Nenn es Himmel
Roman
Paul und Lexy Iverson - sie sind füreinander die Liebe ihres Lebens: Seit dem Tag, an dem sich ihre Wege kreuzten, haben sie einander nicht mehr verlassen, und keiner kann sich eine Zukunft ohne den anderen vorstellen. Für Paul bricht deshalb eine Welt...
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Buch
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Nenn es Himmel “
Paul und Lexy Iverson - sie sind füreinander die Liebe ihres Lebens: Seit dem Tag, an dem sich ihre Wege kreuzten, haben sie einander nicht mehr verlassen, und keiner kann sich eine Zukunft ohne den anderen vorstellen. Für Paul bricht deshalb eine Welt zusammen, als Lexy eines Tages tot im Garten aufgefunden wird - herabgestürzt von einem hohen Apfelbaum. War es ein Unfall? Oder hat sich die traumtänzerische Lexy, die immer schon in ihrer ganz eigenen märchenhaften Welt lebte, in einer Anwandlung von tiefer Traurigkeit das Leben genommen? Verzweifelt sucht Paul nach Anhaltspunkten, um die Wahrheit über diesen mysteriösen Tod herauszufinden. Wie einen Film lässt er sein Leben mit Lexy noch einmal vor seinen Augen Revue passieren, all die Momente voller Magie und Zärtlichkeit, die er mit ihr verbrachte - und schließlich erkennt er, dass er Lexy erst verlieren musste, um zu begreifen, wer diese rätselhafte junge Frau wirklich gewesen ist.
Klappentext zu „Nenn es Himmel “
Paul und Lexy Iverson - sie sind füreinander die Liebe ihres Lebens: Seit dem Tag, an dem sich ihre Wege kreuzten, haben sie einander nicht mehr verlassen, und keiner kann sich eine Zukunft ohne den anderen vorstellen. Für Paul bricht deshalb eine Welt zusammen, als Lexy eines Tages tot im Garten aufgefunden wird - herabgestürzt von einem hohen Apfelbaum. War es ein Unfall? Oder hat sich die traumtänzerische Lexy, die immer schon in ihrer ganz eigenen märchenhaften Welt lebte, in einer Anwandlung von tiefer Traurigkeit das Leben genommen? Verzweifelt sucht Paul nach Anhaltspunkten, um die Wahrheit über diesen mysteriösen Tod herauszufinden. Wie einen Film lässt er sein Leben mit Lexy noch einmal vor seinen Augen Revue passieren, all die Momente voller Magie und Zärtlichkeit, die er mit ihr verbrachte - und schließlich erkennt er, dass er Lexy erst verlieren musste, um zu begreifen, wer diese rätselhafte junge Frau wirklich gewesen ist.
Lese-Probe zu „Nenn es Himmel “
KAPITEL 1Folgendes wissen wir - diejenigen unter uns, die sprechen und eine Geschichte erzählen können:
Am Nachmittag des 24. Oktober kletterte meine Frau, Lexy Ransome, auf den Apfelbaum in unserem Garten und stürzte in den Tod. Es gab keine Zeugen, außer unserer Hündin Lorelei. Das Ganze geschah an einem Werktag, und keiner unserer Nachbarn war zu Hause, saß womöglich bei offenem Fenster in der Küche und bekam mit, ob meine Frau in diesem kurzen Augenblick in der Luft aufschrie oder keuchte oder ob sie gar keinen Laut von sich gab. Keiner der Nachbarn arbeitete im Garten, genoss womöglich einen der letzten warmen Tage und sah, ob ihr Körper zusammensackte, bevor sie auf dem Boden aufschlug, ob sie sich in der Luft aufzurichten versuchte oder ob sie einfach nur die Arme zum Himmel hochriss und sich fallen ließ.
Ich war in der Universitätsbibliothek, als es passierte, und bereitete einen Vortrag vor, den ich auf einem Symposium halten sollte. Ich hatte abends noch eine Lehrveranstaltung, und hätte ich nicht zu Hause angerufen, um Lexy etwas Interessantes über einen Film zu erzählen, den sie sich schon seit längerem ansehen wollte, dann hätte ich womöglich mein Seminar abgehalten, wäre danach wie jede Woche mit meinen Studenten ein Bier trinken gegangen und hätte in fröhlicher Ahnungslosigkeit noch ein paar letzte Stunden Normalität erlebt, während in meinem Garten schon die Polizisten im Dreck knieten.
So aber wählte ich unsere Telefonnummer, und ein Mann nahm ab. "Bei Ransome", sagte er.
Einen Moment lang schwieg ich verwirrt. Ich ging im Geiste die Stimmen sämtlicher männlicher Freunde und Verwandter durch, die sich aus irgendeinem Grunde bei uns zu Hause aufhalten könnten, aber keine davon entsprach der Stimme am anderen Ende der Leitung. Außerdem irritierten mich die Worte "bei Ransome" - ich heiße mit Nachnamen Iverson, und einen Fremden von meinem Zuhause so sprechen zu hören, als wohnte bloß Lexy dort, gab mir das seltsame Gefühl, im Laufe des
... mehr
Nachmittags aus dem Drehbuch meines eigenen Lebens gestrichen worden zu sein.
"Könnte ich bitte mit Lexy sprechen?", bat ich schließlich.
"Darf ich fragen, wer am Apparat ist?", erwiderte der Mann.
"Ich bin ihr Mann. Paul Iverson."
"Mr. Iverson, ich bin Detective Anthony Stack. Ich muss Sie leider bitten, sofort nach Hause zu kommen. Es ist etwas passiert."
