden selbst in
dieser Stimmung so tröstlich findet. Wahrscheinlich, weil
sie einfach schön sind, vermutet sie. Optimistische Darstellungen
des Weiblichen. Kein Sci-Fi-Kitsch, nicht bei
Damien. Traumwesen im Morgenzwielicht, die kleinen
Brüste schimmern, weißes Plastik mit dem sanften Glanz
von altem Marmor. Und doch privater Fetischimus; sie
weiß, dass sie nach einer Ganzkörperabformung seiner
vorvorletzten Freundin gegossen wurden.
Hotmail zeigt vier Mails an, von denen sie keine aufmachen
mag. Einmal ihre Mutter, dreimal Spam. Der Penisverlängerer
ist immer noch hinter ihr her, gleich zweimal,
außerdem soll sie ihren Brustumfang dramatisch
vergrößern.
Sie löscht den Spam. Trinkt ihren Tee-Ersatz. Sieht zu,
wie das Grau tageslichtähnlicher wird.
Schließlich geht sie in Damiens frisch renoviertes Bad.
Es kommt ihr vor, als ginge sie sich hier abduschen, um
eine unter sterilen Bedingungen aufbewahrte NASA-Gesteinsprobe
zu besichtigen, oder als träte sie gerade aus einem
Tschernobyl-Szenario heraus, um sich von gummiverpackten
Sowjettechnikern aus dem Bleianzug schälen
und anschließend mit langstieligen Bürsten abschrubben
zu lassen. Die Duscharmaturen sind mit den Ellbogen zu
bedienen, damit die geschrubbten Hände steril bleiben.
Sie zieht Pullover und T-Shirt aus und benutzt ganz
einfach die Hände, um die Dusche anzustellen und die
Temperatur zu regulieren.
Vier Stunden später liegt sie in einem Edelhinterhof namens
Neal's Yard im Pilates-Studio auf dem Reformer,
der Wagen von Blue Ant wartet draußen auf der Straße.
Der Reformer ist ein langes, niedriges, diffus bedrohlich
und weimardeutsch aussehendes Möbel, in dem sich
Zugfedern verbergen. Sie liegt auf dem Rücken, die Füße
auf der Stange am Fußende in V-Position. Die gepolsterte
Liegefläche fährt auf den Winkeleisenschienen des Rahmens
vor und zurück, wobei die Federn leise schnarren.
Jeweils zehnmal, mit den Zehen, mit den Fersen ... In
New York macht sie das in einem Fitness-Center, wo viele
Tanzprofis hingehen, aber hier in Neal's Yard ist sie heute
morgen anscheinend die einzige Kundin. Der Laden hat
wohl erst kürzlich aufgemacht, und vielleicht ist so was
hier ja auch noch nicht so populär. In der Spiegelwelt haben
sie es immer noch mit archaischen Drogen, denkt sie:
Die Leute rauchen und trinken, als ob das gesund wäre,
und die Begeisterung für Kokain scheint mehr oder minder
ungebrochen. Heroin, hat sie gelesen, ist hier billiger
denn je, weil der Markt noch von der ersten Dumping-
Welle mit afghanischem Opium überschwemmt ist.
Jetzt ist sie mit den Zehen fertig und geht zu den Fersenübungen
über, reckt den Hals, um sich zu vergewissern,
dass ihre Fußhaltung korrekt ist. Pilates gefällt ihr,
weil es nicht so meditativ ist, wie sie sich Yoga vorstellt.
Hier muss man hingucken und aufpassen.
Die Konzentration hilft gegen die Unruhe, die sie jetzt
verspürt, dieses Vorfeld-Flattern, das sie schon eine ganze
Weile nicht mehr gehabt hat.
Sie ist hier, weil Blue Ant sie dafür bezahlt. Vergleichsweise
winzig, was den festen Mitarbeiterstamm angeht,
global präsent, eher postgeographisch als multinational,
hat sich diese Agentur von Anfang an als schnelle, hocheffiziente
Lebensform in einem Werbebiotop voller schwerfälliger
Herbivoren profiliert. Wenn nicht gar als nichtkohlenstoffbasierte
Lebensform, entsprungen der glatten,
ironischen Stirn ihres Gründers Hubertus Bigend, der offiziell
Belgier ist und aussieht wie Tom Cruise auf einer Diät
aus Jungfrauenblut und Trüffelpralinen.
