Mysterien
Ein starker Roman mit vielen autobiographischen Elementen
In der kleinen norwegischen Hafenstadt war Johan Nilsen Nagel vom ersten Tage an eine exotische Figur. Er war gekommen und geblieben, niemand wußte warum. Er trug knallgelbe Anzüge, schickte...
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Ein starker Roman mit vielen autobiographischen Elementen
In der kleinen norwegischen Hafenstadt war Johan Nilsen Nagel vom ersten Tage an eine exotische Figur. Er war gekommen und geblieben, niemand wußte warum. Er trug knallgelbe Anzüge, schickte sich selbst Telegramme und hatte in seinem Hotelzimmer einen geheimnisvollen Geigenkasten, der dann doch nur schmutzige Wäsche enthielt. Aber nicht nur durch solche Äußerlichkeiten verblüfft und irritiert er die Einheimischen.
Dieser »Ausländer des Daseins«, wie er sich apostrophiert, verteidigt leidenschaftlich einen lahmen alten Mann, den er nie zuvor gesehen hat, betätigt sich zum Schein als Detektiv, spricht voller Engagement über Literatur, ist ein charmanter Unterhalter und setzt sich mit nervöser Souveränität über die Regeln des Kleinstadtlebens hinweg. Er wirbt um eine nicht mehr junge Frau und verliebt sich gleichzeitig in die schöne Tochter des Pfarrers. Und beide weisen ihn ab. Seine Handlungen, die undurchdringlich und geheimnisvoll sind, erwachsen aus dem mystischen Gefühl des Sicheinswissens mit der Natur.
Man hat diesen Roman, der viele autobiographische Elemente enthält, einen »Schneesturm von unbändiger Kraft« genannt.
Mysterien von Knut Hamsun
LESEPROBE
LetztesJahr, mitten im Sommer, war eine kleine norwegische Küstenstadt Schauplatzeiniger höchst außergewöhnlicher Begebenheiten. Es tauchte ein Fremder in derStadt auf, ein gewisser Nagel, ein merkwürdiger und eigentümlicher Scharlatan,der eine Menge auffälliger Dinge tat und ebenso plötzlich wieder verschwand,wie er gekommen war. Dieser Mann wurde gar von einer jungen und geheimnisvollenDame besucht, die in Gott weiß welcher Angelegenheit kam und kaum wagte, mehrals nur einige Stunden im Ort zu bleiben, und wieder abreiste. Doch all diesist nicht der Anfang
DerAnfang ist der, daß sich, als das Dampfschiff gegen sechs Uhr abends am Kaianlegte, zwei, drei Reisende an Deck zeigten, darunter einer in einer abstechendengelben Kluft und einer breiten Samtmütze. Dies war der Abend des 12. Juni; dennan diesem Tag wurde an vielen Stellen im Ort anläßlich Fräulein KiellandsVerlobung, die eben am 12.Juni bekanntgegeben wurde, geflaggt. Der Bursche vomHotel Central ging sofort an Bord, und der Mann in der gelben Kluft übergab ihmdann sein Gepäck; gleichzeitig gab er sein Billett bei einem der Steuerleuteab; doch danach begann er, statt an Land zu gehen, auf dem Deck auf und ab zuschreiten. Er schien stark bewegt zu sein. Als das Dampfschiff zum dritten Malläutete, hatte er noch nicht einmal seine Rechnung für den Verzehr beglichen.
Währender damit beschäftigt war, blieb er plötzlich stehen und sah, daß das Schiffbereits ablegte. Er stutzte für einen Moment, dann winkte er zum Hotelburschenan Land hinüber und sagte zu ihm über die Reling hinweg:
Gut,nehmen Sie trotzdem mein Gepäck mit, und machen Sie für mich ein Zimmer fertig.
Damitnahm ihn das Schiff weiter den Fjord hinaus. Dieser Mann war Johan Nilsen Nagel.