Offenbar hat Loreleis Verhalten dazu geführt, dass die Polizei gerufen wurde. Als unsere Nachbarn einer nach dem anderen von der Arbeit zurückkamen, hörten sie aus unserem Garten Loreleis endloses, klagendes Heulen. Die meisten kannten sie und waren ihr tiefes, volltönendes Bellen gewohnt, wenn sie im Garten hinter Vögeln und Eichhörnchen herjagte. Doch so ein Geräusch hatten sie von ihr noch nie gehört. Unser Nachbar zur Linken, Jim Perasso, war der erste, der über unseren Zaun schaute, er machte die Entdeckung. Es war schon dunkel draußen - in der vorangegangenen Woche war die Zeit umgestellt worden, so dass es jetzt immer schon um fünf dunkel war -, doch da Lorelei aufgeregt zwischen dem Apfelbaum und unserer Hintertür hin und her rannte, schaltete der Bewegungsmelder immer wieder die Sicherheitsbeleuchtung ein. Jedesmal wenn sie eine Runde gedreht hatte, stupste sie Lexys Leiche mit der Schnauze an und blieb lang genug stehen, um die Beleuchtung wieder ausgehen zu lassen; sobald sie dann ihre wilde Jagd durch den Garten wieder aufnahm, von einer Ecke zur anderen, ging die Beleuchtung erneut an. In diesem surrealen, stroboskoplichtartigen Geflacker sah Jim Lexy unter dem Baum liegen und rief die Polizei.
Als ich zu Hause eintraf, war der Garten mit gelbem Absperrband abgeriegelt, und ein Mann kam mir über den Rasen entgegen. Er stellte sich als derjenige vor, mit dem ich am Telefon gesprochen hatte, führte mich ins Wohnzimmer und hieß mich Platz nehmen. Ich ahnte wohl, was kommen würde. Schon jetzt fühlte sich das Haus still und nackt an, so als wäre es des ganzen Lebens, von dem es morgens noch erfüllt gewesen war, beraubt. Selbst Lorelei war nicht mehr da, man hatte ihr ein Beruhigungsmittel gegeben und sie über Nacht in ein Tierheim gebracht.
Ich saß wie betäubt da, während Detective Stack mir erzählte, was passiert war.
"Haben Sie irgendeine Vorstellung, was Ihre Frau auf dem Baum gemacht haben könnte?", fragte er.
"Keine Ahnung", sagte ich. Sie hatte, solange ich sie kannte, nie das geringste Interesse daran gezeigt, auf Bäume zu klettern, und gerade dieser kann als erster nicht einfach gewesen sein. Der Apfelbaum in unserem Garten ist ungewöhnlich groß, ein Monstrum im Vergleich zu den Zwergbäumen, die auf Obstplantagen wachsen. Wir hatten ihn vernachlässigt, hatten ihn in der ganzen Zeit, die wir dort wohnten, kein einziges Mal zurückgeschnitten, so dass er inzwischen ungebührliche acht oder neun Meter hoch war. Ich konnte mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, was sie dort oben gemacht hatte. Detective Stack beobachtete mich genau. "Vielleicht wollte sie ein paar Äpfel pflücken", sagte ich kläglich.
"Nun ja, das scheint die logische Antwort zu sein." Er schaute mich an, dann sah er zu Boden. "Es scheint uns ziemlich offensichtlich, dass Ihre Frau durch einen Unfall zu Tode gekommen ist, aber wir müssen in Fällen wie diesem, wo es keine Zeugen gibt, eine kurze Ermittlung durchführen, um ganz ausschließen zu können, dass es sich um einen Selbstmord handelt. Deshalb muss ich Sie fragen: Kam Ihnen Ihre Frau in letzter Zeit irgendwie niedergeschlagen vor? Hat sie jemals, und sei es nur beiläufig, von Selbstmord gesprochen?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Ich hatte es auch nicht erwartet", sagte er. "Aber ich muss diese Frage stellen."
Als die Männer im Garten ihre Fotos gemacht und ihr Beweismaterial sichergestellt hatten, sprach Detective Stack kurz mit ihnen und teilte mir dann mit, dass alles zur Zufriedenheit geklärt sei. Es sei eindeutig ein Unfall gewesen. Offenbar gibt es zwei Arten zu fallen, und jede sagt etwas aus. Wenn man aus großer Höhe springt, selbst aus dem neunten oder zehnten Stock, kann man Einfluss darauf nehmen, wie man fällt. Wenn man auf den Füßen landet, erleidet man unter Umständen schwere Verletzungen an Beinen und Wirbelsäule, kann den Sturz aber überleben. Wenn man jedoch in den obersten Ästen eines Apfelbaums den Halt verliert, acht Meter über dem Boden, dann hat man keinerlei Einfluss darauf, wie man fällt. Man trudelt womöglich durch die Luft und landet auf dem Bauch oder Kopf. Es kann sein, dass die Haut nach dem Sturz vollkommen unversehrt und doch jeder Knochen gebrochen, jedes Organ zerquetscht ist. So kann man erkennen, ob jemand gesprungen oder gefallen ist. Als Lexy gefunden wurde, lag sie auf dem Rücken, und ihr Genick war gebrochen. Daher wissen wir, dass sie nicht gesprungen ist.
Später, als die Polizei gegangen war und man Lexys Leiche fortgebracht hatte, trat ich in den Garten hinaus. Unter dem Baum stand ein Korb mit Äpfeln. Sie war auf den Baum gestiegen, um die letzten Äpfel zu pflücken, bevor sie am Ast verfaulten. Vielleicht wollte sie etwas backen, vielleicht wollte sie die Äpfel in eine hübsche Schüssel legen, damit wir an einem sonnigen Fleckchen ein bisschen was knabbern konnten. Ich klaubte die Äpfel sorgfältig auf und trug sie ins Haus. Ich ließ sie auf dem Küchentisch liegen, bis ihr süßer fauliger Geruch die Fliegen anlockte.
Erst nach der Beerdigung stieß ich auf gewisse Hinweise - das heißt, vielleicht ist Hinweis nicht das richtige Wort, denn es schließt die Möglichkeit aus, dass es sich um puren Zufall oder aber um eine Überinterpretation meinerseits handelte. Zu behaupten, ich hätte "Hinweise" entdeckt, klingt so, als hätte jemand Informationen gezielt mit der Absicht platziert, mich zu einer Schlussfolgerung zu führen, die keineswegs auf der Hand liegt, jedoch so schlagend ist, dass an ihrer Richtigkeit kein Zweifel bestehen kann. Aber ich glaube nicht, dass ich es so leicht haben werde. Vielleicht sollte ich lieber sagen, dass ich gewisse Ungereimtheiten entdeckte, Unstimmigkeiten, die nahe legten, dass der Tag, an dem Lexy starb, kein normaler Tag gewesen war.
