Niemand muss ins Heim
Das ambulante Pflegesystem in Deutschland hat erschreckende Ausmaße angenommen. Es scheint, dass eine bezahlbare, legale und würdige Betreuung unmöglich ist - doch es gibt Auswege. Christoph Lixenfeld zeigt sie. Ein Plädoyer für die Würde des Menschen. Mit Fallbeispielen.
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Produktinformationen zu „Niemand muss ins Heim “
Das ambulante Pflegesystem in Deutschland hat erschreckende Ausmaße angenommen. Es scheint, dass eine bezahlbare, legale und würdige Betreuung unmöglich ist - doch es gibt Auswege. Christoph Lixenfeld zeigt sie. Ein Plädoyer für die Würde des Menschen. Mit Fallbeispielen.
Klappentext zu „Niemand muss ins Heim “
Schuld an dem Skandal ist auch die Lobbyarbeit der Pflegebranche, die seit Jahren dafür sorgen will, dass Pflegeheime voll belegt sind und immer neue gebaut werden. Christoph Lixenfeld deckt die Machenschaften der Pflegelobby auf und zeigt anhand konkreter Fälle und Schicksale, wie alte Menschen abgefertigt werden. Er nennt die Ursachen und Hintergründe des Versagens, zeigt aber auch Auswege aus dem Dilemma. Er fordert, dass die menschenverachtenden Bestimmungen der Pflegeversicherung endlich geändert und persönliche Budgets eingeführt werden. Außerdem sollen die Pflegekräfte aus Osteuropa legal arbeiten dürfen, damit alte Menschen so lange wie möglich zu Hause bleiben können. Denn: Niemand möchte in ein Heim. Das Buchist ein Plädoyer für die Würde der Menschen, die Pflegebedürftigen allzu oft genommen wird.
Lese-Probe zu „Niemand muss ins Heim “
Niemand muss ins Heim von Christoph Lixenfeld LESEPROBE Der Kampf gegen die »Illegalen«
Seriöse Vermittler und Menschenhändler
Niemand weiß genau, wie viele Pflegekräfte aus Osteuropa illegal oder halblegal in Deutschland leben und arbeiten. Nach Berechnungen des Schwarzarbeitsexperten Friedrich Schneider (siehe Interview Seite 165) sind es – Kranken- und Altenpflege zusammengenommen – etwa 200000 Menschen.
Sie alle sind hier, weil wir sie brauchen, deshalb wäre es das Beste, sie zu legalisieren. Doch davon sind wir noch immer weit entfernt. Im Gegenteil: Die Lobby der Heimbetreiber und ambulanten Dienste kriminalisiert die 24-Stunden-Betreuung durch Osteuropäerinnen.
Mit welchen Mitteln das geschieht, davon erzählt dieses Kapitel und von den Folgen für die Familien. Außerdem zeigt es anhand eines prominenten Beispiels, dass wir schon viel zu lange über das Thema diskutieren; und wie ein halbherziger Versuch der Politik, Abhilfe zu schaffen, gescheitert ist.
»Aufgrund von Hinweisen ehrlich arbeitender Einrichtungen …«
Dies ist die Geschichte eines Gründers, der sich in den Kopf gesetzt hatte, einen wirklich legalen und bezahlbaren Weg zu finden, um alte Menschen zu Hause rund um die Uhr betreuen zu lassen. Und der dabei unvergessliche Erfahrungen mit der Heimbetreiber-Lobby und dem deutschen Rechtssystem machte.
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139
Lange glaubte Dorothea Wilmers*, dass sie es auch weiterhin alleine schaffen würde. Natürlich gab es den Pflegedienst; aber das bedeutete lediglich, dass sie sich statt 24 nur 22 Stunden am Tag um ihren Vater kümmern musste. Dass der 77-Jährige unter Demenz litt, war der Familie zunächst gar nicht klar. Doch irgendwann, nachdem er nachts aus dem Bett gefallen war, versuchte er immer wieder, wegzulaufen, wenn sich niemand mit ihm beschäftigte. Ungefähr ab dem Jahr 2001 – Dorothea Wilmers kümmerte sich bereits seit sechs Jahren um ihn – konnte sie ihn keine Minute mehr aus den Augen lassen. Ihre Mutter, die mit im Hause lebte, war zwar trotz zweier Schlaganfälle nicht pflegebedürftig, aber sie ging nicht mehr alleine einkaufen und kochte auch nicht mehr. Von ihr konnte Dorothea Wilmers kaum Hilfe erwarten. Ihr Mann Gregor* arbeitete lange Tage, Sohn Stefan* studierte.
