Nachricht an alle
Roman
Ausgezeichnet mit dem Alfred-Döblin-Preis 2007
»Wir stürzen ab, betet für mich!« Diese SMS aus dem Flugzeug erhält ein Vater von seiner Tochter. Zeit zum Trauern bleibt ihm nicht, denn er ist Innenminister eines europäischen Landes, das in einer tiefen...
»Wir stürzen ab, betet für mich!« Diese SMS aus dem Flugzeug erhält ein Vater von seiner Tochter. Zeit zum Trauern bleibt ihm nicht, denn er ist Innenminister eines europäischen Landes, das in einer tiefen...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Nachricht an alle “
Ausgezeichnet mit dem Alfred-Döblin-Preis 2007
»Wir stürzen ab, betet für mich!« Diese SMS aus dem Flugzeug erhält ein Vater von seiner Tochter. Zeit zum Trauern bleibt ihm nicht, denn er ist Innenminister eines europäischen Landes, das in einer tiefen Krise steckt. Streiks, soziale Unruhen und Intrigen innerhalb der eigenen Partei fordern Minister Seldens ganze Kraft. Und während in den klimatisierten Büros der Mächtigen Entscheidungen getroffen werden, beginnt sich an den heißen Rändern der Gesellschaft, eine Gruppe von Menschen zu regen, die auf den großen Schlag wartet. Michael Kumpfmüllers Roman bringt die Politik zurück in die Literatur und bietet ein faszinierendes Porträt unserer Gesellschaft.
»Wir stürzen ab, betet für mich!« Diese SMS aus dem Flugzeug erhält ein Vater von seiner Tochter. Zeit zum Trauern bleibt ihm nicht, denn er ist Innenminister eines europäischen Landes, das in einer tiefen Krise steckt. Streiks, soziale Unruhen und Intrigen innerhalb der eigenen Partei fordern Minister Seldens ganze Kraft. Und während in den klimatisierten Büros der Mächtigen Entscheidungen getroffen werden, beginnt sich an den heißen Rändern der Gesellschaft, eine Gruppe von Menschen zu regen, die auf den großen Schlag wartet. Michael Kumpfmüllers Roman bringt die Politik zurück in die Literatur und bietet ein faszinierendes Porträt unserer Gesellschaft.
Klappentext zu „Nachricht an alle “
Alfred-Döblin-Preis 2007 für den großen Roman über die Mechanismen der Macht und die Mechanik der Gefühle»Wir stürzen ab, betet für mich« - diese SMS erhält ein Vater von seiner Tochter mitten in der Nacht, in einem Hotelzimmer in Nordamerika. Was wie ein grausamer Scherz klingt, erweist sich als der modernste aller Albträume: Selbst aus todgeweihten Flugzeugen können wir noch Nachrichten empfangen - Nachrichten an alle.
Mit diesem Donnerschlag beginnt der neue Roman von Michael Kumpfmüller (Hampels Fluchten), der die Politik zurück in die deutsche Literatur bringt. Denn der Vater, der diese Nachricht bekommt, ist Innenminister eines europäischen Landes, das gerade in eine schwere Krise stürzt. Streiks, soziale Unruhen und diffuse terroristische Bedrohungen lassen Minister Selden keine Zeit für Trauer.
In Nachricht an alle treibt Michael Kumpfmüller eine Sonde durch die Schichten unserer westlichen Demokratien. Nicht nur Seldens private und politische Konflikte interessieren ihn, sondern die monströsen Mechanismen innerer Sicherheit, die gegenseitige Durchdringung von privater und öffentlicher Sphäre. Dazu gehört auch das dröhnende Räsonnement von Medien und Experten sowie Volkes Stimme, das als Hintergrundrauschen den politischen Diskurs begleitet und aushöhlt.
Kumpfmüller gelingt ein flirrendes Gegenwartsporträt der Gleichzeitigkeiten: Während in den klimatisierten Büros der Eliten Entscheidungen getroffen werden, beginnt sich unten in den Großstadtschluchten, an den heißen Rändern der Gesellschaft, eine Gruppe von Menschen zu regen, die auf den großen Schlag wartet.
So kenntnisreich, packend und klug ist in der deutschen Literatur lange nicht über Politik und Gesellschaft geschrieben worden. Mit diesem groß angelegten, sprachlich fein gearbeiteten und vielstimmigen Roman erweist sich Michael Kumpfmüller als bedeutender Romancier unserer Zeit.
Lese-Probe zu „Nachricht an alle “
Nachricht an Alle von Michael Kumpfmüller LESEPROBE At the bottom of everything Selden mixte sich gerade einen Drink, als die Nachricht kam. Wahrscheinlich ist es Per, dachte er, ein letzter Einfall zu den stockenden Verhandlungen, mit denen sie sich seit Tagen herumschlugen, vielleicht auch Britta, die mal wieder nicht schlafen konnte, drüben im fernen Europa, wo es früher Morgen war.
Nicht jetzt, dachte er. Ihr könnt mich mal.
Er stand eine Weile am Fenster, sah die Stadt, ein paar spärlich erleuchtete Fenster, tief unten das milchige Licht der Ampeln, vereinzelt Wagen, kaum Passanten. Der Nebel hatte sich verzogen. Drüben vom See her waren die Schwaden seit Tagen bis in die obersten Stockwerke gestiegen und hatten den riesigen Hotelkomplex in Watte gehüllt, aber jetzt, gegen halb zwei, war es fast klar, man bekam auf einmal ein Gefühl für den Raum, alles schien unermesslich weit und zugleich dicht gedrängt, vollgestopft mit Details, jetzt, in einem der seltenen Augenblicke, in denen er für sich war, etwas erschöpft, aber wach.
