Nachtschatten
Roman
Adrian ist Sohn einer depressiven Mutter und eines Vaters, der sich erschießt, als der Junge zwölf ist. Die magere, bösartige Schwester des Vaters übernimmt das Regiment und macht Adrian das Leben zur Hölle. Doch Adrian kämpft. Um Anerkennung, um...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Nachtschatten “
Adrian ist Sohn einer depressiven Mutter und eines Vaters, der sich erschießt, als der Junge zwölf ist. Die magere, bösartige Schwester des Vaters übernimmt das Regiment und macht Adrian das Leben zur Hölle. Doch Adrian kämpft. Um Anerkennung, um Zugehörigkeit. Näheren Kontakt hat er nur zu Emilie, einem Mädchen aus der Nachbarschaft. Sie, die viel allein ist und von den anderen nicht beachtet wird, sucht Adrians Nähe. Eines Tages verschwindet sie plötzlich spurlos. Hat Adrian etwas damit zu tun? »Poetisch wie immer und sehr verführerisch!« (Dagbladet)
Klappentext zu „Nachtschatten “
Solch ein unverwechselbarer Ton, solch ein lapidarer Beginn gelingt nur einem: Lars Saabye Christensen. In »Nachtschatten« erzählt er die Geschichte des jungen Adrian Sohn einer depressiven Mutter und eines geheimnisumwitterten Vaters, der sich erschießt, als der Junge zwölf Jahre alt ist. Kurz zuvor hat Adrian ihn noch besucht an seinem Arbeitsplatz, und noch Jahre später wird er das Schild am Büro des Vaters hängen sehen: »Bin gleich zurück.« Die Mutter zieht sich nach dem Selbstmord des Vaters ins Schlafzimmer zurück; die magere, bösartige, ältere Schwester des Vaters übernimmt das Regiment und macht Adrian das Leben zur Hölle. Doch dieser kämpft. Um eine Zukunft, um Anerkennung, um Zugehörigkeit. Dabei steht er sich oft selbst am meisten im Weg. Näheren Kontakt hat er nur zu Emilie, einem Mädchen aus der Nachbarschaft. Sie, die viel allein ist und von den anderen nicht beachtet wird, sucht Adrians Nähe. Und dieser sieht sie, fotografiert sie sogar. Als sie plötzlich spurlos verschwindet, spitzt sich die Situation zu. Hat Adrian etwas damit zu tun? Wer lügt in dieser Geschichte, und welche Geheimnisse verbergen die einzelnen Familienmitglieder wirklich? Ein aufwühlendes, berührendes, schamloses, zu Herzen gehendes Buch: Wenn der »Halbbruder« eine Fotografie ist, so ist »Nachtschatten« das Negativ dieses Fotos.
Lese-Probe zu „Nachtschatten “
Ich hatte eine sch ne Kindheit. Mutter ging fr h zu Bett. Vater starb, als ich zw lf Jahre alt war. Ich war Einzelkind. Wir wohnten in einer gro en Wohnung in der Stra e hinter dem Schloss. Ich kann mich an die drei Stuben erinnern, die ineinander bergingen, durch breite Schiebet ren geteilt, die immer offenstanden, und an die schweren Portieren mit Quasten, die zur Seite gerafft waren, wie ein dunkler B hnenvorhang. Vater sa im Sessel in der hintersten Stube und las in der Life. Das Licht von den hohen Fenstern - entweder waren es die Stra enlaternen oder der Mond im Herbst oder aber die Sonne, die sich in gr nen B ndeln durch den wilden Wein ihren Weg bahnte, wenn der Fr hling kam - lie seine wei en Handschuhe leuchten, als w ren es nur diese H nde, die von ihm sichtbar waren. Ab und zu schaute er auf, bemerkte mich und z gerte einen Moment lang, bevor er weiterbl tterte. Ich stand so weit entfernt, dass ich nicht sehen konnte, ob er l chelte oder sich gest rt f hlte.Als er tot war, f hlte ich keine Trauer, nur eine Art Ersch pfung. Es war meine Tante, die mir mitteilte, dass er tot war. Ich kam aus der Schule, Ende September, an einem Tag, an dem schon etwas Merkw rdiges geschehen war, denn ich hatte die brutale Einsamkeit meiner Mutter gesehen, es regnete, und da war dieses d rre Klappergestell, meine unverheiratete Tante, Vaters ltere Schwester, die so alt war, dass sich viele fragten, ob die beiden wirklich gleichen Ursprungs sein konnten, und jedes Mal, wenn ich sie sah, kam mir in den Sinn, wie unm glich doch die Vorstellung war, dass Vater von irgendjemandem der kleine Bruder war.
Sie knackte mit den Fingern, das war eine schlechte Angewohnheit von ihr, f nf Mal ein trockenes Knacken.
"Er ist tot", sagte die Tante.
"Wer?"
"Dein Vater."
Dann strich sie mir schnell mit der Hand bers Gesicht, das vom Regen ganz nass war, vielleicht glaubte sie ja, ich h tte angefangen zu weinen. Sie folgte mir zu meiner Mutter nach drinnen. Deren Weinen war
... mehr
echt. Es war brigens das erste Mal, dass ich in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer war, das jetzt ihr allein geh ren sollte. Ein breiter Nachttisch stand zwischen den Betten. Vaters Handschuhe lagen unter der Lampe. Jetzt konnte ich sehen, dass sie fleckig waren, die Finger ganz grau, von Druckerschw rze oder vom Tabak. Sie leuchteten nicht mehr.
"Kann ich die Hefte haben?", fragte ich.
Mutter schaute mich an, verwundert.
"Was meinst du?"
"Life. Kann ich sie jetzt haben?"