Obwohl beide sie unterstützten so gut es ging, musste sich Dorothea Wilmers irgendwann eingestehen, dass es so nicht weitergehen konnte. Dass sie noch jemanden brauchte, der ständig da war und sie entlasten konnte. Über eine Anzeige lernte sie eine Pflegerin aus Polen kennen, allerdings stellte sich schnell heraus, dass die Frau Alkoholprobleme hatte. Mangels Alternativen blieb sie ein halbes Jahr bei der Familie, dann ging es beim besten Willen nicht mehr.
Dorothea Wilmers’ Mann Gregor hatte irgendwoher die Telefonnummer eines Vermittlers bekommen und fuhr nach Berlin. Was er dort erlebte, hätte aus einem Dokumentarfilm über Menschenhändler stammen können: Im Hausflur eines dunklen Hinterhofs musste er einem Mann 800 Euro in die Hand zählen, anschließend präsentierte der ihm eine Frau aus Polen, die ganz passabel Deutsch zu sprechen schien. Damals, im Jahre 2002, profitierten solche Schleuser noch davon, dass Polen und andere osteuropäische Länder nicht in der EU waren, Menschen von dort deshalb nicht problemlos von sich aus nach Deutschland einreisen durften.
Schon auf der Rückfahrt wurde Gregor Wilmers klar, dass man ihn hereingelegt hatte. Jene Sätze, die die Frau neben ihm auf dem Beifahrersitz vor einer Stunde in dem dunklen Berliner Hausflur gesprochen hatte, waren auswendig gelernte Floskeln gewesen. Verstehen konnte sie auf Deutsch keinen einzigen Satz. Umzukehren und den Vermittler zur Rede zu stellen, hielt Gregor Wilmers für keine besonders gute Idee. Stattdessen kaufte er der Polin eine Fahrkarte und setzte sie in den nächsten Zug Richtung Heimat. – Beim zweiten Versuch sollte er eine Frau an einer Raststätte vom Bus abholen, doch die angekündigte Pflegekraft tauchte nicht auf. Schließlich rief Dorothea Wilmers eine Vermittlerin an, deren Anzeige sie auf Deutsch in einer polnischen Zeitung gesehen hatte. »Geben Sie mir eine Woche«, sagte sie, und Dorothea Wilmers antwortete, so viel Zeit habe sie nicht. Nach einem langen Telefongespräch kam die Vermittlerin schließlich selber und half sechs Wochen lang. Für die Zeit danach vermittelte sie der Familie eine andere Pflegerin.
Natürlich war es allen klar, dass es sich hier um Schwarzarbeit und damit um etwas Illegales handelte. Aber die Wilmers’ sahen keinen anderen Weg, auch deshalb fanden sie sich damit ab.
Genau wie der ambulante Pflegedienst, der den Vater medizinisch versorgte. Die Mitarbeiter wollten den Auftrag nicht verlieren, also schwiegen sie und machten ihre Arbeit.
Irgendwann kam die erste Warnung
Nach etwa sechs Monaten, im Jahre 2003, starb der Vater. Doch statt die freie Zeit zu genießen, fiel Dorothea Wilmers in ein Loch. Das Kümmern um den Vater war ihr zur Lebensaufgabe geworden, und diese Aufgabe fehlte ihr jetzt.
Zurück in den früheren Job konnte die gelernte Fotolaborantin nicht: Erstens war sie seit acht Jahren raus aus dem Geschäft, zweitens gab es den Beruf durch den Siegeszug der Digitaltechnik im Grunde nicht mehr.