Das Einzige, was Cayce an Bigend gefällt, ist, dass er
anscheinend gar nicht auf die Idee kommt, sein Name
könnte jemals auf irgendwen lächerlich wirken. Sonst
fände sie ihn noch unerträglicher.
Diese Aversion ist persönlicher, wenn auch vermittelter
Natur.
Noch immer bei den Fersenübungen, guckt sie auf ihre
Armbanduhr, den koreanischen Klon einer klassischen
Casio G-Shock, dessen Plastikgehäuse mit einem Fetzchen
japanischem Mikroschleifpapier logofrei geschmirgelt
wurde. In fünfzehn Minuten soll sie im Blue-Ant-
Büro in Soho sein.
Sie drapiert zwei schlaffe grüne Schaumstoffpolster
über die Fußstange, bringt sorgsam die Füße in Position,
zieht die Fersen an, als würde sie unsichtbare Stilettos
tragen, und beginnt mit ihren zehn Greifübungen.
2 Das Luder
Die CPUs für das Meeting, die sich jetzt in der Schaufensterscheibe
eines Mod-Ladens in Soho spiegeln, sind: ein
frisches Fruit-of-the-Loom-T-Shirt, ihre schwarze BuzzRickson-
MA-1, ein anonymer schwarzer Rock aus einem
Secondhand-Laden in Tulsa, die schwarze Leggings, die
sie zum Pilates anhatte, schwarze Harajuku-Schulmädchenschuhe.
Ihr Handtaschenäquivalent ist eine Dokumentenmappe
aus schwarz beschichteter DDR-Pappe, von
eBay - wenn nicht original Stasi, dann doch zumindest
auf der gleichen Linie.
Sie sieht ihre grauen Augen, blass in der Scheibe, dahinter
Ben-Sherman-Hemden und Fishtail-Parkas, Manschettenknöpfe
mit dem runden R.A.F.-Emblem, das in
einem früheren Krieg die Tragflächen der Spitfires kennzeichnete.
CPUs. Cayce-Pollard-Units. So nennt Damien die Sachen,
die sie trägt. CPUs sind schwarz, weiß oder grau
und scheinen im Idealfall ohne menschliches Zutun in
diese Welt gelangt zu sein. Die Elementarform von Basics.
Was die Leute für konsequenten Minimalismus halten,
rührt daher, dass Cayce zu lange den Reaktorkernen der
Mode ausgesetzt war. Das hat das Spektrum dessen, was
sie tragen kann und will, gnadenlos eingeschränkt. Sie
ist buchstäblich allergisch gegen Mode. Sie verträgt nur
Sachen, die in jedem beliebigen Jahr zwischen 1945 und
2000 unkommentiert durchgegangen wären. Sie ist eine
designfreie Zone, eine Ein-Frau-Verweigerungsbewegung,
deren spartanische Strenge gelegentlich ihren eigenen
Kult hervorzutreiben droht.
Um sie herum das geschäftige Treiben von Soho, ein
Freitagvormittag, der auf die Lunchzeit zusteuert, auf alkoholbegleitete
Mahlzeiten und kontrolliertes Tischgeplauder
in all diesen Restaurants. In einem davon, dem
Charlie Don't Surf, werden sie das obligatorische Nachmeetingsmittagessen
zu sich nehmen. Aber sie spürt, wie
sich vor ihr das nächste Jetlag-Tal auftut, und ihr ist klar,
das ist die Welle, die sie jetzt reiten muss: der Serotoninmangel,
die Seelenverspätung.
Sie guckt auf die Uhr und steuert auf das Office von
Blue Ant zu, in dem bis vor kurzem noch eine ältere,
konventionellere Werbeagentur residierte.
Der Himmel ist eine leuchtendgraue Schüssel, von aufgedröselten
Kondensstreifen durchzogen, und als sie auf
den Knopf drückt, um Blue Ant ihre Ankunft zu vermelden,
tut es ihr leid, dass sie ihre Sonnenbrille nicht mit
hat.