Die erste dieser Ungereimtheiten hatte mit unseren Bücherregalen zu tun. Lexy und ich lasen beide gern und viel, und unsere Bücher waren, wie vermutlich die der meisten Leute, halbherzig und nach mehreren verschiedenen Systemen sortiert. Auf einigen Regalen waren die Bücher nach Größe geordnet - die großen Bildbände standen auf dem untersten Brett, und wo sonst nichts mehr hineingepasst hätte, steckten die Billigtaschenbücher. Es gab kleine Enklaven thematisch geordneter Bücher - unsere Kochbücher standen zum Beispiel alle auf demselben Regal -, aber dieses System war zu mühsam, um es konsequent durchzuziehen. Schließlich gab es noch ihre Bücher und meine Bücher - Bücher, die unsere jeweiligen persönlichen Interessen widerspiegelten, und Bücher, die wir jeweils schon vor unserer Heirat besessen hatten und die auf dem Regal zusammen standen. Der Rest war ein kunterbuntes Durcheinander. Trotzdem hatte ich ein Gefühl dafür entwickelt, welches Buch wo stand. Hatte eine ungefähre Erinnerung, den Roman, der mir mit zwanzig so wichtig gewesen war, zwischen einem Gedichtband, den wir zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten, und einem Science-Fiction-Thriller gesehen zu haben, den ich einmal im Sommer am Strand gelesen hatte. Auf die Frage, wo ein bestimmtes, von mir mitverfasstes Lehrbuch zu finden sei, hätte ich zielsicher auf seinen Platz zwischen einer Beatles-Biographie und einem Buch übers "Bierbrauen zu Hause" gezeigt. Daher weiß ich, dass Lexy die Bücher umgestellt hat, bevor sie starb.
Die zweite Ungereimtheit hat mit Lorelei zu tun. Soweit ich es rekonstruieren kann, hat Lexy ein Steak, das wir eigentlich abends hatten grillen wollen, aus dem Kühlschrank genommen, gebraten und unserer Hündin gegeben. Zuerst dachte ich, Lexy hätte es selbst gegessen und Lorelei nur den Knochen zum Abnagen gegeben, bloß sah ich nirgends benutztes Geschirr oder Besteck, bis auf die Bratpfanne, die sie auf dem Herd hatte stehen lassen. Die Spülmaschine war zu und enthielt sauberes Geschirr. Wir hatten sie am vorigen Abend laufen lassen, und als ich sie öffnete, konnte ich an der Art und Weise, wie das Geschirr eingeräumt war, noch meine eigenen Handgriffe erkennen. Die Spülmaschine war also nicht angerührt worden, das Abtropfgestell war leer, und die Geschirrhandtücher waren nicht einmal feucht. Das lässt nur zwei Schlüsse zu: Entweder hat Lexy Lorelei mit einer beispiellosen Portion Fleisch überrascht, oder sie stand am letzten Tag ihres Lebens in der Küche und aß ein komplettes 500 Gramm schweres Steak mit den Fingern. Wenn ich es mir recht überlege, gibt es noch ein drittes Szenario, womöglich das beste von allen: Die beiden könnten sich das Steak geteilt haben.
Vielleicht bedeutet das alles überhaupt nichts. Schließlich trauere ich um den Tod meiner Frau und versuche, irgendwie einen Sinn darin zu erkennen. Und doch sind die Indizien, die ich gefunden habe, so seltsam, dass ich mich frage, was an diesem Tag wirklich passiert ist, ob meine Frau wirklich bloß aus Lust auf ein paar Äpfel auf diesen Baum geklettert ist. Lorelei ist meine Zeugin, sie hat nicht nur Lexys Tod miterlebt, sondern auch sämtliche Ereignisse, die zu ihm hingeführt haben. Sie hat Lexy durch ihre Tage und Nächte begleitet. Sie hat unsere Ehe miterlebt, vom ersten bis zum letzten Tag. Sie weiß ganz einfach Dinge, die ich nicht weiß. Ich habe das Gefühl, dass ich alles tun muss, was in meiner Macht steht, um dieses Wissen zu erschließen.
KAPITEL 2
Vielleicht sind Ihnen ja die berühmteren Fälle von Spracherwerb bei Hunden bekannt, aber ich werde Ihnen zur Gedächtnisauffrischung trotzdem erst einmal einen kurzen historischen Rückblick geben. Zunächst wäre da natürlich der im sechzehnten Jahrhundert angesiedelte Fall des Kind-Hundes von Lyon zu nennen. Dieser Hund, den meisten Berichten zufolge ein von niederländischen Händlern mitgebrachter Wolfspitz, wurde als frisch geworfener Welpe von einer trauernden Mutter adoptiert, deren Baby kurz nach der Geburt gestorben war. Die Frau stillte den Hund wie ein Kind und zog ihm kleine Nachthemden und Häubchen an. Als der Welpe größer wurde, verwendete seine "Mutter" viel Mühe darauf, ihm das Sprechen beizubringen, und konnte schließlich durch pure Hartnäckigkeit auch gewisse Erfolge verzeichnen, allerdings mussten die Zuhörer die Frau oft um eine Übersetzung bitten. Der Hund wurde zu einem gefeierten Gesellschaftsmitglied, doch lernte er nie, wie andere Hunde zu spielen und herumzutollen. Die unterschiedliche Lebenserwartung von Hunden und Menschen vorausgesetzt, erreichten der Hund und seine Mutter zusammen ein hohes Alter, und als die Frau schließlich auf dem Sterbebett lag, wich der Hund nicht von ihrer Seite. An dem Abend, als die Frau für immer die Augen schloss, sprach der Hund seine letzten Worte: "Ohne dein Ohr habe ich keine Zunge." (Unverzichtbar hier natürlich der Hinweis auf die doppelte Bedeutung des französischen Wortes "langue", das sowohl "Zunge" als auch "Sprache" bedeutet.) Obwohl der Hund nach dem Tod seiner Mutter noch ein Jahr lebte, gab er keinen einzigen Laut mehr von sich, weder einen tierischen noch einen menschlichen. Nach seinem Tod errichteten die Lyoner ihm zu Ehren ein Denkmal, in dessen Sockel seine letzten Worte eingraviert sind.