Sie brauchte etwas Sinnvolles zu tun. Deshalb kam es ihr gelegen, wenn Freunde und Nachbarn sie nach einer Hilfe für ihre Mutter fragten. Dorothea Wilmers nutzte ihre Kontakte nach Polen, die sie durch die Erfahrungen mit dem Vater hatte, und begann, Pflegekräfte zu vermitteln. Erst waren es zwei, dann fünf, schließlich etwa zehn. Geld nahm sie dafür nicht.
Irgendwann kam dann die erste Warnung. Ein Freund, der in der Pflegebranche arbeitet, rief ihren Sohn an und sagte, der Zoll – zuständig für Schwarzarbeit – ermittele gegen die Familie.
Ob es sich bei der Aktion um eine gezielte Einschüchterung handelte oder der Anrufer tatsächlich etwas wusste, ist zwar bis heute unklar, auf jeden Fall entschloss sich die Familie Wilmers daraufhin, aus der Idee ein legales Business zu machen. Auf der zweijährigen Odyssee, die dann folgte, mussten sie vor allem zwei Dinge lernen. Erstens: Einige Altenheime betrachten eine bezahlbare 24-Stunden-Betreuung zu Hause als massive Bedrohung ihres Geschäftsmodells und wehren sich mit Zähnen und Klauen. Zweitens: Was in der Altenpflege legal ist und was illegal, darüber gibt es in diesem Land höchst unterschiedliche Auffassungen – auch und gerade unter Juristen.
Und, noch wichtiger: An einer grundlegenden Klarstellung besteht wenig Interesse.
Rund-um-die-Uhr-Betreuung statt Heim
Wer eine Pflegestufe hat und zu Hause bleiben will, kann einen ambulanten Pflegedienst bestellen. Wie bereits geschildert, kümmert der sich ums Waschen und Anziehen, sortiert die tägliche Ration Tabletten oder reibt den Patienten ein. Für Spaziergänge oder eine Partie Mühle ist er nicht zuständig. Das bezahlt die Kasse nicht, und deshalb hat der Mitarbeiter des Pflegedienstes dafür auch keine Zeit. Je nach Pflegestufe besucht er den Patienten ein- bis viermal täglich, zwischen diesen Terminen muss er alleine oder mit Hilfe von Familie und Freunden zurechtkommen. Es sei denn, er kann wesentlich mehr bezahlen, als ihm die Pflegekasse gewährt. Denn natürlich versorgen ambulante Dienste auch viele Menschen zehn Stunden am Stück oder sogar rund um die Uhr, was deutlich mehr kostet, als die Pflegeversicherung erstattet. Dieses Geld bezahlt aber – von Härtefällen abgesehen – nicht die Pflegekasse, sondern entweder der Patient selbst mit seiner Rente und seinem Vermögen oder das Sozialamt. Die allermeisten Familien sind weder so reich, dass sie sich das leisten können, noch so arm, dass das Sozialamt dafür aufkommt. Sie liegen irgendwo dazwischen. Der pflegebedürftige Großvater muss sich also mit den zwei bis drei täglichen Besuchen des ambulanten Dienstes begnügen, wenn seine Angehörigen keine Zeit haben, sich selbst intensiv um ihn zu kümmern. Mit der Zeit geht es ihm dann schlechter, und alle stellen fest, dass die Einsätze der Profis nicht mehr genügen. Wer ein extra Zimmer hat, um sie unterzubringen, beschäftigt dann oft eine Schwarzarbeiterin aus Osteuropa. Die ist immer da und im Gegensatz zu legalen Lösungen bezahlbar. Familien, die diesen Weg nicht gehen wollen oder können, geben den Verwandten meist irgendwann ins Heim. Ob eine 24-Stunden-Betreuung funktioniert, hängt – unabhängig von der Frage, ob die Hilfskraft nun Steuern bezahlt oder nicht – vom gegenseitigen Vertrauen ab. Entscheidend ist, wie sich beide Parteien persönlich verstehen, nicht so sehr, welche Qualifikation die Frau aus Osteuropa mitbringt. Sie erledigt den Haushalt und ist vor allem immer präsent, weil sie in der Wohnung des Pflegebedürftigen lebt. Nachts kann sie über ein Babyphon von ihrem Zimmer aus kontrollieren, ob mit ihrem Schützling alles in Ordnung ist. Und bei Bedarf einen Angehörigen oder den Arzt rufen. Allerdings: Ganz ohne Mithilfe der Familie funktioniert auch dieses Modell nicht, die Kinder und Enkel sollten es als Gemeinschaftsaufgabe betrachten.