Sie sitzt jetzt Bernard Stonestreet gegenüber, den sie aus
der New Yorker Blue-Ant-Filiale kennt. Er ist blass und
sommersprossig wie eh und je; sein karottenrotes Haar
steht empor wie ein Flammenornament von Aubrey
Beards ley, was von einer unglücklichen Schlafstellung
herrühren könnte, wohl eher aber das Werk eines exklusiven
Friseurs ist. Er trägt etwas Schwarzes, das Cayce als
einen Anzug von Paul Smith identifiziert, genauer gesagt
als Jackett 118 und Hose 11T. Sein Londoner Stil sind offenbar
Klamotten im Wert von ein paar tausend Pfund,
die allesamt so aussehen, als wären sie nie getragen worden,
bevor er letzte Nacht darin geschlafen hat. In New
York hingegen sieht er bevorzugt so aus, als ob er von
einer ganzen Horde Trendexperten in die Mangel genommen
worden wäre. Unterschiedliche kulturelle Parameter.
Zu seiner Linken sitzt Dorotea Benedetti mit streng zurückgestriegeltem
Haar und einer nerdig-konzentrierten
Aura, die wohl geschäftlichen Ernst und Ärger zugleich
signalisiert. Dorotea, die Cayce von früheren, weniger
wichtigen Meetings in New York her flüchtig kennt, ist
irgendwas Höheres in der Grafik-Design-Firma Heinzi &
Pfaff. Sie ist heute Morgen von Frankfurt eingeschwebt,
um H&P's ersten Entwurf für das neue Logo eines der
beiden weltgrößten Sportschuhhersteller zu präsentieren.
Bigend hat befunden, dass dieses Unternehmen einer
tiefgreifenden, aber noch nicht näher spezifizierten
Neu-Konzeptionierung seiner Markenidentität bedarf.
Der Absatz von Sportschuhen, in der Spiegelwelt »Trainers
« genannt, ist im Keller, und die Skater-Schuhe, die
eine Zeit lang ihre Nachfolge anzutreten schienen, gehen
auch nicht mehr so recht. Cayce selbst hat auf den Straßen
die Verbreitung von etwas ausgemacht, das sie im
stillen »Urban Survival«-Schuhwerk nennt, und wenn
sich dieser Prozess auch momentan noch auf der Ebene
des individuellen Repurposing abspielt, bezweifelt sie
doch nicht, dass der Identifizierung die Vermarktung auf
dem Fuße folgen wird.
Das neue Logo soll der Firma den Schub für das neue
Jahrhundert geben, und Cayce mit ihrer wertvollen Allergie
ist eingeflogen worden, um in persona das zu tun, was
ihre Spezialität ist. Das erscheint ihr seltsam oder zumindest
archaisch. Warum keine Telekonferenz? Vielleicht
steht ja so viel auf dem Spiel, dass Sicherheit großgeschrieben
wird, aber es ist schon eine ganze Weile her, dass sie
das letzte Mal geschäftlich aus New York wegmusste.
Wie auch immer, Dorotea scheint die Sache ernst zu
nehmen. Todernst. Vor ihr liegt, vielleicht eine Spur zu
sorgsam an der Tischkante ausgerichtet, ein edles graues
Pappkuvert mit dem schlichten und gleichzeitig verspielten
Logo von Heinzi & Pfaff. Der Verschluss - teuer und
altmodisch - besteht aus zwei kleinen braunen Papp-
knöpfen und einer Kordel.
Cayce löst den Blick von Dorotea und dem Umschlag,
guckt sich um und registriert, dass offenbar eine ganze
Menge Neunziger-Jahre-Pfund auf diesen im dritten Stock
gelegenen Konferenzraum verwandt wurden; die konvexen
Holzwände erinnern an die Erster-Klasse-Lounge eines
Transatlantik-Zeppelins. Sie bemerkt Schraubanker
im hellen Furnier der konvexen Wand, da, wo einst das
Logo der Vorgänger-Agentur hing, und Frühwarnzeichen
einer Renovierungsaktion: ein Gerüst im Flur, wo jemand
Leitungen untersucht hat, und neue, plastikumhüllte
Teppichbodenrollen, wie ein Stapel Baumstämme aus einem
Polyesterwald.