Der Hotelbursche zog dessen Gepäck auf seinem Karren mit; es bestand nuraus zwei kleinen Koffern und einem Pelz - ein Pelz, obwohl es doch mitten imSommer war - sowie aus einem Handkoffer und einem Geigenkasten. Alles war ohneEtiketten.
Tagsdarauf in der Mittagszeit kam Johan Nagel beim Hotel vorgefahren, zweispännigauf dem Landweg kam er gefahren. Er hätte ebensogut, ja weit besser, den Seewegnehmen können, und trotzdem kam er vorgefahren. Er hatte zusätzliches Gepäckdabei: auf dem Vordersitz stand noch ein Koffer, und neben diesem lagen eineReisetasche, ein Mantel und ein Plaidgurt, der einige Dinge enthielt. Auf demPlaidgurt war mit Perlen J.N.N. gestickt.
Nochim Wagen sitzend, fragte er den Hotelwirt nach seinem Zimmer, und als er in denersten Stock geleitet wurde, fing er an, die Wände zu untersuchen, wie dick sieseien und ob man etwas aus den Nebenzimmern hören könne. Dann fragte erplötzlich das Mädchen:
Wieheißen Sie?
Sara.
Sara. Und übrigens: kann ich etwas zu essen bekommen?
Aha, Sie heißen Sara? Hören Sie, sagte er weiterhin, ist hier in diesemHaus einmal eine Apotheke gewesen?
Sara antwortete verwundert:
Ja. Aber das ist mehrere Jahre her.
Aha, mehrere Jahre? Doch, mir war gleich so, als ich in
den Flur kam; ich erkannte es nicht am Geruch, ich hatte aber trotzdem soein Gefühl. Jaja.
Als er zum Essen herunterkam, öffnete er während der ganzen Mahlzeit seinenMund nicht für ein einziges Wort.
SeineMitreisenden vom letzten Abend auf dem Dampfschiff, die beiden Herren, die obenam Tischende saßen, hatten, als er eingetreten war, einander zugefeixt, triebenrecht offensichtlich sogar Spaß mit seinem gestrigen Mißgeschick, ohne daß ersich anmerken ließ, etwas davon mitzubekommen. Er aß schnell, lehnte denNachtisch kopfschüttelnd ab und erhob sich unvermittelt, indem er sichrücklings über das Taburett gleiten ließ. Er steckte sich sofort eine Zigarrean und verschwand die Straße hinunter.
Undjetzt blieb er bis weit nach Mitternacht weg; kurz bevor die Uhr drei schlug,kam er zurück. Wo er gewesen war? Es stellte sich später heraus, daß er zumNachbarort zurückgegangen war, denganzen langen Weg, den er am Vormittag gefahren gekommen war, hatte er hin undher zu Fuß gemacht. Er mußte wohl etwas von höchster Wichtigkeit zu erledigengehabt haben. Als Sara ihm aufschloß, war er naßgeschwitzt; er lächelte demMädchen jedoch mehrmals zu und war in ausgezeichneter Laune.
Gott,welch entzückenden Nacken Sie haben, Menschenskind! sagte er. Ist hier Post fürmich angekommen, während ich weg war? Also für Nagel, Johan Nagel? Huch, gleichdrei Telegramme! Ach, hören Sie, können Sie mir nicht den Gefallen tun und dasBild dort von der Wand nehmen? Damit ich es nicht mehr zu sehen brauche. Es istso ärgerlich, hier auf dem Bett zu liegen und es dauernd vor Augen zu haben.Napoleon der Dritte hatte nämlich keinen so grünen Bart. Vielen Dank auch.
AlsSara gegangen war, blieb Nagel mitten im Zimmer stehen. Er stand völlig still.Er fing an, ganz abwesend auf einen bestimmten Punkt an der Wand zu starren,und abgesehen davon, daß sein Kopf immer mehr auf die eine Seite sank, bewegteer sich nicht. Dies hielt eine ganze Weile an.