Er dachte an den kommenden Tag, die langen Stunden, die vor ihm lagen, die ganze Fusselarbeit innerhalb und außerhalb der Konferenzsäle, zog sich Schuhe und Jackett aus, setzte sich an den Schreibtisch, wo auch das Handy lag, dann die Nachricht. Alles sehr entspannt.
... mehr
Die Nachricht war von seiner Tochter. Er klickte sie an und dachte: Komisch, was sie bloß will, jetzt, um diese Zeit, was will sie um diese Zeit von ihrem Vater.
Hallo Paps, fing sie immer an, aber diesmal begann sie anders: O mein Gott, begann sie. Es hat eine Explosion gegeben. Es ist entsetzlich. Wir stürzen ab. Betet für mich. Ich liebe Euch.
Das war alles. Nur ein paar Sätze. Er nahm sie zur Kenntnis, hatte aber nicht den Eindruck, dass er etwas begriff. Er las sie ein zweites Mal, scrollte von oben nach unten, wo er endlich ihren Namen fand, Absender: Anisha, die bekannte Nummer, gesendet: 07:37:41, das Datum von morgen. Der erste Reflex war: Wieso morgen. Und dann: Das ist ein Scherz. Anisha, komm. Was soll das. Warum machst du das. Was ist los. In unterschiedlichen Variationen.
Einige Sekunden saß er da und wartete, wohin das Pendel ausschlug. Machst du mir Angst, machst du mich wütend, glaube ich, was da steht, halte ich es für möglich. Okay, mal langsam, dachte er. Von einer Reise weiß ich nichts. Sie lebt in Rom. Sie hat Kinder. Sie muss früh raus. Ich kann sie anrufen. Ich rufe sie einfach an.
Er wählte ihre Nummer, wartete auf das Freizeichen und bekam eine Frauenstimme, die auf Italienisch erklärte, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei. Sie hatte mal was von Stockholm erzählt. Ein Termin in Stockholm. War das jetzt? War sie auf dem Weg dorthin? Er versuchte es über das Festnetz. Er ließ es lange läuten, an die fünfzehn Mal, sah ihre Wohnung an der lauten Piazza, das Telefon im Flur, Anisha im Bademantel, wie sie den Kindern in der Küche das Frühstück machte, mit der schlafwandlerischen Routine der Mutter, die sich darüber wundert, dass zu dieser Stunde jemand anruft, an einem Dienstagmorgen im März. Es nahm niemand ab. Auch der Anrufbeantworter sprang nicht an, vielleicht hatten sie ihn versehentlich nicht angestellt.
Er begann sich zu ärgern. Mehr wütend als besorgt schrieb er ihr eine SMS. Anisha, was soll das. Bitte melde dich. Aber sofort. Dein Vater. Für kurze Zeit war er damit zufrieden. Er hatte getan, was er konnte, auch wenn es mehr oder weniger ein Witz war, hier, in diesem Zimmer im vierunddreißigsten Stock mit dieser Nachricht.
Er schaltete den Fernseher ein, der in einer Box vor dem Bett stand. Er schaute bei CNN, dann bei den kanadischen Sendern, die aber nichts hatten. Er glaubte es einfach nicht. Es war nicht möglich. Etwas in ihm versuchte zu widersprechen, weil ja klar war, dass es möglich war, es gab Unfälle mit Vögeln, einen Schaden im Triebwerk, es gab Anschläge. Nicht sie, dachte er. Warum nicht sie, dachte er. Was wäre, wenn. Dieses Spiel. Selbst wenn es vorläufig nicht den geringsten Beweis dafür gab.
Ein paar Bilder, eine Meldung, wären ein Beweis gewesen. Einen Anschlag, eine Katastrophe mit mehreren hundert Toten würden sie doch sicher melden. Aber nichts. Im Fernsehen das übliche Programm. Ein Film, noch ein Film, viel Werbung, eine Late-Night-Show, auf CNN Bilder von der neuesten Anschlagserie am Hindukusch.
Es waren mehr als vierzig Kanäle. Betont langsam ging er sie nacheinander durch, in aufsteigender Folge, dann rückwärts, während er in seinem Inneren mit anderen Bildern kämpfte, Bildern von brennenden Flugzeugen, ein rauchender Feuerball am Himmel, und dann wie im Film ein Schnitt und seine Tochter in einer der hinteren Sitzreihen, wie sie zu Tode erschrocken die Sauerstoffmasken aus der Decke fallen sah.
Er versuchte mit ihr zu reden. Ein paar Sekunden sah er genau, was war, was ihr bevorstand. Dann nicht mehr. Er dachte: Warum schreibst du mir nicht, was los ist. Wie es weitergeht. Er dachte: Herr, lass es nicht sein. Sie hatte geschrieben: Betet für mich. Es ist entsetzlich. Und tatsächlich begann er jetzt zu beten, wütend, dass sie ihn dahin brachte, dass sie womöglich dabei war, sein Leben zu zerstören.