Möglich, dass Dorotea sie heute in Sachen Minimalismus
ausstechen wollte, befindet Cayce. Wenn ja, hat es
nicht geklappt. Doroteas Outfit will, bei aller scheinbaren
Schlichtheit, immer noch mehrerlei auf einmal sagen,
und das in mindestens drei Sprachen. Cayce hat ihre
Buzz-Rickson-Jacke über die Stuhllehne gehängt und ertappt
Dorotea beim Hingucken.
Die Rickson ist eine museumstaugliche Nachbildung
der U.S. Ma-1-Fliegerjacke, einer Ikone, da sie zu den
funktionalsten Kleidungsstücken gehört, die das vergangene
Jahrhundert hervorgebracht hat. Doroteas
schwelender Neid wird vermutlich durch die Erkenntnis
angefacht, dass Cayces MA-1 alle minimalistischen
Bestrebungen mühelos übertrumpft, denn die Rickson
wurde von japanischen Fanatikern kreiert, deren Passion
nichts, aber auch gar nichts mit Mode zu tun hatte.
So weiß Cayce beispielsweise, dass die charakteristisch
gekräuselten Ärmelnähte ursprünglich von Vorkriegsnähmaschinen
herrührten, die gegen das rutschige neue
Nylon rebellierten. Die Hersteller der Rickson haben dieses
Merkmal noch um eine Winzigkeit übertrieben und
hundert ähnlich minimale Dinge getan, so dass ihr Produkt
letztlich, auf sehr japanische Art, die Frucht eines
religiösen Akts ist. Die Rickson ist eine Imitation, die irgendwie
echter ist als das Original. Sie ist mit Abstand das
teuerste Kleidungsstück, das Cayce besitzt, und praktisch
unersetzbar.
»Stört Sie doch nicht?« Stonestreet zieht ein Päckchen
Zigaretten heraus, eine Sorte namens Silk Cut, die Cayce,
immer schon Nichtraucherin, für das britische Äquivalent
zur japanischen Mild Seven hält. Beides Pflichtmarken für Kreative.
»Nein«, sagt Cayce. »Nur zu.«
Auf dem Tisch steht tatsächlich ein Aschenbecher,
klein, rund und makellos weiß. In Amerika wäre das bei
einem Business-Meeting ein ähnlich archaisches Requisit
wie einer von diesen flachen, filigransilbernen Absinth-
löffeln. (Aber in London kann man garantiert auch auf
so was stoßen, obwohl es ihr selber noch nicht passiert
ist.) »Dorotea?« Er bietet ihr eine Zigarette an, Cayce
aber nicht. Dorotea lehnt dankend ab. Stonestreet steckt
sich ein Filterende zwischen die präzise-beweglichen Lippen
und zieht eine Schachtel Streichhölzer heraus, die
er wohl gestern Abend in irgendeinem Restaurant akquiriert
hat. Das Streichholzschächtelchen wirkt fast so
teuer wie Doroteas graues Kuvert. Er zündet sich die Zigarette
an. »Sorry, dass wir Sie dafür rüberholen mussten,
Cayce«, sagt er. Das abgebrannte Streichholz fällt mit
einem leisen keramischen Klick in den Aschenbecher.
»Ist ja mein Job, Bernard«, sagt Cayce.
»Sie sehen müde aus«, sagt Dorotea.
»Fünf Stunden Zeitunterschied.« Sie lächelt, aber nur
mit den Mundwinkeln.
»Haben Sie mal diese neuseeländischen Pillen probiert?
«, fragt Stonestreet. Cayce fällt wieder ein, dass
seine Frau, einst die Naive in einem Akte X-Abklatsch, inzwischen
eine offenbar recht erfolgreiche, irgendwie homöopathische
Kosmetikserie kreiert hat.
»Jacques Cousteau hat mal gesagt, der Jetlag sei seine
Lieblingsdroge.«
»Also?« Dorotea schaut ostentativ auf die H&P-Mappe.
Stonestreet bläst einen Rauchstrom aus. »Tja, vielleicht
sollten wir mal.«
Beide sehen Cayce an. Cayce sieht Dorotea in die Augen.
»Meinetwegen können wir.«
Dorotea wickelt die Kordel von dem zu Cayce hin gelegenen
Pappknopf. Lüpft die Klappe. Greift mit Daumen
und Zeigefinger in das Kuvert.