Ich glaube, diese von dem Zauber und der Traurigkeit eines Märchens erfüllte Geschichte, die doch zugleich von den größten Naturwissenschaftlern jener Zeit dokumentiert wurde, stellt den idealen Einstieg für mein Buch dar, meine ernste, wissenschaftliche Arbeit, in der ich meinen verblüfften Kollegen zu erklären versuche, warum ich jetzt, nachdem ich mich zwanzig Jahre lang dem Studium der Linguistik gewidmet habe, all meine Energie darauf verwenden werde, einem Hund das Sprechen beizubringen.
Ich werde mit einigen Fallstudien beginnen müssen, um zu beweisen, dass ich zumindest in ein paar Bücher hineingeschaut habe. Die Kollegen werden erwarten, dass ich ihnen den eigenartigen Fall von Vasil in Erinnerung rufe, jenem Ungarn, der im achtzehnten Jahrhundert unter dem Einfluss eines Philosophen namens Geoffrey Longwell, der die Hunde für den verlorenen Stamm Israel hielt, eine Reihe von Experimenten mit einem Wurf Viszla-Welpen durchführte. Vasil ließ sich durch die biblische Geschichte vom Garten Eden inspirieren. Unter Berufung auf die Schlange, die mit Eva sprach, vertrat Vasil die These, dass im irdischen Paradies alle Tiere über die Gabe des Sprechens verfügt und diese erst verloren hätten, als Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden. Er glaubte, wenn er den Tieren zu dieser Gabe, die ihnen ungerechterweise genommen worden sei, wieder verhelfen könnte, würde er die erste Sprache zutage fördern, die jemals gesprochen worden sei.
Um diese Sprache zurückzugewinnen, brachte Vasil die einzelnen Welpen jeweils in einem eigenen eingemauerten Garten unter, von ihren Brüdern und Schwestern getrennt, und versuchte, dort den gleichen Zustand wie im Paradies herzustellen. Er versorgte sie mit reichlich Futter und Wasser und massierte ihnen täglich die Kehle, um sie zum Sprechen zu bringen. Der Erfolg war gemischt. Ein Welpe sprach überhaupt nicht, einer produzierte Laute, die einem gemurmelten Französisch ähnelten (spätere Forscher bezeichneten es allerdings als elsässisches Kreolisch), und einer lernte nur das ungarische Wort für Roastbeef. Die übrigen fünf Welpen bellten bloß, schienen sich gegenseitig allerdings zu verstehen.
Die Kirche verdammte Vasils Theorien, insbesondere seine Prämisse, es sei ungerecht von Gott gewesen, den Hunden ihr Sprachvermögen zu nehmen, und er verbrachte die letzten zwanzig Jahre seines Lebens im Gefängnis. Die Viszlas hatten aktiv zu seiner Festnahme beigetragen: Sie waren ausgerissen und durch die Straßen gerannt, wobei der Französisch sprechende Hund unanständige und beleidigende Limericks bellte und der Ungarisch sprechende lautstark nach Roastbeef verlangte, bis ihnen die erstaunte Menschenmenge schließlich zu Vasils Haus folgte.
Ausschlaggebend wird letztlich wohl der tragische Fall von Wendell Hollis sein, das bekannteste Beispiel dieser Art von Forschung in der Moderne, wie meine Kollegen sich sicher erinnern werden. Über sieben Jahre hinweg operierte Hollis mehr als hundert Hunde, um ihrem Gaumen eine zur Wortbildung besser geeignete Form zu geben. Einige der Hunde starben bei diesen Operationen, die Hollis in seiner Wohnung in New York durchführte, und viele andere rissen aus. Hollis wurde festgenommen, nachdem eine Beschwerde über Lärmbelästigung bei der Polizei eingegangen war. Als einer der Hunde gelernt hatte, um Hilfe zu rufen, benachrichtigte ein Nachbar, der jahrelang das verunstaltete Gebell über sich hatte ergehen lassen, schließlich und endlich die Polizei. Dieser Hund mit seiner vernarbten Kehle und seinem deformierten Maul sagte bei der Gerichtsverhandlung aus. Er sprach zwar nicht in vollständigen Sätzen, war jedoch in der Lage, "Hass", "Feuerschmerz", und "Brüder weg" zu sagen. Die Geschworenen brauchten nur eine Stunde, um sich auf ein Strafmaß zu einigen, und Hollis kam für fünf Jahre ins Gefängnis.
Natürlich kann man keinen dieser Fälle als Erfolg bezeichnen. Doch gerade die Form ihres Scheiterns, das "fast" jedes einzelnen dieser Teilerfolge bringt mich zu der Auffassung, dass es auf diesem Gebiet noch einiges zu erforschen gibt.
Ja ich muss sagen, dass ich in letzter Zeit kaum noch an etwas anderes denken kann.
Doch wenn ich meinen guten Namen in der akademischen Welt wahren will, dann darf ich solcherlei Subjektivität nicht zulassen. Ich muss mit dem Hinweis an meine Kollegen beginnen, dass bereits ausführlichst zu diesem Thema gearbeitet worden ist. Ich muss ihnen klarmachen, dass ich keineswegs etwas Neues tue.
Wenn es allerdings ginge, dann würde ich so beginnen, wie es die Dichter früher taten, wenn sie ihre Geschichten von Liebe und Krieg und den Drangsalen erzählten, die der Himmel ihnen schickte. Dann nämlich wäre dies mein Anfang:
Ich singe von einer Frau mit Tinte an den Fingern und versteckten Bildern unter dem Haar. Ich singe von einem Hund mit einem Fell wie gegen den Strich gefühlter Samt. Ich singe von dem Abdruck, den der Körper eines gestürzten Menschen auf dem Boden unter einem Baum hinterlässt, und ich singe von einem ganz normalen Mann, der etwas wissen wollte, was kein Mensch ihm sagen konnte. Das ist der wahre Anfang.