Er musste mit jemandem reden. Er stellte den Ton ab und rief Per an, aber der hatte sein Handy schon ausgeschaltet. Er versuchte es bei Britta, die bestimmt noch schlief, doch er hatte sie gleich dran. Sie klang verschlafen. Hallo, hallo? Wer ist da? Bist du’s? Ich hab geschlafen, entschuldige. Was ist los? Wie spät ist es bei euch?
Er sagte ihr, was los war, in ein paar Sätzen, mit welchen Bildern er kämpfte.
Na, komm, sagte sie. Das ist nicht dein Ernst. Sie fand das alles absurd. Reg dich nicht auf.
Ihre auf Anhieb plausible Theorie lautete: Anisha hat ihr Handy verloren, jemand hat es ihr gestohlen, der neue Besitzer liebt makabre Späße.
Vergiss es, sagte sie.
Er bat sie, trotzdem den Fernseher anzuschalten.Jetzt?
Ja, jetzt.
Na, gut. Bleib dran. Bleibst du dran?
Ja, sicher, ich bleib dran.
Er hörte, wie sie aufstand, das Rascheln des Bettzeugs. Er meinte zu sehen, wie sie sich hochrappelte und in ihren Morgenmantel schlüpfte, wie sie ins Wohnzimmer ging, ein paar Schritte vor ihm, ungläubig wie er selbst, ein bisschen belustigt, vielleicht auch nicht. Die paranoide Weltsicht eines Innenministers, würde sie denken. Es ist deine Tochter, nicht meine, würde sie denken, ob sie wollte oder nicht. Jetzt hörte man Stimmen. Sie durchsuchte die Sender. Einmal gab es Musik, dann wieder Text, die Stimme einer Frau, eines Manns, das quakende Durcheinander eines Zeichentrickfilms. Von einer Nachricht keine Spur.
Komm, beruhig dich, sagte sie. Bist du sicher? Lies nochmal vor.
Er las noch einmal vor. Es hat eine Explosion gegeben. Ich liebe Euch.
Britta sagte: Mein Gott. Wie im Film. Und dann, wie um sich zu korrigieren: Was ist das bloß für ein Mensch, dass er uns allen so einen Schrecken einjagt.
Selden sagte: Ich versuche, jemanden im Ministerium zu erreichen. Halt die Leitung frei, ich melde mich.
Als er aufgelegt hatte, nahm er sich noch einmal die Nachricht vor, die genaue Struktur, wie sie komponiert war. Vielleicht hatte er ja noch gar nicht verstanden, was sie bedeutete, von wem sie wirklich stammte. Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe ging er alles durch, die technischen Angaben, Absender, Sendedatum, die Telefonnummer. Wenn man es genau betrachtete, gab es weder einen Adressaten noch einen genauen Absender. Es war eine Nachricht an alle von niemandem. Betet für mich, hatte sie geschrieben, also hätte sie doch schreiben müssen: Eure Anisha. Aber das schrieb sie nicht. Als wollte sie sagen: Welche Anisha. Anisha gibt es nicht mehr, nicht mehr lang, ihr könnt euch ausrechnen, wie lange noch.
Auf einmal erschien es ihm ziemlich unwahrscheinlich, dass es ein Scherz war. Welches kranke Hirn sollte sich das ausdenken. Ein Jugendlicher, der gerade einen dieser Filme gesehen hatte und sich in Gedanken daran aufgeilte, wildfremde Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen?
Wieder sah er sie in der Maschine, kurz nach der Explosion, oder was immer dort vorgefallen war, die schreienden Passagiere, die Wolken der Angst, weiter vorne ein klaffendes Loch, halb rechts ein Feuer, beißenden Rauch, und dann auf einmal die Anisha von früher, wie sie lachend inmitten einer Landschaft stand, auf einem weiten Feld, mit dem Blick nach oben in den Himmel. Sie beobachtete etwas. Es war nicht erkennbar, was, man bekam es nicht ins Bild, aber man sah sie eindeutig lachen, als wäre sie gleichzeitig hier unten, auf sicherem Boden, und dort oben, in dieser Hölle.
Er versuchte es noch einmal bei Per. Plötzlich hatte er Per. Der hörte sich alles an, nahm die Sache ernst, aber auch nicht zu sehr, nicht, solange es keine Fakten gab.
Ich hatte das Ding schon abgedreht. Auf einmal denke ich: Stell es nochmal an. Was wir jetzt brauchen, sind Fakten. Wofür haben wir den Apparat.
Er sprach es nicht aus, aber es war verdammt nochmal zu früh. Entwarnung oder nicht Entwarnung, alles eine Frage der Zeit. Das betraf zunächst den Absturz selbst. Dann die Feuerwehr. Wann trifft sie ein? Die Rettungskräfte. Wie lange dauert das? Das Weiterleiten schlechter Nachrichten an die Medien, obwohl sich schlechte Nachrichten bekanntlich am schnellsten verbreiteten.
In den Nachrichten nichts, sagst du?
Selden schaltete unablässig hin und her. In den Nachrichten hatten sie weiterhin nichts.
Per fragte: Soll ich hochkommen? Aber Selden sagte: Nein, nein, finde nur endlich raus, was da los ist. Ich werde allmählich verrückt.