Erwar von unterdurchschnittlicher Größe und hatte ein gebräuntes Gesicht miteinem merkwürdig dunklen Blick und einem feinen, femininen Mund. An dem einenFinger trug er einen einfachen Ring aus Blei oder Eisen. Er war sehr breit inden Schultern und mochte achtundzwanzig oder dreißig Jahre alt sein, jedenfallsnicht über dreißig. Sein Haar begann an den Schläfen zu ergrauen.
Ererwachte aus seinen Gedanken mit einem heftigen Ruck, einem so heftigen, daß esmutwillig sein mochte, ganz so als hätte er sich, obwohl er doch allein imZimmer war, diesen Ruck lange zurechtgelegt. Dann holte er ein paar Schlüsselaus der Hosentasche, etwas Kleingeld und eine Art von Rettungsmedaille an einembedauernswert mißhandelten Band; diese Dinge legte er auf den Tisch nebenseinem Bett. Danach steckte er seine Brieftasche unter das Kopfkissen und holteaus der Westentasche seine Uhr hervor und ein Fläschchen, ein kleinesMedizinfläschchen, das als gifthaltig gekennzeichnet war. Er behielt die Uhreinen Augenblick lang in der Hand, ehe er sie weglegte, doch das Fläschchensteckte er sofort zurück in die Tasche. Jetzt zog er seinen Ring ab und wuschsich; er strich mit den Fingern sein Haar zurück, in den Spiegel sah erüberhaupt nicht.
Erwar bereits zu Bett gegangen, als er plötzlich seinen Ring vermißte, dervergessen auf dem Waschtisch lag, und als ob er nicht ohne diesen schäbigen Eisenringsein könne, stand er noch einmal auf und streifte ihn über. Schließlich erbracher die drei Telegramme, hatte aber das erste noch nicht durchgelesen, bevor erein ziemlich kurzes, leises Lachen anschlug. Er lag da und lachte ganz für sichallein; seine Zähne waren außerordentlich schön. Dann wurde sein Gesicht wiederernst, und kurz danach schleuderte er die Telegramme mit größterGleichgültigkeit weg. Sie schienen sich gleichwohl auf eine große, wichtigeSache zu beziehen; es war darin die Rede von zweiundsechzigtausend Kronen füreinen Landbesitz, ja, einem Angebot über die Barauszahlung der gesamten Summe,falls der Verkauf sofort zustande käme. Eine trockne, kurze Geschäftskorrespondenz,an der nichts Lächerliches war; aber sie war ohne Unterschrift. Einige Minutenspäter war Nagel eingeschlafen. Die beiden Kerzen, die auf dem Tisch branntenund die er zu löschen vergessen hatte, erhellten sein glattrasiertes Gesichtund seine Brust und warfen einen ruhigen Schein auf die Telegramme, die offenausgebreitet auf dem Tisch lagen ...
© DTV
Übersetzung: SiegfriedWeibel
Knut Hamsun (eigentlich Knut Pedersen), geboren am 4. August 1859 in Lom/Gudbrandsdal, gestorben am 19. Februar 1952 in Norholm, durchlitt eine harte Jugend, übte verschiedene Berufe in Nordamerika und Norwegen aus, bis sich 1890 ein erster literarischer Erfolg mit dem autobiographischen Roman 'Hunger' einstellte. Hamsun lebte mehrere Jahre in Paris und bereiste Finnland, Russland, Persien und die Türkei. Einen Bruch in der Verehrung Norwegens für seinen Starautor gab es, als Hamsun die Besetzung durch die Nazis begrüßte und die Nazi-Herrschaft gut hieß. Nach dem Krieg wurde er deswegen für "vermindert zurechnungsfähig" erklärt und zu Reparationszahlungen verurteilt. Die Qualität seines literarischen Werkes und Hamsuns Einfluß auf die europäische Literatur nahmen daran jedoch keinen bleibenden Schaden. 1920 erhielt er für den Roman 'Segen der Erde' den Nobelpreis.
- Autor: Knut Hamsun
- 1989, 10. Aufl., 368 Seiten, Maße: 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423111577
- ISBN-13: 9783423111577
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