Stille.
»Tja, dann«, sagt Stonestreet und drückt seine Silk Cut aus. Dorotea zieht ein quadratisches Stück Zeichenkarton
aus dem Umschlag. Hält es an den oberen Ecken zwischen
ihren perfekt manikürten Zeigefingerspitzen und
präsentiert es Cayce.
Darauf ist ein Geschlängel in schwarzer Japantusche,
mit breitem Schreibpinsel hingeworfen. Herrn Heinzis
höchsteigenes Markenzeichen, wie Cayce weiß. Für sie
ähnelt das Ganze am ehesten einem jener psychedelischen
Spermien, wie sie der amerikanische Underground-
Zeichner Rick Griffin um 1967 zu Papier brachte. Ihr unerklärliches
inneres Radar sagt ihr sofort, dass es nicht
funktioniert. Sie weiß es, ohne zu wissen, warum.
Dennoch denkt sie kurz an die unzähligen asiatischen
Arbeiterinnen, die, wenn von ihr jetzt ein Ja käme, Jahre
ihres Lebens damit verbringen würden, eine endlose,
stete Flut von Schuhen mit diesem Symbol zu versehen.
Was würde dieses kregle Spermium wohl für sie bedeuten?
Würde es sich irgendwann in ihre Träume schlängeln?
Würden ihre Kinder es mit Kreide an Hauswände
malen, noch ehe sie begriffen hätten, dass es ein Markensymbol
war?
»Nein«, sagt sie.
Stonestreet seufzt. Nicht sonderlich tief. Dorotea steckt
den Entwurf in den Umschlag zurück, macht sich aber
nicht die Mühe, diesen wieder zu verschließen.
In Cayces Verträgen über solche Beratungsjobs ist
ausdrücklich festgelegt, dass von ihr keinerlei konkrete
Kritik oder kreativer Input zu erwarten ist. Sie fungiert
ledig lich als ein hochspezialisiertes menschliches Stück
Lackmuspapier.
Dorotea nimmt sich eine von Stonestreets Zigaretten,
zündet sie an und lässt das Streichholz neben den
Aschenbecher fallen. »Wie war der Winter in New York?«
»Kalt«, sagt Cayce.
»Und traurig? Ist es da immer noch so traurig?«
Cayce sagt nichts.
»Und Sie können sich hier zur Verfügung halten«,
fragt Dorotea, »während wir wieder ans Zeichenbrett zurückgehen?«
Cayce überlegt, ob Dorotea weiß, dass diese Wendung
im Volksmund »nochmal von vorne anfangen« heißt.
»Ich bin zwei Wochen hier«, sagt sie. »Ich hüte die Wohnung
von einem Freund.«
»Urlaub also.«
»Nicht, solange ich hier mitarbeite.«
Dorotea schweigt.
»Muss schwer sein«, sagt Stonestreet hinter ver-
schränkten, sommersprossigen Fingern, aus denen seine
roten Haare hervorlodern wie Flammen aus dem Dach
einer Kathedrale, »wenn Sie etwas nicht mögen. Emotional,
meine ich.«
Cayce sieht Dorotea aufstehen und - mit der Silk Cut
in der Hand - zu einem Sideboard gehen, um sich ein
Glas Perrier einzugießen.
»Mit mögen hat das nichts zu tun, Bernard«, sagt Cayce
und wendet sich wieder Stonestreet zu. »Es ist wie diese
Teppichbodenrolle dort drüben: blau oder nicht blau. Ob
blau oder nicht, das tangiert mich emotional nicht.«
Sie fühlt einen Schwall negativer Energie im Rücken,
als Dorotea an ihren Platz zurückkehrt.
Dorotea stellt ihr Wasserglas neben den H&P-Umschlag
und drückt ziemlich ungeschickt ihre Zigarette aus. »Ich
spreche heute Nachmittag mit Heinzi. Ich würde ihn ja
gleich anrufen, aber ich weiß, dass er in Stockholm ist, er
hat einen Termin bei Volvo.«
Die Luft erscheint Cayce jetzt total verqualmt; sie verspürt
einen Hustenreiz.
»Es eilt nicht, Dorotea«, sagt Stonestreet, und Cayce
hofft, dass das heißt, es eilt ganz fürchterlich.