Seit dem Eintreffen der Nachricht waren höchstens dreißig Minuten vergangen. Er versuchte noch einmal zu beten, wie ein Kind, das mit einer höheren Macht in Verhandlungen tritt: Gib mir das, dann geb’ ich dir das, irgendeinen Tausch, etwas, das ihm wirklich am Herzen lag, ohne dass er sah, was das hätte sein können. Es handelte sich um eine Strafe, eine Rechnung, die man widerspruchslos zu akzeptieren hatte. Wurde das Schlimmste wahr, war es die Quittung für seine Sünden, sein Versagen als Vater, als Mann, als Politiker.
Er begann, sie wie eine Tote zu behandeln, nur zur Probe, aber wie eine Tote. Arme Anisha. Was hätte ich dir noch alles gewünscht. Ich hoffe, du hast geliebt, ein einziges Mal ohne Wenn und Aber, ich hoffe, du hattest guten Sex. Die Kinder fielen ihm ein, Anishas Postkarten aus Rom, ihre krakelige Schrift, mit der sie ihm ab und zu Einblick in ihr Leben gewährte, ein verbummelter Nachmittag am Fluss, im Bikini am Ufer des Tibers, während die Zwillinge friedlich im Wagen schliefen.
Was immer man den Toten wünscht im Nachhinein. Was sie versäumt haben. Was wir alle von Anfang an versäumt haben.
Plötzlich dachte er an Ruth, mit der er seit Jahren kaum Kontakt hatte. Ruth vor dem Gerichtsgebäude, am Tag der Scheidung, wie sie ihm gratulierte, Ruth am Friedhof, ziemlich schwarz und sehr jung, an der Seite eines ihrer Liebhaber, der ihr flüsternd erklärte, warum es keinen Sarg gab, nur eine leere Zeremonie, für einen Schatten, einen Namen.
Einen Moment lang wollte er sie anrufen. Aber mit welcher Botschaft. Sie würde ihn auslachen. Hör schon auf. Hast du nichts Besseres zu tun? Du lässt alle paar Jahre von dir hören, und dann das?
Er durchsuchte weiterhin die Kanäle, rauf und runter, aber nichts. Auch Per hatte nichts. Beruhig dich. Die Maschine läuft. Es war kurz nach zwei. Normalerweise wäre er längst im Bett gewesen, die letzte Runde der Konferenz begann um neun, aber wahrscheinlich musste er da nicht mehr hin. Der Gedanke hatte etwas Erleichterndes. Wenn sie tot war, musste er da nicht hin. Er würde packen, er würde abreisen. Weiter kam er nicht. Er sah sich mit Per im Wagen auf dem Weg zu Britta, Britta in der offenen Tür, die ersten gemeinsamen Stunden, mit einer neuen Vorsicht, alles sehr leise, behutsam, voller unerwarteter Liebe.
Gegen halb vier brachten sie die ersten Bilder. Sie mussten schon eine Weile zu sehen gewesen sein, sie waren da und zugleich nicht da, es dauerte eine Ewigkeit, bis er realisierte, was sie bedeuteten. Jemand flog im Helikopter über eine Absturzstelle. Man sah verbrannte Erde, rauchende Trümmer, an diversen Stellen Feuerwehr und Rettungsfahrzeuge, am Rande einer ländlichen Siedlung, darunter einen roten Balken mit der Schlagzeile: 180 Tote bei Flugzeugabsturz, keine Überlebenden.
Mach mir keinen Kummer, dachte er.
Du warst so klein bei der Geburt, so schrumpelig.
Du musst. Mach mir keinen Kummer.
Gleich jetzt, in der nächsten Einstellung, würde er sie sehen, etwas benommen, mit ein paar Schnittwunden im Gesicht, wie sie aus einem Haufen Asche stieg, sehr verwirrt, vielleicht auch verletzt, mit Verbrennungen dritten oder vierten Grades, na gut, aber seine Tochter. Wo steckte sie bloß? Man musste sie doch sehen, sie konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Aber sie zeigten immer die Bilder aus dem Helikopter, von weit droben, sodass es nicht möglich war.
Das Flugzeug sah irgendwie filetiert aus, dachte er, wie ein kunstvoll auseinandergenommener Fisch, aus dieser Höhe sehr klein, sodass es völlig unwahrscheinlich schien, dass jemals Menschen darin Platz gefunden haben sollten.
Wenig später brachten sie die ersten Aufnahmen vom Boden. Ein rauchendes Wrack war zu sehen, aus der Nähe die Reste des Cockpits, eine ausgebrannte Turbine, größere Teile vom Rumpf, sieben, acht Fenster am Stück, an denen ebenfalls Brandspuren zu erkennen waren, weiter weg verstreutes Gepäck, ein Kinderspielzeug, nirgendwo Tote, nirgendwo Verletzte. Man konnte sich kein rechtes Bild machen. Es waren bestimmte Ausschnitte, der wohldosierte Schrecken am frühen Morgen. Jemand hatte mit der Kamera draufgehalten, jemand anderes hatte verfügt, was sendbar war. Keine verbrannten Körper, keine Verstümmelungen schien die Devise zu sein.
Über die Absturzstelle hieß es unbestimmt: ein Vorort von Rom, circa siebzig Kilometer nordöstlich, im Wagen eine Strecke von einer Stunde. Weiter war die Maschine nicht gekommen. Selden war die Route mit Anisha und den Kindern schon gefahren. Ja, doch, er meinte sich zu erinnern. Er dachte: Na siehst du, hättest du den Wagen genommen. Das nächste Mal nimm den Wagen, die Kinder hinten in ihren Sitzen vergiss nicht anzuschnallen, und dann los, es ist ein schöner Tag, um diese Stunde gibt es kaum Verkehr, bitte pass auf.