Mutter setzte sich im Bett auf, hob die Hand, und ich glaubte, sie wollte mich schlagen, und duckte mich, aber meine Tante konnte sie aufhalten.
"Nun, nun, das war doch nicht so gemeint", fl sterte sie.
Aber ich hatte es genau so gemeint. Ich wollte die Hefte haben. Es gab keine Hintergedanken in meinen Worten, keine Bosheit in meinem frommen Wunsch. Mutters Augen wurden trocken und kalt. Sie war seiner Ideen berdr ssig, und sie war meiner berdr ssig, als wenn alles, was passiert war, meine Schuld gewesen w re.
"Du solltest dich sch men", sagte sie. "Sch m dich!"
Und vielleicht war es genau da, in diesem Augenblick, als Mutter sagte, ich solle mich sch men, dass mir meine Schamlosigkeit ungewohnt deutlich vor Augen stand. Es ist mein Gebrechen, und es ist vorgekommen, dass ich mich gefragt habe: Ist das der Punkt, wo das Licht eindringt, oder ist es der Punkt, wo das Dunkel hervorquillt?
Ich habe kein Schamgef hl.
Vater wurde sieben Tage sp ter im Vestre Krematorium beigesetzt. Erst da beschloss Mutter aufzustehen. Sie weinte und kleidete sich schwarz. Es war die Tante, die alles organisiert hatte, Blumen, Anzeige, Telefonate, Anw lte, Polizei. Sie war diejenige, die ins Krankenhaus fuhr, um meinen Vater zu sehen, ihren Bruder, zum letzten Mal, aber das wurde ihr nicht erlaubt, der Sarg, in dem er lag, war bereits verplombt. Es war Vaters Arzt, Doktor Ask, der es ihr abschlug, er sagte, er tue das aus R cksicht auf uns alle, denn Vater war kein sch ner Anblick.
Doch das, was man nicht zu sehen bekommt, wird vor unseren Augen nur noch schlimmer. Es w chst. Es verschwindet nie. Unwissenheit ist ein Treibhaus, in dem die schrecklichsten Blumen wachsen.
Das Wetter war an dem Tag gar nicht so schlecht.
Ich sa in der ersten Reihe zwischen Mutter und Tante. Mutter hatte aufgeh rt zu weinen. Die Tante war immer noch w tend. Den ganzen Mittelgang hinunter lagen Blumen, als w re der Sarg an einem Seil aus Blumenst ngeln vert ut. Hinter mir h rte ich Stimmen, die kraftvoll sangen, Stimmen, die schwiegen, und einige, die nur fl sterten. Es gab nicht einen freien Platz. Einige mussten sogar unter den Bogeng ngen an den W nden stehen. Der Pfarrer sagte, dass mein Vater, der Patentingenieur, zweiter Vorsitzender im Norwegischen Erfinderverein von 1955-59, im Ged chtnis bleiben und niemals vergessen werden w rde. Da war es ganz still im Krematorium. Der Pfarrer sagte, dass mein Vater Spuren hinterlassen habe.
Und w hrend der Pfarrer das sagte, hatte ich das Gef hl, als rede er von jemand anderem, einem, von dem ich nicht wusste, wer es sein sollte. Und ich dachte weiter, dass wir wohl auf der falschen Beerdigung gelandet waren, dass das nur einer von Mutters Einf llen war, ihre verr ckteste Idee bis jetzt, es war gar nicht mein Vater, der da im Sarg lag, die Blumen waren nicht f r ihn bestimmt. Aber vielleicht kannten ja alle, die an diesem Tag im Krematorium waren, meinen Vater jeweils auf andere Art und Weise? Was h tte ich geantwortet, wenn mich jemand gefragt h tte, wer mein Vater war? Ich h tte gesagt: der Mann mit den schmutzigen Handschuhen in der hintersten Stube.
Die Feier fand ihren Abschluss am Grab, wie es so sch n hei t. Ich sah kein Grab, nur den Sarg, der sich langsam zwischen Blumen und Kr nzen hinuntersenkte, und gleichzeitig h rte ich das Ger usch einer Art von Motor, vielleicht waren es auch nur die Flammen im Keller darunter. Aber nein. Das Ger usch kam von meiner Mutter. Sie war die Einzige, die nicht aufgestanden war. Sie sa da, die Kiefer fest zusammengepresst, und knirschte mit den Z hnen, ihr Gesicht schien schief und viel zu kurz zu sein, es war, als h tte sie den Mund voller Grash pfer und Angst, sie k nnten herausspringen. Sie schaute nach unten und war nicht mehr in der Lage, jemandem in die Augen zu sehen. Sie sch mte sich wegen Vaters Tod.
Mutter war Witwe geworden. Und ab jetzt werde ich sie nur noch so nennen: die Witwe.
Ich beugte mich vor und schaute in das l ngliche Loch im Boden, dort, wo der Sarg gestanden hatte. Es sah aus wie ein Fahrstuhlschacht, voll mit Blumen, aber es fuhren hier keine Kabinen hoch und runter.
Vater unser.
Einer von Vaters Erfindern, ich glaube, er hie Holmsen, warf eine Rose hinein. Sie fiel und fiel und erreichte nie den Boden. Er trug eine Sonnenbrille, sein Haar war grau geworden, innerhalb eines einzigen Monats war es d nn und grau geworden, ich konnte sehen, dass es verwelkt war.
Am liebsten h tte ich ihn ber den Rand geschubst.
Stattdessen fl sterte ich:
"War nett letztes Mal."
Es durchzuckte ihn.
Jetzt stand auch die Tante da.
"Dass Sie es wagen! Verschwinden Sie!"