Das Charlie Don't Surf ist voll, das Essen kalifornisch angehauchte
vietnamesische Küche mit mehr als nur der
üblichen Prise kolonialfranzösischer Cuisine. An den weißen
Wänden hängen riesige Schwarz-Weiß-Fotos, Großaufnahmen
von Zippo-Feuerzeugen aus Vietnamkriegszeiten,
alle mit primitiv eingravierten amerikanischen
Militärsymbolen, noch primitiveren sexuellen Motiven
und Schablonenschriftsprüchen. Abgesehen vom Inhalt
der Sprüche und dem pornographischen Touch erinnern
sie Cayce an Fotos von Grabsteinen auf Konföderierten
Friedhöfen, und das Vietnam-Thema lässt darauf schließen,
dass das Lokal schon eine ganze Weile existiert.
Nostalgische Erinnerungen an einen Krieg, den Amerika
verloren hat, wären heute wohl kein sehr wahrscheinliches
Thema für ein Restaurant.
HÄTTE ICH EINE FARM IN DER HÖLLE UND EIN HAUS
IN VIETNAM, ICH WÜRDE BEIDES VERKAUFEN
Die Feuerzeuge auf den Fotos sind so abgegriffen, verbeult
und von Schweiß zerfressen, dass Cayce womöglich
der erste Gast ist, der die Inschriften tatsächlich entziffert.
BEGRABT MICH MIT DEM GESICHT NACH UNTEN, DAMIT
DIE WELT MICH AM ARSCH LECKEN KANN
»Er heißt übrigens wirklich ›Heinzi‹ mit Nachnamen«,
sagt Stonestreet und gießt Cayce ein zweites Glas von
dem kalifornischen Cabernet ein, den sie wider besseres
Wissen trinkt. »Es klingt nur wie ein Spitzname. Seine
Vornamen sind allerdings längst über Bord gegangen.«
»Vor Ibiza«, tippt Cayce.
»Hm?«
»Sorry, Bernard, ich bin müde.«
»Diese Pillen. Aus Neuseeland.«
ES GIBT KEINE SCHWERKRAFT DIE WELT ZIEHT EINEN
RUNTER
»Geht schon wieder vorbei.« Einen Schluck Wein.
»Die ist schon eine Type, hm?«
»Dorotea?«
Stonestreet verdreht die Augen, die von einem eigenartigen
Braun sind, wie mit Mercurochrom versetzt, irgendwie
schillernd, mit Kupferoxid-Einsprengseln.
173. LUFTLANDEDIVISION
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Stonestreet berichtet brav vom Launch einer Gurkengesichtsmaske,
der Wegbereiterin eines neuen Produktsegments,
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Copyright © 2004 der Übersetzung by J. G. Cotta'sche
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München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
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... weniger
Autoren-Porträt von William Gibson
William Gibson, geb. 1948 in South Carolina geboren. Er verliert früh seinen Vater und lebt bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr mit seiner Mutter in einer 2000-Seelen-Gemeinde in Virginia. Um seiner Vietnam-Einberufung zu entgehen, zieht er 1967 nach Kanada. Während seines Studiums der Englischen Literatur beginnt William Gibson Science-Fiction-Geschichten zu schreiben. William Gibson lebt mit Frau und Kind in Vancouver (Kanada).Christa Schuenke, geboren 1948 in Weimar, studierte Englisch und Französisch in Leipzig und absolvierte ein Philosophiestudium in Berlin. Sie ist seit 1978 als literarische Übersetzerin aus dem Englischen und Amerikanischen aktiv. Einen Namen machte sie sich vor allem mit Klassikerübertragungen, darunter William Shakespeare, John Donne, Herman Melville, John Keats oder Edgar Allan Poe. Dafür wurde sie u.a. mit dem Christoph-Martin-Wieland-Preis und dem Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW ausgezeichnet. Christa Schuenke lebt in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: William Gibson
- 2010, 459 Seiten, Maße: 12,1 x 19,2 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Holfelder-von der Tann, Cornelia; Schuenke, Christa
- Übersetzer: Cornelia Holfelder-Von Der Tann, Christa Schuenke
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453522044
- ISBN-13: 9783453522046
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