Er merkte, wie er sie schon wieder belehrte. Ganz der Vater. War es nicht an der Zeit, dass er damit aufhörte? Solange sie lebte, würde er sie insgeheim ermahnen. Solange er sie noch ermahnte, lebte sie auch.
Es begann zu klopfen, er dachte, in ihm drin, aber es war an der Tür, der an der Tür stand, war Per. Er war sehr bleich. Um Gottes willen, ich glaub es nicht. Und Selden: Komm, setz dich. Schau dir das an. Als hätte er soeben eine Entdeckung gemacht. Haben wir das nicht immer gepredigt? Es kann uns alle treffen, überall und zu jeder Zeit. Und jetzt das. Jetzt bin ich dran.
Per ging nicht darauf ein, er sagte, was sie hatten. Wir versuchen, die Passagierliste zu bekommen. Eine Maschine nach Stockholm, so viel steht fest. Was um Himmels willen wollte sie in Stockholm?
Selden saß am Rand des Bettes und starrte bewegungslos in den Fernseher.
Wir müssen ihre Mutter verständigen. Die Kinder. Ich weiß noch nicht mal, ob sie die Kinder mithatte.
Hallo?, sagte er, weil Per nicht reagierte, und Per sagte: Die Kinder, mein Gott, hoffentlich nicht, obwohl es kaum denkbar war.
Eine Stimme aus dem Fernseher sagte: The fatal air crash happened next to a small village. Two houses are completely destroyed. Imagine this happening in a city like Rome.
Man sah einen Nachrichtensprecher und an seiner Seite einen Experten, der sehr vorsichtig über die Möglichkeit eines Anschlags spekulierte. Es war von einem ersten Bekennerschreiben im Internet die Rede, das gerade auf seine Echtheit überprüft werde. Das war der Stand. Sie brachten eine Liste mit den letzten Anschlägen, Anschläge, zu denen sich jemand bekannt hatte, Anschläge, die vielleicht Unfälle waren, dazu lauter Namen von Städten: London, Berlin, Tokio, ein kurzer Abriss der Geschichte des beginnenden 21. Jahrhunderts.
© by Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
Hallo Paps, fing sie immer an, aber diesmal begann sie anders: O mein Gott, begann sie. Es hat eine Explosion gegeben. Es ist entsetzlich. Wir stürzen ab. Betet für mich. Ich liebe Euch.
Das war alles. Nur ein paar Sätze. Er nahm sie zur Kenntnis, hatte aber nicht den Eindruck, dass er etwas begriff. Er las sie ein zweites Mal, scrollte von oben nach unten, wo er endlich ihren Namen fand, Absender: Anisha, die bekannte Nummer, gesendet: 07:37:41, das Datum von morgen. Der erste Reflex war: Wieso morgen. Und dann: Das ist ein Scherz. Anisha, komm. Was soll das. Warum machst du das. Was ist los. In unterschiedlichen Variationen.
Einige Sekunden saß er da und wartete, wohin das Pendel ausschlug. Machst du mir Angst, machst du mich wütend, glaube ich, was da steht, halte ich es für möglich. Okay, mal langsam, dachte er. Von einer Reise weiß ich nichts. Sie lebt in Rom. Sie hat Kinder. Sie muss früh raus. Ich kann sie anrufen. Ich rufe sie einfach an.
Er wählte ihre Nummer, wartete auf das Freizeichen und bekam eine Frauenstimme, die auf Italienisch erklärte, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei. Sie hatte mal was von Stockholm erzählt. Ein Termin in Stockholm. War das jetzt? War sie auf dem Weg dorthin? Er versuchte es über das Festnetz. Er ließ es lange läuten, an die fünfzehn Mal, sah ihre Wohnung an der lauten Piazza, das Telefon im Flur, Anisha im Bademantel, wie sie den Kindern in der Küche das Frühstück machte, mit der schlafwandlerischen Routine der Mutter, die sich darüber wundert, dass zu dieser Stunde jemand anruft, an einem Dienstagmorgen im März. Es nahm niemand ab. Auch der Anrufbeantworter sprang nicht an, vielleicht hatten sie ihn versehentlich nicht angestellt.
Er begann sich zu ärgern. Mehr wütend als besorgt schrieb er ihr eine SMS. Anisha, was soll das. Bitte melde dich. Aber sofort. Dein Vater. Für kurze Zeit war er damit zufrieden. Er hatte getan, was er konnte, auch wenn es mehr oder weniger ein Witz war, hier, in diesem Zimmer im vierunddreißigsten Stock mit dieser Nachricht.
Er schaltete den Fernseher ein, der in einer Box vor dem Bett stand. Er schaute bei CNN, dann bei den kanadischen Sendern, die aber nichts hatten. Er glaubte es einfach nicht. Es war nicht möglich. Etwas in ihm versuchte zu widersprechen, weil ja klar war, dass es möglich war, es gab Unfälle mit Vögeln, einen Schaden im Triebwerk, es gab Anschläge. Nicht sie, dachte er. Warum nicht sie, dachte er. Was wäre, wenn. Dieses Spiel. Selbst wenn es vorläufig nicht den geringsten Beweis dafür gab.