Der Mann, der Holmsen hie und eine neue Skibindung erfunden hatte, behielt die Sonnenbrille auf, holte tief Luft und ging, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen.
Der du bist im Himmel.
Doktor Ask, Vaters Freund und Arzt, dieser lange, d nne Mann mit den traurigen Augen, aber heute nicht, heute gab es einen anderen Glanz in ihnen, er blieb an seinem Platz stehen, als sich die Kapelle endlich geleert hatte. Dann kam er zu uns. Die Witwe war bereits in ihrer eigenen Welt, und er konnte nichts tun, als ihr vorsichtig auf die Schulter zu klopfen. So blieb er lange Zeit stehen, als w re auch er aus dieser Welt verschwunden, bis sich die Tante laut r usperte.
Doktor Ask wandte sich uns zu.
Er nahm die Hand der Tante, w hrend er mich ansah.
"Wenn ich irgendetwas tun kann, z gern Sie nicht, es mir zu sagen", fl sterte er.
Die Tante zog ihre Hand zur ck.
"Danke. Aber ab jetzt brauchen wir Sie nicht mehr."
Er stutzte.
"Entschuldigung, was meinen Sie damit?"
"Genau das, was ich gerade gesagt habe. Dass wir Sie nicht mehr brauchen."
"Das k nnen Sie doch nicht ernst meinen?"
"Doch. Das meinen wir ernst."
Doktor Ask z gerte einen Moment lang, nickte, vielleicht entt uscht, und ging dann den Mittelgang hinunter, bis er im Regen verschwand, der eingesetzt hatte.
Anschlie end nahmen wir ein Taxi bis zur Stra e hinter dem Schloss. Der Mund der Witwe war wieder entspannt geworden. Sie versuchte, meine Hand zu finden. Die Scheibenwischer schoben sich langsam ber die Windschutzscheibe. Die Tante sa vorn auf dem Beifahrersitz.
"Warum warst du sauer auf Holmsen?", fragte ich.
"Sei leise", sagte die Tante.
Ich musste innerlich lachen.
"Aber warum denn?", beharrte ich.
"Weil er deinen Vater mit seiner Erfindung reingelegt hat. Und jetzt bist du still!"
F nf Finger, die knackten.
Wir waren angekommen, in der breiten Stra e hinter dem Schloss.
Die Tante bezahlte. Ich lief ins Treppenhaus. Ganz unten auf der Treppe sa Emilie. Sie sa immer dort, in den blauen Schatten. Sie ging in die gleiche Schule wie ich, zwei Klassen unter mir. Ich blieb stehen. Emilie hatte einen offenen Gaumen und wei e Augenbrauen. Sie konnte die Sonne nicht vertragen. Sie starrte mich mit ihren farblosen Augen an, stand auf und ging zu ihrer T r. Bestimmt wusste sie schon, was passiert war mit Vater, denn alle wissen das, wor ber man nicht redet. Ich l chelte ihr zu. Da wurde sie rot. Das Blut schoss f r einen Moment unter die blasse Haut, und ihr fiel der Schl ssel auf die Fu matte. Sie versuchte auch zu l cheln, schaffte es aber nicht so recht, die Lippen waren zu fest zusammengen ht, es wurde nur zu einem gespaltenen L cheln. Ich beugte mich hinunter, meine Hand nahe an der ihren.
"Erinnerst du dich noch, was du mich gefragt hast?"
Emilie sch ttelte den Kopf.
"Du hast mich gefragt, warum ich so gemein bin."
"Das habe ich nicht so gemeint."
Ihre Stimme war genauso zart wie ihre Augen.
Nicht so gemeint?
War ich derjenige, der einem leidtun musste?
"Was hast du dann gemeint?"
Sie sch ttelte weiter den Kopf.
Ich kam ihr noch n her. Das wei e Haar roch nach Kampfer.
"Ich bin nicht gemein", sagte ich.
Ich f rchtete, sie k nnte anfangen zu weinen.
Und ich wiederholte die Worte der Witwe.
"Ich habe nur keine Scham im Leibe."
Emilie zog die Hand zu sich heran und versteckte sie auf dem R cken.
"Du Armer."
Das h tte sie nicht sagen sollen.
Ich ging hinter den anderen in unsere Etage hinauf, in die oberste. Im Eingang roch es nach Blumen, obwohl doch auf der Todesanzeige gestanden hatte: Bitte keine Blumen ins Trauerhaus. Die Tante schloss die T r und zog ins M dchenzimmer, den schmalen Raum hinter der K che. Da hatte keiner mehr gewohnt, seit die letzte Haushaltshilfe gefeuert worden war, ich kann damals nicht lter als drei gewesen sein, ich kann mich nicht mehr an sie erinnern, nur an den Tonfall ihrer Stimme, der einem dunklen Gesang hnelte. Es gab eine Glocke an der Wand, direkt ber dem Bett, die eine Verbindung zur gesamten Wohnung hatte, so dass sie jederzeit gerufen werden konnte, auch mitten in der Nacht, wenn es n tig war. An das Ger usch kann ich mich besser erinnern, ein schriller Ton, fast wie eine Fliegersirene. Zum Gl ck l utete niemand nach der Tante. Und die Witwe ging noch fr her zu Bett. Sie verlor den Halt. Die Nachbarn in der breiten Stra e hinter dem Schloss behaupteten, sie h tte den Verstand verloren, was nur zu gut zu verstehen sei. Schlie lich ging sie so fr h zu Bett, dass sie nicht mehr aufstand. Sie hatte gl cklicherweise nicht alles ber Vaters Tod erfahren, aber die knappen Informationen, die die Polizei ihr gegeben hatte, und die versteckte, aber dennoch ersch tternde Notiz in der Aftenposten waren mehr als genug, denn die Ger chte waren nicht misszuverstehen, Ger chte lassen sich nicht aufhalten, sie sind wie Tiere, die sich am Kadaver fettfressen.