Lassen Sie mich kurz zu meinen einleitenden Worten bezüglich meines Forschungsvorhabens zurückkehren. Wie bereits erwähnt, habe ich eine Hündin namens Lorelei, einen Rhodesian Ridgeback. Ursprünglich gehörte sie meiner Frau. Ich habe vor, mit Lorelei eine Reihe von Übungen und Experimenten durchzuführen, die darauf abzielen, ihr in jeder irgend erdenklichen Weise - unter Berücksichtigung ihrer physiologischen und geistigen Möglichkeiten - den Erwerb von Sprache zu erleichtern. Ich möchte Lorelei sprechen lehren.
Mir ist bewusst, wie das klingen muss. Vor einem Jahr wäre ich genauso skeptisch gewesen wie Sie alle. Aber Sie müssen versuchen nachzuvollziehen, wie die Ereignisse der letzten Monate mein Denken verändert haben.
Ich darf Sie daran erinnern, dass wir als Wissenschaftler in diesem Jahrhundert das seltsame Schauspiel miterleben konnten, wie Affen vollständige Sätze mit den Händen sagten. Wir kennen Papageien, die - sehr zum Vergnügen der Freunde ihrer Besitzer - gelernt haben, die Pointen zu schmutzigen Witzen zu liefern. Wir kennen Führhunde, denen beigebracht worden ist, Lichtschalter zu betätigen und auf das Schreien der Babys von tauben Eltern zu horchen. Ich selbst habe in einem Amateurvideo einen Hund gesehen, der gelernt hat, den Klang der Worte "I love you" nachzubilden.
"Könnte ich bitte mit Lexy sprechen?", bat ich schließlich.
"Darf ich fragen, wer am Apparat ist?", erwiderte der Mann.
"Ich bin ihr Mann. Paul Iverson."
"Mr. Iverson, ich bin Detective Anthony Stack. Ich muss Sie leider bitten, sofort nach Hause zu kommen. Es ist etwas passiert."
Offenbar hat Loreleis Verhalten dazu geführt, dass die Polizei gerufen wurde. Als unsere Nachbarn einer nach dem anderen von der Arbeit zurückkamen, hörten sie aus unserem Garten Loreleis endloses, klagendes Heulen. Die meisten kannten sie und waren ihr tiefes, volltönendes Bellen gewohnt, wenn sie im Garten hinter Vögeln und Eichhörnchen herjagte. Doch so ein Geräusch hatten sie von ihr noch nie gehört. Unser Nachbar zur Linken, Jim Perasso, war der erste, der über unseren Zaun schaute, er machte die Entdeckung. Es war schon dunkel draußen - in der vorangegangenen Woche war die Zeit umgestellt worden, so dass es jetzt immer schon um fünf dunkel war -, doch da Lorelei aufgeregt zwischen dem Apfelbaum und unserer Hintertür hin und her rannte, schaltete der Bewegungsmelder immer wieder die Sicherheitsbeleuchtung ein. Jedesmal wenn sie eine Runde gedreht hatte, stupste sie Lexys Leiche mit der Schnauze an und blieb lang genug stehen, um die Beleuchtung wieder ausgehen zu lassen; sobald sie dann ihre wilde Jagd durch den Garten wieder aufnahm, von einer Ecke zur anderen, ging die Beleuchtung erneut an. In diesem surrealen, stroboskoplichtartigen Geflacker sah Jim Lexy unter dem Baum liegen und rief die Polizei.
Als ich zu Hause eintraf, war der Garten mit gelbem Absperrband abgeriegelt, und ein Mann kam mir über den Rasen entgegen. Er stellte sich als derjenige vor, mit dem ich am Telefon gesprochen hatte, führte mich ins Wohnzimmer und hieß mich Platz nehmen. Ich ahnte wohl, was kommen würde. Schon jetzt fühlte sich das Haus still und nackt an, so als wäre es des ganzen Lebens, von dem es morgens noch erfüllt gewesen war, beraubt. Selbst Lorelei war nicht mehr da, man hatte ihr ein Beruhigungsmittel gegeben und sie über Nacht in ein Tierheim gebracht.
Ich saß wie betäubt da, während Detective Stack mir erzählte, was passiert war.
"Haben Sie irgendeine Vorstellung, was Ihre Frau auf dem Baum gemacht haben könnte?", fragte er.
"Keine Ahnung", sagte ich. Sie hatte, solange ich sie kannte, nie das geringste Interesse daran gezeigt, auf Bäume zu klettern, und gerade dieser kann als erster nicht einfach gewesen sein. Der Apfelbaum in unserem Garten ist ungewöhnlich groß, ein Monstrum im Vergleich zu den Zwergbäumen, die auf Obstplantagen wachsen. Wir hatten ihn vernachlässigt, hatten ihn in der ganzen Zeit, die wir dort wohnten, kein einziges Mal zurückgeschnitten, so dass er inzwischen ungebührliche acht oder neun Meter hoch war. Ich konnte mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, was sie dort oben gemacht hatte. Detective Stack beobachtete mich genau. "Vielleicht wollte sie ein paar Äpfel pflücken", sagte ich kläglich.
"Nun ja, das scheint die logische Antwort zu sein." Er schaute mich an, dann sah er zu Boden. "Es scheint uns ziemlich offensichtlich, dass Ihre Frau durch einen Unfall zu Tode gekommen ist, aber wir müssen in Fällen wie diesem, wo es keine Zeugen gibt, eine kurze Ermittlung durchführen, um ganz ausschließen zu können, dass es sich um einen Selbstmord handelt. Deshalb muss ich Sie fragen: Kam Ihnen Ihre Frau in letzter Zeit irgendwie niedergeschlagen vor? Hat sie jemals, und sei es nur beiläufig, von Selbstmord gesprochen?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Ich hatte es auch nicht erwartet", sagte er. "Aber ich muss diese Frage stellen."