Ein paar Bilder, eine Meldung, wären ein Beweis gewesen. Einen Anschlag, eine Katastrophe mit mehreren hundert Toten würden sie doch sicher melden. Aber nichts. Im Fernsehen das übliche Programm. Ein Film, noch ein Film, viel Werbung, eine Late-Night-Show, auf CNN Bilder von der neuesten Anschlagserie am Hindukusch.
Es waren mehr als vierzig Kanäle. Betont langsam ging er sie nacheinander durch, in aufsteigender Folge, dann rückwärts, während er in seinem Inneren mit anderen Bildern kämpfte, Bildern von brennenden Flugzeugen, ein rauchender Feuerball am Himmel, und dann wie im Film ein Schnitt und seine Tochter in einer der hinteren Sitzreihen, wie sie zu Tode erschrocken die Sauerstoffmasken aus der Decke fallen sah.
Er versuchte mit ihr zu reden. Ein paar Sekunden sah er genau, was war, was ihr bevorstand. Dann nicht mehr. Er dachte: Warum schreibst du mir nicht, was los ist. Wie es weitergeht. Er dachte: Herr, lass es nicht sein. Sie hatte geschrieben: Betet für mich. Es ist entsetzlich. Und tatsächlich begann er jetzt zu beten, wütend, dass sie ihn dahin brachte, dass sie womöglich dabei war, sein Leben zu zerstören.
Er musste mit jemandem reden. Er stellte den Ton ab und rief Per an, aber der hatte sein Handy schon ausgeschaltet. Er versuchte es bei Britta, die bestimmt noch schlief, doch er hatte sie gleich dran. Sie klang verschlafen. Hallo, hallo? Wer ist da? Bist du’s? Ich hab geschlafen, entschuldige. Was ist los? Wie spät ist es bei euch?
Er sagte ihr, was los war, in ein paar Sätzen, mit welchen Bildern er kämpfte.
Na, komm, sagte sie. Das ist nicht dein Ernst. Sie fand das alles absurd. Reg dich nicht auf.
Ihre auf Anhieb plausible Theorie lautete: Anisha hat ihr Handy verloren, jemand hat es ihr gestohlen, der neue Besitzer liebt makabre Späße.
Vergiss es, sagte sie.
Er bat sie, trotzdem den Fernseher anzuschalten.Jetzt?
Ja, jetzt.
Na, gut. Bleib dran. Bleibst du dran?
Ja, sicher, ich bleib dran.
Er hörte, wie sie aufstand, das Rascheln des Bettzeugs. Er meinte zu sehen, wie sie sich hochrappelte und in ihren Morgenmantel schlüpfte, wie sie ins Wohnzimmer ging, ein paar Schritte vor ihm, ungläubig wie er selbst, ein bisschen belustigt, vielleicht auch nicht. Die paranoide Weltsicht eines Innenministers, würde sie denken. Es ist deine Tochter, nicht meine, würde sie denken, ob sie wollte oder nicht. Jetzt hörte man Stimmen. Sie durchsuchte die Sender. Einmal gab es Musik, dann wieder Text, die Stimme einer Frau, eines Manns, das quakende Durcheinander eines Zeichentrickfilms. Von einer Nachricht keine Spur.
Komm, beruhig dich, sagte sie. Bist du sicher? Lies nochmal vor.
Er las noch einmal vor. Es hat eine Explosion gegeben. Ich liebe Euch.
Britta sagte: Mein Gott. Wie im Film. Und dann, wie um sich zu korrigieren: Was ist das bloß für ein Mensch, dass er uns allen so einen Schrecken einjagt.
Selden sagte: Ich versuche, jemanden im Ministerium zu erreichen. Halt die Leitung frei, ich melde mich.
Als er aufgelegt hatte, nahm er sich noch einmal die Nachricht vor, die genaue Struktur, wie sie komponiert war. Vielleicht hatte er ja noch gar nicht verstanden, was sie bedeutete, von wem sie wirklich stammte. Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe ging er alles durch, die technischen Angaben, Absender, Sendedatum, die Telefonnummer. Wenn man es genau betrachtete, gab es weder einen Adressaten noch einen genauen Absender. Es war eine Nachricht an alle von niemandem. Betet für mich, hatte sie geschrieben, also hätte sie doch schreiben müssen: Eure Anisha. Aber das schrieb sie nicht. Als wollte sie sagen: Welche Anisha. Anisha gibt es nicht mehr, nicht mehr lang, ihr könnt euch ausrechnen, wie lange noch.
Auf einmal erschien es ihm ziemlich unwahrscheinlich, dass es ein Scherz war. Welches kranke Hirn sollte sich das ausdenken. Ein Jugendlicher, der gerade einen dieser Filme gesehen hatte und sich in Gedanken daran aufgeilte, wildfremde Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen?
Wieder sah er sie in der Maschine, kurz nach der Explosion, oder was immer dort vorgefallen war, die schreienden Passagiere, die Wolken der Angst, weiter vorne ein klaffendes Loch, halb rechts ein Feuer, beißenden Rauch, und dann auf einmal die Anisha von früher, wie sie lachend inmitten einer Landschaft stand, auf einem weiten Feld, mit dem Blick nach oben in den Himmel. Sie beobachtete etwas. Es war nicht erkennbar, was, man bekam es nicht ins Bild, aber man sah sie eindeutig lachen, als wäre sie gleichzeitig hier unten, auf sicherem Boden, und dort oben, in dieser Hölle.