Vaters Tod wurde heruntergespielt, aber alles, was heruntergespielt wird, kommt wieder hoch, an anderer Stelle, vielleicht direkt hinter dir, umso sch rfer, grausamer, dichter.
Die Tante versuchte mich zu tr sten.
"Wir m ssen wohl froh sein, dass wir ihn nicht gesehen haben", sagte sie.
Sp ter h rte ich sie des Nachts, als es angefangen hatte zu schneien und die Stra en im sp rlichen Licht der Stra enlaternen leer und wei wie eine fremde Landschaft dalagen, in der sich Reste einer Skispur wie eine Narbe entlang dem B rgersteig zogen, vielleicht war es Emilie gewesen, die am Abend zuvor drau en gewesen war, denn der Mond war das einzige, was sie ertrug.
"Es ist deine Schuld", fl sterte die Tante.
Die Witwe schluchzte und riss etwas zu Boden, die Lampe oder ein Glas.
"R um das auf!", schrie die Witwe.
Die Stimme der Tante:
"Ich bin nicht mehr dein Dienstm dchen! Dass du es nur wei t!"
Dann wurde es wieder still. Die Tante ging schlafen. Aber noch vor Weihnachten hatten sie die Zimmer getauscht. Die Witwe zog ins M dchenzimmer, und die Tante schlief in Vaters Bett. Sie sollte meine neue Mutter werden. Ich brauchte sie nicht. Sie war unn tig. Ich brauchte keine von beiden, weder die Tante noch die Witwe. Ich w re sie gern losgeworden.
Oft dachte ich an das, was der Pfarrer gesagt hatte, dass Vater Spuren hinterlassen hatte. Er hinterlie ein Paar Handschuhe, zw lf Jahrg nge von Life, ein Patent und einen Fotoapparat. Die Handschuhe legte die Tante in eine braune T te, die sie eigenh ndig hinuntertrug und in den M lleimer im Hof warf. Der Fotoapparat lag in einer Tasche auf dem B cherregal in der mittleren Stube. Vater war der Einzige, der ihn benutzt hatte. Und er machte nur im Sommer Fotos, wenn wir auf dem Lande waren, in dem wei en Haus im Schatten, ganz am Ende des Fjords.
Bald sollte alles mir geh ren, ich w rde die Hefte bernehmen, das Patent und den Fotoapparat. Aber die Handschuhe wollte ich nicht haben.
Zu meiner gro en Verwunderung bekam ich meinen Willen. Es war tats chlich, als br uchte ich nur an etwas zu denken, und schon geh rte es mir.
Ich war ein Kind, dessen Tr ume in Erf llung gingen.
Und eines Abends, gar nicht lange nach Vaters pl tzlichem, unpassendem Tod, w hrend die K lte wie ein leuchtendes Rad um den Mond stand und einen fr hen Winter ank ndigte, ging ich durch die drei Stuben und setzte mich in den tiefen Sessel, wo er immer gesessen hatte. Die Armlehnen waren abgewetzt, fast zerfetzt. Der wilde Wein hing wie d nne, gekappte Kabel am Fenster. Es roch nach Stearin, ganz stark, ich konnte nicht sagen, woher er kam, dieser Geruch nach Kerzenwachs, in der Luft erstarrt, wie eine Skulptur. Ich schaltete die Lampe ein. Die Hefte lagen auf einem Stapel auf dem Fu schemel. Ich legte mir die letzte Nummer, die Vater erhalten hatte, auf den Scho . Und diese Titelseite kann ich einfach nicht vergessen: Life, August 1963. Da ist ein Foto von Elizabeth Taylor und Richard Burton, ein Standfoto aus dem Film Kleopatra. Burton tr gt Taylor, und sie tr gt nur ein d nnes Tuch, Seide, fast durchsichtig. Der Umriss ihres K rpers tritt deutlich zutage, die Kleidung enth llt mehr, als dass sie verdeckt, die Br ste, den H ftbogen, die Schenkel, den Schatten zwischen den Beinen, die Rundung des Bauches, und dieses Bild wirkte so erregend auf mich, so intensiv und berw ltigend, dass ich sofort die Hand in die Hose schieben musste und meinen ersten Erguss hatte. Es war magnetisch, es war animalisch. Ich wurde bis zum Rande von einer ruhigen Ersch pfung erf llt, wie ich sie nach Vaters Tod gesp rt hatte. Doch im gleichen Moment wurde ich mir auch meiner Unruhe bewusst, denn ich wusste, dass ich mehr wollte.
Ich legte das Heft wieder auf den Hocker, und da entdeckte ich sie. Die Tante. Sie wartete in der hintersten Stube, im Schatten unter dem Kronleuchter, und sie starrte mich an. Ich dachte: Da habe ich gestanden und Vater beobachtet. Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen, nur die Augen, sie war zu weit entfernt, aber diese magere, dunkle Gestalt hatte etwas L cherliches an sich, ein schiefes, unm gliches Gewicht, das sie fast umwarf - Neugier und Verachtung. Ich blieb sitzen, bis sie gegangen war. Die Uhr im Eingang schlug zehn Mal. Ich ging ins Bad, verschloss die T r und wusch mich lange.