Als die Männer im Garten ihre Fotos gemacht und ihr Beweismaterial sichergestellt hatten, sprach Detective Stack kurz mit ihnen und teilte mir dann mit, dass alles zur Zufriedenheit geklärt sei. Es sei eindeutig ein Unfall gewesen. Offenbar gibt es zwei Arten zu fallen, und jede sagt etwas aus. Wenn man aus großer Höhe springt, selbst aus dem neunten oder zehnten Stock, kann man Einfluss darauf nehmen, wie man fällt. Wenn man auf den Füßen landet, erleidet man unter Umständen schwere Verletzungen an Beinen und Wirbelsäule, kann den Sturz aber überleben. Wenn man jedoch in den obersten Ästen eines Apfelbaums den Halt verliert, acht Meter über dem Boden, dann hat man keinerlei Einfluss darauf, wie man fällt. Man trudelt womöglich durch die Luft und landet auf dem Bauch oder Kopf. Es kann sein, dass die Haut nach dem Sturz vollkommen unversehrt und doch jeder Knochen gebrochen, jedes Organ zerquetscht ist. So kann man erkennen, ob jemand gesprungen oder gefallen ist. Als Lexy gefunden wurde, lag sie auf dem Rücken, und ihr Genick war gebrochen. Daher wissen wir, dass sie nicht gesprungen ist.
Später, als die Polizei gegangen war und man Lexys Leiche fortgebracht hatte, trat ich in den Garten hinaus. Unter dem Baum stand ein Korb mit Äpfeln. Sie war auf den Baum gestiegen, um die letzten Äpfel zu pflücken, bevor sie am Ast verfaulten. Vielleicht wollte sie etwas backen, vielleicht wollte sie die Äpfel in eine hübsche Schüssel legen, damit wir an einem sonnigen Fleckchen ein bisschen was knabbern konnten. Ich klaubte die Äpfel sorgfältig auf und trug sie ins Haus. Ich ließ sie auf dem Küchentisch liegen, bis ihr süßer fauliger Geruch die Fliegen anlockte.
Erst nach der Beerdigung stieß ich auf gewisse Hinweise - das heißt, vielleicht ist Hinweis nicht das richtige Wort, denn es schließt die Möglichkeit aus, dass es sich um puren Zufall oder aber um eine Überinterpretation meinerseits handelte. Zu behaupten, ich hätte "Hinweise" entdeckt, klingt so, als hätte jemand Informationen gezielt mit der Absicht platziert, mich zu einer Schlussfolgerung zu führen, die keineswegs auf der Hand liegt, jedoch so schlagend ist, dass an ihrer Richtigkeit kein Zweifel bestehen kann. Aber ich glaube nicht, dass ich es so leicht haben werde. Vielleicht sollte ich lieber sagen, dass ich gewisse Ungereimtheiten entdeckte, Unstimmigkeiten, die nahe legten, dass der Tag, an dem Lexy starb, kein normaler Tag gewesen war.
Die erste dieser Ungereimtheiten hatte mit unseren Bücherregalen zu tun. Lexy und ich lasen beide gern und viel, und unsere Bücher waren, wie vermutlich die der meisten Leute, halbherzig und nach mehreren verschiedenen Systemen sortiert. Auf einigen Regalen waren die Bücher nach Größe geordnet - die großen Bildbände standen auf dem untersten Brett, und wo sonst nichts mehr hineingepasst hätte, steckten die Billigtaschenbücher. Es gab kleine Enklaven thematisch geordneter Bücher - unsere Kochbücher standen zum Beispiel alle auf demselben Regal -, aber dieses System war zu mühsam, um es konsequent durchzuziehen. Schließlich gab es noch ihre Bücher und meine Bücher - Bücher, die unsere jeweiligen persönlichen Interessen widerspiegelten, und Bücher, die wir jeweils schon vor unserer Heirat besessen hatten und die auf dem Regal zusammen standen. Der Rest war ein kunterbuntes Durcheinander. Trotzdem hatte ich ein Gefühl dafür entwickelt, welches Buch wo stand. Hatte eine ungefähre Erinnerung, den Roman, der mir mit zwanzig so wichtig gewesen war, zwischen einem Gedichtband, den wir zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten, und einem Science-Fiction-Thriller gesehen zu haben, den ich einmal im Sommer am Strand gelesen hatte. Auf die Frage, wo ein bestimmtes, von mir mitverfasstes Lehrbuch zu finden sei, hätte ich zielsicher auf seinen Platz zwischen einer Beatles-Biographie und einem Buch übers "Bierbrauen zu Hause" gezeigt. Daher weiß ich, dass Lexy die Bücher umgestellt hat, bevor sie starb.
Die zweite Ungereimtheit hat mit Lorelei zu tun. Soweit ich es rekonstruieren kann, hat Lexy ein Steak, das wir eigentlich abends hatten grillen wollen, aus dem Kühlschrank genommen, gebraten und unserer Hündin gegeben. Zuerst dachte ich, Lexy hätte es selbst gegessen und Lorelei nur den Knochen zum Abnagen gegeben, bloß sah ich nirgends benutztes Geschirr oder Besteck, bis auf die Bratpfanne, die sie auf dem Herd hatte stehen lassen. Die Spülmaschine war zu und enthielt sauberes Geschirr. Wir hatten sie am vorigen Abend laufen lassen, und als ich sie öffnete, konnte ich an der Art und Weise, wie das Geschirr eingeräumt war, noch meine eigenen Handgriffe erkennen. Die Spülmaschine war also nicht angerührt worden, das Abtropfgestell war leer, und die Geschirrhandtücher waren nicht einmal feucht. Das lässt nur zwei Schlüsse zu: Entweder hat Lexy Lorelei mit einer beispiellosen Portion Fleisch überrascht, oder sie stand am letzten Tag ihres Lebens in der Küche und aß ein komplettes 500 Gramm schweres Steak mit den Fingern. Wenn ich es mir recht überlege, gibt es noch ein drittes Szenario, womöglich das beste von allen: Die beiden könnten sich das Steak geteilt haben.