Er versuchte es noch einmal bei Per. Plötzlich hatte er Per. Der hörte sich alles an, nahm die Sache ernst, aber auch nicht zu sehr, nicht, solange es keine Fakten gab.
Ich hatte das Ding schon abgedreht. Auf einmal denke ich: Stell es nochmal an. Was wir jetzt brauchen, sind Fakten. Wofür haben wir den Apparat.
Er sprach es nicht aus, aber es war verdammt nochmal zu früh. Entwarnung oder nicht Entwarnung, alles eine Frage der Zeit. Das betraf zunächst den Absturz selbst. Dann die Feuerwehr. Wann trifft sie ein? Die Rettungskräfte. Wie lange dauert das? Das Weiterleiten schlechter Nachrichten an die Medien, obwohl sich schlechte Nachrichten bekanntlich am schnellsten verbreiteten.
In den Nachrichten nichts, sagst du?
Selden schaltete unablässig hin und her. In den Nachrichten hatten sie weiterhin nichts.
Per fragte: Soll ich hochkommen? Aber Selden sagte: Nein, nein, finde nur endlich raus, was da los ist. Ich werde allmählich verrückt.
Seit dem Eintreffen der Nachricht waren höchstens dreißig Minuten vergangen. Er versuchte noch einmal zu beten, wie ein Kind, das mit einer höheren Macht in Verhandlungen tritt: Gib mir das, dann geb’ ich dir das, irgendeinen Tausch, etwas, das ihm wirklich am Herzen lag, ohne dass er sah, was das hätte sein können. Es handelte sich um eine Strafe, eine Rechnung, die man widerspruchslos zu akzeptieren hatte. Wurde das Schlimmste wahr, war es die Quittung für seine Sünden, sein Versagen als Vater, als Mann, als Politiker.
Er begann, sie wie eine Tote zu behandeln, nur zur Probe, aber wie eine Tote. Arme Anisha. Was hätte ich dir noch alles gewünscht. Ich hoffe, du hast geliebt, ein einziges Mal ohne Wenn und Aber, ich hoffe, du hattest guten Sex. Die Kinder fielen ihm ein, Anishas Postkarten aus Rom, ihre krakelige Schrift, mit der sie ihm ab und zu Einblick in ihr Leben gewährte, ein verbummelter Nachmittag am Fluss, im Bikini am Ufer des Tibers, während die Zwillinge friedlich im Wagen schliefen.
Was immer man den Toten wünscht im Nachhinein. Was sie versäumt haben. Was wir alle von Anfang an versäumt haben.
Plötzlich dachte er an Ruth, mit der er seit Jahren kaum Kontakt hatte. Ruth vor dem Gerichtsgebäude, am Tag der Scheidung, wie sie ihm gratulierte, Ruth am Friedhof, ziemlich schwarz und sehr jung, an der Seite eines ihrer Liebhaber, der ihr flüsternd erklärte, warum es keinen Sarg gab, nur eine leere Zeremonie, für einen Schatten, einen Namen.
Einen Moment lang wollte er sie anrufen. Aber mit welcher Botschaft. Sie würde ihn auslachen. Hör schon auf. Hast du nichts Besseres zu tun? Du lässt alle paar Jahre von dir hören, und dann das?
Er durchsuchte weiterhin die Kanäle, rauf und runter, aber nichts. Auch Per hatte nichts. Beruhig dich. Die Maschine läuft. Es war kurz nach zwei. Normalerweise wäre er längst im Bett gewesen, die letzte Runde der Konferenz begann um neun, aber wahrscheinlich musste er da nicht mehr hin. Der Gedanke hatte etwas Erleichterndes. Wenn sie tot war, musste er da nicht hin. Er würde packen, er würde abreisen. Weiter kam er nicht. Er sah sich mit Per im Wagen auf dem Weg zu Britta, Britta in der offenen Tür, die ersten gemeinsamen Stunden, mit einer neuen Vorsicht, alles sehr leise, behutsam, voller unerwarteter Liebe.
Gegen halb vier brachten sie die ersten Bilder. Sie mussten schon eine Weile zu sehen gewesen sein, sie waren da und zugleich nicht da, es dauerte eine Ewigkeit, bis er realisierte, was sie bedeuteten. Jemand flog im Helikopter über eine Absturzstelle. Man sah verbrannte Erde, rauchende Trümmer, an diversen Stellen Feuerwehr und Rettungsfahrzeuge, am Rande einer ländlichen Siedlung, darunter einen roten Balken mit der Schlagzeile: 180 Tote bei Flugzeugabsturz, keine Überlebenden.
Mach mir keinen Kummer, dachte er.
Du warst so klein bei der Geburt, so schrumpelig.
Du musst. Mach mir keinen Kummer.
Gleich jetzt, in der nächsten Einstellung, würde er sie sehen, etwas benommen, mit ein paar Schnittwunden im Gesicht, wie sie aus einem Haufen Asche stieg, sehr verwirrt, vielleicht auch verletzt, mit Verbrennungen dritten oder vierten Grades, na gut, aber seine Tochter. Wo steckte sie bloß? Man musste sie doch sehen, sie konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Aber sie zeigten immer die Bilder aus dem Helikopter, von weit droben, sodass es nicht möglich war.