In dieser Nacht tr umte ich. Ich tr umte, dass ich Vaters Handschuhe im M lleimer auf dem Hinterhof fand. Als ich sie berziehen wollte, gab es keinen Platz f r meine H nde, und ich sah, dass Vaters H nde immer noch drinnen waren, in den Handschuhen. Ich wachte auf, unruhig. Der Traum hatte mich ersch ttert. Ich ging nicht zur Schule. Ich h rte, wie die Tante fortging, um einzukaufen, vielleicht wollte sie auch auf den Friedhof. Die Urne musste in die Erde, bevor der Boden fror. Die Witwe stand auch an diesem Tag nicht auf. Ich schlich mich in die K che und trank ein Glas Milch. Es hatte angefangen zu schneien. Ich f hlte mich bereits besser. Mir gefiel die Ruhe an so einem Morgen, wenn ich die Wohnung f r mich hatte. Die Zeit bekam eine andere Geschwindigkeit. Ich konnte sie herunterschrauben, meinem Rhythmus anpassen. Einen Moment lang horchte ich: Das Atmen der Witwe im M dchenzimmer, d nn wie der Schnee, der sich wie eine unruhige Haut auf den Hinterhof gelegt hatte, ber die M lleimer, die W scheleinen, die Fahrr der, wie ein Pelz aus Schnee, dachte ich.
In dem Moment kam Emilie die Hintertreppe herauf, mit einem karierten Ranzen auf dem R cken. Ihr Gesicht war so wei unter der blauen Kapuze, wei er als alles um sie herum, als wollte sie den Winter nachahmen.Vorsichtig schaute sie zu dem Fenster hoch, hinter dem ich stand. Ich hob die Hand. Sofort senkte sie den Blick, vielleicht wurde sie geblendet, und lief schnell weiter. Dann ging ich in die hinterste Stube und setzte mich hin, in Vaters Sessel. Ich legte mir das gleiche Heft auf den Scho , Life, August 1963. Aber das Bild auf der Titelseite hatte keine Wirkung mehr. Es war aufgebraucht, ausgeleert, und ich f hlte eine verbl ffende Trauer ber den Verlust des Genusses. Vielleicht war das das Schlimmste, dass ich wusste, was mir entging, jetzt, nachdem ich es kennengelernt hatte, den Magnetismus, die scharfen R nder der Erregung. Ich sehnte mich bereits zur ck, zu der Zeit davor, doch es war zu sp t, es war passiert.
"Kann ich die Hefte haben?", fragte ich.
Mutter schaute mich an, verwundert.
"Was meinst du?"
"Life. Kann ich sie jetzt haben?"
Mutter setzte sich im Bett auf, hob die Hand, und ich glaubte, sie wollte mich schlagen, und duckte mich, aber meine Tante konnte sie aufhalten.
"Nun, nun, das war doch nicht so gemeint", fl sterte sie.
Aber ich hatte es genau so gemeint. Ich wollte die Hefte haben. Es gab keine Hintergedanken in meinen Worten, keine Bosheit in meinem frommen Wunsch. Mutters Augen wurden trocken und kalt. Sie war seiner Ideen berdr ssig, und sie war meiner berdr ssig, als wenn alles, was passiert war, meine Schuld gewesen w re.
"Du solltest dich sch men", sagte sie. "Sch m dich!"
Und vielleicht war es genau da, in diesem Augenblick, als Mutter sagte, ich solle mich sch men, dass mir meine Schamlosigkeit ungewohnt deutlich vor Augen stand. Es ist mein Gebrechen, und es ist vorgekommen, dass ich mich gefragt habe: Ist das der Punkt, wo das Licht eindringt, oder ist es der Punkt, wo das Dunkel hervorquillt?
Ich habe kein Schamgef hl.
Vater wurde sieben Tage sp ter im Vestre Krematorium beigesetzt. Erst da beschloss Mutter aufzustehen. Sie weinte und kleidete sich schwarz. Es war die Tante, die alles organisiert hatte, Blumen, Anzeige, Telefonate, Anw lte, Polizei. Sie war diejenige, die ins Krankenhaus fuhr, um meinen Vater zu sehen, ihren Bruder, zum letzten Mal, aber das wurde ihr nicht erlaubt, der Sarg, in dem er lag, war bereits verplombt. Es war Vaters Arzt, Doktor Ask, der es ihr abschlug, er sagte, er tue das aus R cksicht auf uns alle, denn Vater war kein sch ner Anblick.
Doch das, was man nicht zu sehen bekommt, wird vor unseren Augen nur noch schlimmer. Es w chst. Es verschwindet nie. Unwissenheit ist ein Treibhaus, in dem die schrecklichsten Blumen wachsen.
Das Wetter war an dem Tag gar nicht so schlecht.
Ich sa in der ersten Reihe zwischen Mutter und Tante. Mutter hatte aufgeh rt zu weinen. Die Tante war immer noch w tend. Den ganzen Mittelgang hinunter lagen Blumen, als w re der Sarg an einem Seil aus Blumenst ngeln vert ut. Hinter mir h rte ich Stimmen, die kraftvoll sangen, Stimmen, die schwiegen, und einige, die nur fl sterten. Es gab nicht einen freien Platz. Einige mussten sogar unter den Bogeng ngen an den W nden stehen. Der Pfarrer sagte, dass mein Vater, der Patentingenieur, zweiter Vorsitzender im Norwegischen Erfinderverein von 1955-59, im Ged chtnis bleiben und niemals vergessen werden w rde. Da war es ganz still im Krematorium. Der Pfarrer sagte, dass mein Vater Spuren hinterlassen habe.
Und w hrend der Pfarrer das sagte, hatte ich das Gef hl, als rede er von jemand anderem, einem, von dem ich nicht wusste, wer es sein sollte. Und ich dachte weiter, dass wir wohl auf der falschen Beerdigung gelandet waren, dass das nur einer von Mutters Einf llen war, ihre verr ckteste Idee bis jetzt, es war gar nicht mein Vater, der da im Sarg lag, die Blumen waren nicht f r ihn bestimmt. Aber vielleicht kannten ja alle, die an diesem Tag im Krematorium waren, meinen Vater jeweils auf andere Art und Weise? Was h tte ich geantwortet, wenn mich jemand gefragt h tte, wer mein Vater war? Ich h tte gesagt: der Mann mit den schmutzigen Handschuhen in der hintersten Stube.