Vielleicht bedeutet das alles überhaupt nichts. Schließlich trauere ich um den Tod meiner Frau und versuche, irgendwie einen Sinn darin zu erkennen. Und doch sind die Indizien, die ich gefunden habe, so seltsam, dass ich mich frage, was an diesem Tag wirklich passiert ist, ob meine Frau wirklich bloß aus Lust auf ein paar Äpfel auf diesen Baum geklettert ist. Lorelei ist meine Zeugin, sie hat nicht nur Lexys Tod miterlebt, sondern auch sämtliche Ereignisse, die zu ihm hingeführt haben. Sie hat Lexy durch ihre Tage und Nächte begleitet. Sie hat unsere Ehe miterlebt, vom ersten bis zum letzten Tag. Sie weiß ganz einfach Dinge, die ich nicht weiß. Ich habe das Gefühl, dass ich alles tun muss, was in meiner Macht steht, um dieses Wissen zu erschließen.
KAPITEL 2
Vielleicht sind Ihnen ja die berühmteren Fälle von Spracherwerb bei Hunden bekannt, aber ich werde Ihnen zur Gedächtnisauffrischung trotzdem erst einmal einen kurzen historischen Rückblick geben. Zunächst wäre da natürlich der im sechzehnten Jahrhundert angesiedelte Fall des Kind-Hundes von Lyon zu nennen. Dieser Hund, den meisten Berichten zufolge ein von niederländischen Händlern mitgebrachter Wolfspitz, wurde als frisch geworfener Welpe von einer trauernden Mutter adoptiert, deren Baby kurz nach der Geburt gestorben war. Die Frau stillte den Hund wie ein Kind und zog ihm kleine Nachthemden und Häubchen an. Als der Welpe größer wurde, verwendete seine "Mutter" viel Mühe darauf, ihm das Sprechen beizubringen, und konnte schließlich durch pure Hartnäckigkeit auch gewisse Erfolge verzeichnen, allerdings mussten die Zuhörer die Frau oft um eine Übersetzung bitten. Der Hund wurde zu einem gefeierten Gesellschaftsmitglied, doch lernte er nie, wie andere Hunde zu spielen und herumzutollen. Die unterschiedliche Lebenserwartung von Hunden und Menschen vorausgesetzt, erreichten der Hund und seine Mutter zusammen ein hohes Alter, und als die Frau schließlich auf dem Sterbebett lag, wich der Hund nicht von ihrer Seite. An dem Abend, als die Frau für immer die Augen schloss, sprach der Hund seine letzten Worte: "Ohne dein Ohr habe ich keine Zunge." (Unverzichtbar hier natürlich der Hinweis auf die doppelte Bedeutung des französischen Wortes "langue", das sowohl "Zunge" als auch "Sprache" bedeutet.) Obwohl der Hund nach dem Tod seiner Mutter noch ein Jahr lebte, gab er keinen einzigen Laut mehr von sich, weder einen tierischen noch einen menschlichen. Nach seinem Tod errichteten die Lyoner ihm zu Ehren ein Denkmal, in dessen Sockel seine letzten Worte eingraviert sind.
Ich glaube, diese von dem Zauber und der Traurigkeit eines Märchens erfüllte Geschichte, die doch zugleich von den größten Naturwissenschaftlern jener Zeit dokumentiert wurde, stellt den idealen Einstieg für mein Buch dar, meine ernste, wissenschaftliche Arbeit, in der ich meinen verblüfften Kollegen zu erklären versuche, warum ich jetzt, nachdem ich mich zwanzig Jahre lang dem Studium der Linguistik gewidmet habe, all meine Energie darauf verwenden werde, einem Hund das Sprechen beizubringen.
Ich werde mit einigen Fallstudien beginnen müssen, um zu beweisen, dass ich zumindest in ein paar Bücher hineingeschaut habe. Die Kollegen werden erwarten, dass ich ihnen den eigenartigen Fall von Vasil in Erinnerung rufe, jenem Ungarn, der im achtzehnten Jahrhundert unter dem Einfluss eines Philosophen namens Geoffrey Longwell, der die Hunde für den verlorenen Stamm Israel hielt, eine Reihe von Experimenten mit einem Wurf Viszla-Welpen durchführte. Vasil ließ sich durch die biblische Geschichte vom Garten Eden inspirieren. Unter Berufung auf die Schlange, die mit Eva sprach, vertrat Vasil die These, dass im irdischen Paradies alle Tiere über die Gabe des Sprechens verfügt und diese erst verloren hätten, als Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden. Er glaubte, wenn er den Tieren zu dieser Gabe, die ihnen ungerechterweise genommen worden sei, wieder verhelfen könnte, würde er die erste Sprache zutage fördern, die jemals gesprochen worden sei.
Um diese Sprache zurückzugewinnen, brachte Vasil die einzelnen Welpen jeweils in einem eigenen eingemauerten Garten unter, von ihren Brüdern und Schwestern getrennt, und versuchte, dort den gleichen Zustand wie im Paradies herzustellen. Er versorgte sie mit reichlich Futter und Wasser und massierte ihnen täglich die Kehle, um sie zum Sprechen zu bringen. Der Erfolg war gemischt. Ein Welpe sprach überhaupt nicht, einer produzierte Laute, die einem gemurmelten Französisch ähnelten (spätere Forscher bezeichneten es allerdings als elsässisches Kreolisch), und einer lernte nur das ungarische Wort für Roastbeef. Die übrigen fünf Welpen bellten bloß, schienen sich gegenseitig allerdings zu verstehen.
Die Kirche verdammte Vasils Theorien, insbesondere seine Prämisse, es sei ungerecht von Gott gewesen, den Hunden ihr Sprachvermögen zu nehmen, und er verbrachte die letzten zwanzig Jahre seines Lebens im Gefängnis. Die Viszlas hatten aktiv zu seiner Festnahme beigetragen: Sie waren ausgerissen und durch die Straßen gerannt, wobei der Französisch sprechende Hund unanständige und beleidigende Limericks bellte und der Ungarisch sprechende lautstark nach Roastbeef verlangte, bis ihnen die erstaunte Menschenmenge schließlich zu Vasils Haus folgte.