Das Flugzeug sah irgendwie filetiert aus, dachte er, wie ein kunstvoll auseinandergenommener Fisch, aus dieser Höhe sehr klein, sodass es völlig unwahrscheinlich schien, dass jemals Menschen darin Platz gefunden haben sollten.
Wenig später brachten sie die ersten Aufnahmen vom Boden. Ein rauchendes Wrack war zu sehen, aus der Nähe die Reste des Cockpits, eine ausgebrannte Turbine, größere Teile vom Rumpf, sieben, acht Fenster am Stück, an denen ebenfalls Brandspuren zu erkennen waren, weiter weg verstreutes Gepäck, ein Kinderspielzeug, nirgendwo Tote, nirgendwo Verletzte. Man konnte sich kein rechtes Bild machen. Es waren bestimmte Ausschnitte, der wohldosierte Schrecken am frühen Morgen. Jemand hatte mit der Kamera draufgehalten, jemand anderes hatte verfügt, was sendbar war. Keine verbrannten Körper, keine Verstümmelungen schien die Devise zu sein.
Über die Absturzstelle hieß es unbestimmt: ein Vorort von Rom, circa siebzig Kilometer nordöstlich, im Wagen eine Strecke von einer Stunde. Weiter war die Maschine nicht gekommen. Selden war die Route mit Anisha und den Kindern schon gefahren. Ja, doch, er meinte sich zu erinnern. Er dachte: Na siehst du, hättest du den Wagen genommen. Das nächste Mal nimm den Wagen, die Kinder hinten in ihren Sitzen vergiss nicht anzuschnallen, und dann los, es ist ein schöner Tag, um diese Stunde gibt es kaum Verkehr, bitte pass auf.
Er merkte, wie er sie schon wieder belehrte. Ganz der Vater. War es nicht an der Zeit, dass er damit aufhörte? Solange sie lebte, würde er sie insgeheim ermahnen. Solange er sie noch ermahnte, lebte sie auch.
Es begann zu klopfen, er dachte, in ihm drin, aber es war an der Tür, der an der Tür stand, war Per. Er war sehr bleich. Um Gottes willen, ich glaub es nicht. Und Selden: Komm, setz dich. Schau dir das an. Als hätte er soeben eine Entdeckung gemacht. Haben wir das nicht immer gepredigt? Es kann uns alle treffen, überall und zu jeder Zeit. Und jetzt das. Jetzt bin ich dran.
Per ging nicht darauf ein, er sagte, was sie hatten. Wir versuchen, die Passagierliste zu bekommen. Eine Maschine nach Stockholm, so viel steht fest. Was um Himmels willen wollte sie in Stockholm?
Selden saß am Rand des Bettes und starrte bewegungslos in den Fernseher.
Wir müssen ihre Mutter verständigen. Die Kinder. Ich weiß noch nicht mal, ob sie die Kinder mithatte.
Hallo?, sagte er, weil Per nicht reagierte, und Per sagte: Die Kinder, mein Gott, hoffentlich nicht, obwohl es kaum denkbar war.
Eine Stimme aus dem Fernseher sagte: The fatal air crash happened next to a small village. Two houses are completely destroyed. Imagine this happening in a city like Rome.
Man sah einen Nachrichtensprecher und an seiner Seite einen Experten, der sehr vorsichtig über die Möglichkeit eines Anschlags spekulierte. Es war von einem ersten Bekennerschreiben im Internet die Rede, das gerade auf seine Echtheit überprüft werde. Das war der Stand. Sie brachten eine Liste mit den letzten Anschlägen, Anschläge, zu denen sich jemand bekannt hatte, Anschläge, die vielleicht Unfälle waren, dazu lauter Namen von Städten: London, Berlin, Tokio, ein kurzer Abriss der Geschichte des beginnenden 21. Jahrhunderts.
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Autoren-Porträt von Michael Kumpfmüller
Michael Kumpfmüller, geboren 1961 in München, lebt als freier Autor in Berlin. Im Jahr 2000 erschien mit dem gefeierten Roman »Hampels Fluchten« seine erste literarische Veröffentlichung, 2003 sein zweiter Roman »Durst« und 2008 »Nachricht an alle«, für den er vor dem Erscheinen mit dem Döblin-Preis ausgezeichnet wurde. Bei seiner Veröffentlichung im Jahr 2011 wurde der Roman »Die Herrlichkeit des Lebens« zum Bestseller und von der literarischen Kritik hochgelobt. Mittlerweile ist er in 24 Sprachen übersetzt worden. Zuletzt erschienen seine Romane »Die Erziehung des Mannes« (2016), »Tage mit Ora« (2018) und »Ach, Virginia« (2020).
Bibliographische Angaben
- Autor: Michael Kumpfmüller
- 2008, 3. Aufl., 384 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462039679
- ISBN-13: 9783462039672
- Erscheinungsdatum: 22.02.2008
Rezension zu „Nachricht an alle “
»[...] ein Beispiel dafür, dass die jüngste deutsche Literatur wieder politisch wird. Dass Kumpfmüller [...] eine überzeugende Sprache gefunden hat, macht seinen Roman zu einem bemerkenswerten Ereignis [...].« Michael Opitz Deutsche Welle
Pressezitat
»[...] ein Beispiel dafür, dass die jüngste deutsche Literatur wieder politisch wird. Dass Kumpfmüller [...] eine überzeugende Sprache gefunden hat, macht seinen Roman zu einem bemerkenswerten Ereignis [...].« Michael Opitz Deutsche Welle
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