Die Feier fand ihren Abschluss am Grab, wie es so sch n hei t. Ich sah kein Grab, nur den Sarg, der sich langsam zwischen Blumen und Kr nzen hinuntersenkte, und gleichzeitig h rte ich das Ger usch einer Art von Motor, vielleicht waren es auch nur die Flammen im Keller darunter. Aber nein. Das Ger usch kam von meiner Mutter. Sie war die Einzige, die nicht aufgestanden war. Sie sa da, die Kiefer fest zusammengepresst, und knirschte mit den Z hnen, ihr Gesicht schien schief und viel zu kurz zu sein, es war, als h tte sie den Mund voller Grash pfer und Angst, sie k nnten herausspringen. Sie schaute nach unten und war nicht mehr in der Lage, jemandem in die Augen zu sehen. Sie sch mte sich wegen Vaters Tod.
Mutter war Witwe geworden. Und ab jetzt werde ich sie nur noch so nennen: die Witwe.
Ich beugte mich vor und schaute in das l ngliche Loch im Boden, dort, wo der Sarg gestanden hatte. Es sah aus wie ein Fahrstuhlschacht, voll mit Blumen, aber es fuhren hier keine Kabinen hoch und runter.
Vater unser.
Einer von Vaters Erfindern, ich glaube, er hie Holmsen, warf eine Rose hinein. Sie fiel und fiel und erreichte nie den Boden. Er trug eine Sonnenbrille, sein Haar war grau geworden, innerhalb eines einzigen Monats war es d nn und grau geworden, ich konnte sehen, dass es verwelkt war.
Am liebsten h tte ich ihn ber den Rand geschubst.
Stattdessen fl sterte ich:
"War nett letztes Mal."
Es durchzuckte ihn.
Jetzt stand auch die Tante da.
"Dass Sie es wagen! Verschwinden Sie!"
Der Mann, der Holmsen hie und eine neue Skibindung erfunden hatte, behielt die Sonnenbrille auf, holte tief Luft und ging, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen.
Der du bist im Himmel.
Doktor Ask, Vaters Freund und Arzt, dieser lange, d nne Mann mit den traurigen Augen, aber heute nicht, heute gab es einen anderen Glanz in ihnen, er blieb an seinem Platz stehen, als sich die Kapelle endlich geleert hatte. Dann kam er zu uns. Die Witwe war bereits in ihrer eigenen Welt, und er konnte nichts tun, als ihr vorsichtig auf die Schulter zu klopfen. So blieb er lange Zeit stehen, als w re auch er aus dieser Welt verschwunden, bis sich die Tante laut r usperte.
Doktor Ask wandte sich uns zu.
Er nahm die Hand der Tante, w hrend er mich ansah.
"Wenn ich irgendetwas tun kann, z gern Sie nicht, es mir zu sagen", fl sterte er.
Die Tante zog ihre Hand zur ck.
"Danke. Aber ab jetzt brauchen wir Sie nicht mehr."
Er stutzte.
"Entschuldigung, was meinen Sie damit?"
"Genau das, was ich gerade gesagt habe. Dass wir Sie nicht mehr brauchen."
"Das k nnen Sie doch nicht ernst meinen?"
"Doch. Das meinen wir ernst."
Doktor Ask z gerte einen Moment lang, nickte, vielleicht entt uscht, und ging dann den Mittelgang hinunter, bis er im Regen verschwand, der eingesetzt hatte.
Anschlie end nahmen wir ein Taxi bis zur Stra e hinter dem Schloss. Der Mund der Witwe war wieder entspannt geworden. Sie versuchte, meine Hand zu finden. Die Scheibenwischer schoben sich langsam ber die Windschutzscheibe. Die Tante sa vorn auf dem Beifahrersitz.
"Warum warst du sauer auf Holmsen?", fragte ich.
"Sei leise", sagte die Tante.
Ich musste innerlich lachen.
"Aber warum denn?", beharrte ich.
"Weil er deinen Vater mit seiner Erfindung reingelegt hat. Und jetzt bist du still!"
F nf Finger, die knackten.
Wir waren angekommen, in der breiten Stra e hinter dem Schloss.
Die Tante bezahlte. Ich lief ins Treppenhaus. Ganz unten auf der Treppe sa Emilie. Sie sa immer dort, in den blauen Schatten. Sie ging in die gleiche Schule wie ich, zwei Klassen unter mir. Ich blieb stehen. Emilie hatte einen offenen Gaumen und wei e Augenbrauen. Sie konnte die Sonne nicht vertragen. Sie starrte mich mit ihren farblosen Augen an, stand auf und ging zu ihrer T r. Bestimmt wusste sie schon, was passiert war mit Vater, denn alle wissen das, wor ber man nicht redet. Ich l chelte ihr zu. Da wurde sie rot. Das Blut schoss f r einen Moment unter die blasse Haut, und ihr fiel der Schl ssel auf die Fu matte. Sie versuchte auch zu l cheln, schaffte es aber nicht so recht, die Lippen waren zu fest zusammengen ht, es wurde nur zu einem gespaltenen L cheln. Ich beugte mich hinunter, meine Hand nahe an der ihren.
"Erinnerst du dich noch, was du mich gefragt hast?"
Emilie sch ttelte den Kopf.
"Du hast mich gefragt, warum ich so gemein bin."
"Das habe ich nicht so gemeint."