Ausschlaggebend wird letztlich wohl der tragische Fall von Wendell Hollis sein, das bekannteste Beispiel dieser Art von Forschung in der Moderne, wie meine Kollegen sich sicher erinnern werden. Über sieben Jahre hinweg operierte Hollis mehr als hundert Hunde, um ihrem Gaumen eine zur Wortbildung besser geeignete Form zu geben. Einige der Hunde starben bei diesen Operationen, die Hollis in seiner Wohnung in New York durchführte, und viele andere rissen aus. Hollis wurde festgenommen, nachdem eine Beschwerde über Lärmbelästigung bei der Polizei eingegangen war. Als einer der Hunde gelernt hatte, um Hilfe zu rufen, benachrichtigte ein Nachbar, der jahrelang das verunstaltete Gebell über sich hatte ergehen lassen, schließlich und endlich die Polizei. Dieser Hund mit seiner vernarbten Kehle und seinem deformierten Maul sagte bei der Gerichtsverhandlung aus. Er sprach zwar nicht in vollständigen Sätzen, war jedoch in der Lage, "Hass", "Feuerschmerz", und "Brüder weg" zu sagen. Die Geschworenen brauchten nur eine Stunde, um sich auf ein Strafmaß zu einigen, und Hollis kam für fünf Jahre ins Gefängnis.
Natürlich kann man keinen dieser Fälle als Erfolg bezeichnen. Doch gerade die Form ihres Scheiterns, das "fast" jedes einzelnen dieser Teilerfolge bringt mich zu der Auffassung, dass es auf diesem Gebiet noch einiges zu erforschen gibt.
Ja ich muss sagen, dass ich in letzter Zeit kaum noch an etwas anderes denken kann.
Doch wenn ich meinen guten Namen in der akademischen Welt wahren will, dann darf ich solcherlei Subjektivität nicht zulassen. Ich muss mit dem Hinweis an meine Kollegen beginnen, dass bereits ausführlichst zu diesem Thema gearbeitet worden ist. Ich muss ihnen klarmachen, dass ich keineswegs etwas Neues tue.
Wenn es allerdings ginge, dann würde ich so beginnen, wie es die Dichter früher taten, wenn sie ihre Geschichten von Liebe und Krieg und den Drangsalen erzählten, die der Himmel ihnen schickte. Dann nämlich wäre dies mein Anfang:
Ich singe von einer Frau mit Tinte an den Fingern und versteckten Bildern unter dem Haar. Ich singe von einem Hund mit einem Fell wie gegen den Strich gefühlter Samt. Ich singe von dem Abdruck, den der Körper eines gestürzten Menschen auf dem Boden unter einem Baum hinterlässt, und ich singe von einem ganz normalen Mann, der etwas wissen wollte, was kein Mensch ihm sagen konnte. Das ist der wahre Anfang.
Lassen Sie mich kurz zu meinen einleitenden Worten bezüglich meines Forschungsvorhabens zurückkehren. Wie bereits erwähnt, habe ich eine Hündin namens Lorelei, einen Rhodesian Ridgeback. Ursprünglich gehörte sie meiner Frau. Ich habe vor, mit Lorelei eine Reihe von Übungen und Experimenten durchzuführen, die darauf abzielen, ihr in jeder irgend erdenklichen Weise - unter Berücksichtigung ihrer physiologischen und geistigen Möglichkeiten - den Erwerb von Sprache zu erleichtern. Ich möchte Lorelei sprechen lehren.
Mir ist bewusst, wie das klingen muss. Vor einem Jahr wäre ich genauso skeptisch gewesen wie Sie alle. Aber Sie müssen versuchen nachzuvollziehen, wie die Ereignisse der letzten Monate mein Denken verändert haben.
Ich darf Sie daran erinnern, dass wir als Wissenschaftler in diesem Jahrhundert das seltsame Schauspiel miterleben konnten, wie Affen vollständige Sätze mit den Händen sagten. Wir kennen Papageien, die - sehr zum Vergnügen der Freunde ihrer Besitzer - gelernt haben, die Pointen zu schmutzigen Witzen zu liefern. Wir kennen Führhunde, denen beigebracht worden ist, Lichtschalter zu betätigen und auf das Schreien der Babys von tauben Eltern zu horchen. Ich selbst habe in einem Amateurvideo einen Hund gesehen, der gelernt hat, den Klang der Worte "I love you" nachzubilden.
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Autoren-Porträt von Carolyn Parkhurst
Carolyn Parkhurst hat bereits zahlreiche Kurzgeschichten in renommierten literarischen Zeitschriften veröffentlicht. "Nenn es Himmel" ist ihr erster Roman, der auf Anhieb die amerikanischen Bestsellerlisten stürmte. Das Buch wurde mit euphorischen Pressestimmen bedacht und immer wieder mit Alice Sebolds Bestseller "In meinem Himmel" verglichen. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Washington, D.C.Kathrin Razum übersetzte u. a. T. C. Boyle, John le Carré, Agatha Christie, Vikram Chandra, V. S. Naipaul, Edna O'Brien und Susan Sontag. Sie lebt in Heidelberg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Carolyn Parkhurst
- 2004, 319 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Razum, Kathrin
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442310628
- ISBN-13: 9783442310623
Rezension zu „Nenn es Himmel “
"Ich habe dieses Buch in einem Zug gelesen und war vollkommen begeistert!" (Anna Quindlen)"Parkhursts Roman hat viele der Qualitäten von Alice Sebolds 'In meinem Himmel' und wird dessen Leserinnen und Leser ebenso hinreißen!" (Time)
"'Nenn es Himmel' ist das ungewöhnlichste und phantasievollste Buch, das ich seit langem gelesen habe. Parkhurst ist eine wundervolle Autorin, und ihre Geschichte ist zärtlich, klug und voller Überraschungen!" (John Searles)
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