Ihre Stimme war genauso zart wie ihre Augen.
Nicht so gemeint?
War ich derjenige, der einem leidtun musste?
"Was hast du dann gemeint?"
Sie sch ttelte weiter den Kopf.
Ich kam ihr noch n her. Das wei e Haar roch nach Kampfer.
"Ich bin nicht gemein", sagte ich.
Ich f rchtete, sie k nnte anfangen zu weinen.
Und ich wiederholte die Worte der Witwe.
"Ich habe nur keine Scham im Leibe."
Emilie zog die Hand zu sich heran und versteckte sie auf dem R cken.
"Du Armer."
Das h tte sie nicht sagen sollen.
Ich ging hinter den anderen in unsere Etage hinauf, in die oberste. Im Eingang roch es nach Blumen, obwohl doch auf der Todesanzeige gestanden hatte: Bitte keine Blumen ins Trauerhaus. Die Tante schloss die T r und zog ins M dchenzimmer, den schmalen Raum hinter der K che. Da hatte keiner mehr gewohnt, seit die letzte Haushaltshilfe gefeuert worden war, ich kann damals nicht lter als drei gewesen sein, ich kann mich nicht mehr an sie erinnern, nur an den Tonfall ihrer Stimme, der einem dunklen Gesang hnelte. Es gab eine Glocke an der Wand, direkt ber dem Bett, die eine Verbindung zur gesamten Wohnung hatte, so dass sie jederzeit gerufen werden konnte, auch mitten in der Nacht, wenn es n tig war. An das Ger usch kann ich mich besser erinnern, ein schriller Ton, fast wie eine Fliegersirene. Zum Gl ck l utete niemand nach der Tante. Und die Witwe ging noch fr her zu Bett. Sie verlor den Halt. Die Nachbarn in der breiten Stra e hinter dem Schloss behaupteten, sie h tte den Verstand verloren, was nur zu gut zu verstehen sei. Schlie lich ging sie so fr h zu Bett, dass sie nicht mehr aufstand. Sie hatte gl cklicherweise nicht alles ber Vaters Tod erfahren, aber die knappen Informationen, die die Polizei ihr gegeben hatte, und die versteckte, aber dennoch ersch tternde Notiz in der Aftenposten waren mehr als genug, denn die Ger chte waren nicht misszuverstehen, Ger chte lassen sich nicht aufhalten, sie sind wie Tiere, die sich am Kadaver fettfressen.
Vaters Tod wurde heruntergespielt, aber alles, was heruntergespielt wird, kommt wieder hoch, an anderer Stelle, vielleicht direkt hinter dir, umso sch rfer, grausamer, dichter.
Die Tante versuchte mich zu tr sten.
"Wir m ssen wohl froh sein, dass wir ihn nicht gesehen haben", sagte sie.
Sp ter h rte ich sie des Nachts, als es angefangen hatte zu schneien und die Stra en im sp rlichen Licht der Stra enlaternen leer und wei wie eine fremde Landschaft dalagen, in der sich Reste einer Skispur wie eine Narbe entlang dem B rgersteig zogen, vielleicht war es Emilie gewesen, die am Abend zuvor drau en gewesen war, denn der Mond war das einzige, was sie ertrug.
"Es ist deine Schuld", fl sterte die Tante.
Die Witwe schluchzte und riss etwas zu Boden, die Lampe oder ein Glas.
"R um das auf!", schrie die Witwe.
Die Stimme der Tante:
"Ich bin nicht mehr dein Dienstm dchen! Dass du es nur wei t!"
Dann wurde es wieder still. Die Tante ging schlafen. Aber noch vor Weihnachten hatten sie die Zimmer getauscht. Die Witwe zog ins M dchenzimmer, und die Tante schlief in Vaters Bett. Sie sollte meine neue Mutter werden. Ich brauchte sie nicht. Sie war unn tig. Ich brauchte keine von beiden, weder die Tante noch die Witwe. Ich w re sie gern losgeworden.
Oft dachte ich an das, was der Pfarrer gesagt hatte, dass Vater Spuren hinterlassen hatte. Er hinterlie ein Paar Handschuhe, zw lf Jahrg nge von Life, ein Patent und einen Fotoapparat. Die Handschuhe legte die Tante in eine braune T te, die sie eigenh ndig hinuntertrug und in den M lleimer im Hof warf. Der Fotoapparat lag in einer Tasche auf dem B cherregal in der mittleren Stube. Vater war der Einzige, der ihn benutzt hatte. Und er machte nur im Sommer Fotos, wenn wir auf dem Lande waren, in dem wei en Haus im Schatten, ganz am Ende des Fjords.
Bald sollte alles mir geh ren, ich w rde die Hefte bernehmen, das Patent und den Fotoapparat. Aber die Handschuhe wollte ich nicht haben.
Zu meiner gro en Verwunderung bekam ich meinen Willen. Es war tats chlich, als br uchte ich nur an etwas zu denken, und schon geh rte es mir.
Ich war ein Kind, dessen Tr ume in Erf llung gingen.
Und eines Abends, gar nicht lange nach Vaters pl tzlichem, unpassendem Tod, w hrend die K lte wie ein leuchtendes Rad um den Mond stand und einen fr hen Winter ank ndigte, ging ich durch die drei Stuben und setzte mich in den tiefen Sessel, wo er immer gesessen hatte. Die Armlehnen waren abgewetzt, fast zerfetzt. Der wilde Wein hing wie d nne, gekappte Kabel am Fenster. Es roch nach Stearin, ganz stark, ich konnte nicht sagen, woher er kam, dieser Geruch nach Kerzenwachs, in der Luft erstarrt, wie eine Skulptur. Ich schaltete die Lampe ein. Die Hefte lagen auf einem Stapel auf dem Fu schemel. Ich legte mir die letzte Nummer, die Vater erhalten hatte, auf den Scho . Und diese Titelseite kann ich einfach nicht vergessen: Life, August 1963. Da ist ein Foto von Elizabeth Taylor und Richard Burton, ein Standfoto aus dem Film Kleopatra. Burton tr gt Taylor, und sie tr gt nur ein d nnes Tuch, Seide, fast durchsichtig. Der Umriss ihres K rpers tritt deutlich zutage, die Kleidung enth llt mehr, als dass sie verdeckt, die Br ste, den H ftbogen, die Schenkel, den Schatten zwischen den Beinen, die Rundung des Bauches, und dieses Bild wirkte so erregend auf mich, so intensiv und berw ltigend, dass ich sofort die Hand in die Hose schieben musste und meinen ersten Erguss hatte. Es war magnetisch, es war animalisch. Ich wurde bis zum Rande von einer ruhigen Ersch pfung erf llt, wie ich sie nach Vaters Tod gesp rt hatte. Doch im gleichen Moment wurde ich mir auch meiner Unruhe bewusst, denn ich wusste, dass ich mehr wollte.
Ich legte das Heft wieder auf den Hocker, und da entdeckte ich sie. Die Tante. Sie wartete in der hintersten Stube, im Schatten unter dem Kronleuchter, und sie starrte mich an. Ich dachte: Da habe ich gestanden und Vater beobachtet. Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen, nur die Augen, sie war zu weit entfernt, aber diese magere, dunkle Gestalt hatte etwas L cherliches an sich, ein schiefes, unm gliches Gewicht, das sie fast umwarf - Neugier und Verachtung. Ich blieb sitzen, bis sie gegangen war. Die Uhr im Eingang schlug zehn Mal. Ich ging ins Bad, verschloss die T r und wusch mich lange.
In dieser Nacht tr umte ich. Ich tr umte, dass ich Vaters Handschuhe im M lleimer auf dem Hinterhof fand. Als ich sie berziehen wollte, gab es keinen Platz f r meine H nde, und ich sah, dass Vaters H nde immer noch drinnen waren, in den Handschuhen. Ich wachte auf, unruhig. Der Traum hatte mich ersch ttert. Ich ging nicht zur Schule. Ich h rte, wie die Tante fortging, um einzukaufen, vielleicht wollte sie auch auf den Friedhof. Die Urne musste in die Erde, bevor der Boden fror. Die Witwe stand auch an diesem Tag nicht auf. Ich schlich mich in die K che und trank ein Glas Milch. Es hatte angefangen zu schneien. Ich f hlte mich bereits besser. Mir gefiel die Ruhe an so einem Morgen, wenn ich die Wohnung f r mich hatte. Die Zeit bekam eine andere Geschwindigkeit. Ich konnte sie herunterschrauben, meinem Rhythmus anpassen. Einen Moment lang horchte ich: Das Atmen der Witwe im M dchenzimmer, d nn wie der Schnee, der sich wie eine unruhige Haut auf den Hinterhof gelegt hatte, ber die M lleimer, die W scheleinen, die Fahrr der, wie ein Pelz aus Schnee, dachte ich.
In dem Moment kam Emilie die Hintertreppe herauf, mit einem karierten Ranzen auf dem R cken. Ihr Gesicht war so wei unter der blauen Kapuze, wei er als alles um sie herum, als wollte sie den Winter nachahmen.Vorsichtig schaute sie zu dem Fenster hoch, hinter dem ich stand. Ich hob die Hand. Sofort senkte sie den Blick, vielleicht wurde sie geblendet, und lief schnell weiter. Dann ging ich in die hinterste Stube und setzte mich hin, in Vaters Sessel. Ich legte mir das gleiche Heft auf den Scho , Life, August 1963. Aber das Bild auf der Titelseite hatte keine Wirkung mehr. Es war aufgebraucht, ausgeleert, und ich f hlte eine verbl ffende Trauer ber den Verlust des Genusses. Vielleicht war das das Schlimmste, dass ich wusste, was mir entging, jetzt, nachdem ich es kennengelernt hatte, den Magnetismus, die scharfen R nder der Erregung. Ich sehnte mich bereits zur ck, zu der Zeit davor, doch es war zu sp t, es war passiert.
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Autoren-Porträt von Lars S. Christensen
Lars Saabye Christensen, geboren 1953 in Oslo, ist ein sehr bedeutender norwegischer Autor der Gegenwart. Publikation zahlreicher Romane, Kurzgeschichten und neun Gedichtbänden. 1984 literarischer Durchbruch in Norwegen. Vielfache Auszeichnungen, z. T. Übersetzungen in mehr als zwanzig Sprachen.Christel Hildebrandt, geb. 1952 in Lauenburg, studierte Germanistik, Soziologie und Literaturwissenschaft und wandte sich nach der Promotion der skandinavischen Literatur zu. Seit 1988 arbeitet sie als freie literarische Übersetzerin aus den Sprachen Norwegisch, Dänisch und Schwedisch. Sie erhielt den Paul-Celan-Preis nominiert wurde. Daneben reicht die Palette ihrer Übersetzungen von Henrik Ibsen bis zu Håkan Nesser, Jógvan Isaksen und Hanne Marie Svendsen. Mit ihrem Mann, drei Töchtern und einer Katze lebt Christel Hildebrandt in Hamburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lars S. Christensen
- 2007, 1, 286 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Hildebrandt, Christel
- Übersetzer: Christel Hildebrandt
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442751349
- ISBN-13: 9783442751341
Rezension zu „Nachtschatten “
"Christensens bester Roman!"
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