© Econ Verlag
Lange glaubte Dorothea Wilmers*, dass sie es auch weiterhin alleine schaffen würde. Natürlich gab es den Pflegedienst; aber das bedeutete lediglich, dass sie sich statt 24 nur 22 Stunden am Tag um ihren Vater kümmern musste. Dass der 77-Jährige unter Demenz litt, war der Familie zunächst gar nicht klar. Doch irgendwann, nachdem er nachts aus dem Bett gefallen war, versuchte er immer wieder, wegzulaufen, wenn sich niemand mit ihm beschäftigte. Ungefähr ab dem Jahr 2001 – Dorothea Wilmers kümmerte sich bereits seit sechs Jahren um ihn – konnte sie ihn keine Minute mehr aus den Augen lassen. Ihre Mutter, die mit im Hause lebte, war zwar trotz zweier Schlaganfälle nicht pflegebedürftig, aber sie ging nicht mehr alleine einkaufen und kochte auch nicht mehr. Von ihr konnte Dorothea Wilmers kaum Hilfe erwarten. Ihr Mann Gregor* arbeitete lange Tage, Sohn Stefan* studierte.
Obwohl beide sie unterstützten so gut es ging, musste sich Dorothea Wilmers irgendwann eingestehen, dass es so nicht weitergehen konnte. Dass sie noch jemanden brauchte, der ständig da war und sie entlasten konnte. Über eine Anzeige lernte sie eine Pflegerin aus Polen kennen, allerdings stellte sich schnell heraus, dass die Frau Alkoholprobleme hatte. Mangels Alternativen blieb sie ein halbes Jahr bei der Familie, dann ging es beim besten Willen nicht mehr.
Dorothea Wilmers’ Mann Gregor hatte irgendwoher die Telefonnummer eines Vermittlers bekommen und fuhr nach Berlin. Was er dort erlebte, hätte aus einem Dokumentarfilm über Menschenhändler stammen können: Im Hausflur eines dunklen Hinterhofs musste er einem Mann 800 Euro in die Hand zählen, anschließend präsentierte der ihm eine Frau aus Polen, die ganz passabel Deutsch zu sprechen schien. Damals, im Jahre 2002, profitierten solche Schleuser noch davon, dass Polen und andere osteuropäische Länder nicht in der EU waren, Menschen von dort deshalb nicht problemlos von sich aus nach Deutschland einreisen durften.
Schon auf der Rückfahrt wurde Gregor Wilmers klar, dass man ihn hereingelegt hatte. Jene Sätze, die die Frau neben ihm auf dem Beifahrersitz vor einer Stunde in dem dunklen Berliner Hausflur gesprochen hatte, waren auswendig gelernte Floskeln gewesen. Verstehen konnte sie auf Deutsch keinen einzigen Satz. Umzukehren und den Vermittler zur Rede zu stellen, hielt Gregor Wilmers für keine besonders gute Idee. Stattdessen kaufte er der Polin eine Fahrkarte und setzte sie in den nächsten Zug Richtung Heimat. – Beim zweiten Versuch sollte er eine Frau an einer Raststätte vom Bus abholen, doch die angekündigte Pflegekraft tauchte nicht auf. Schließlich rief Dorothea Wilmers eine Vermittlerin an, deren Anzeige sie auf Deutsch in einer polnischen Zeitung gesehen hatte. »Geben Sie mir eine Woche«, sagte sie, und Dorothea Wilmers antwortete, so viel Zeit habe sie nicht. Nach einem langen Telefongespräch kam die Vermittlerin schließlich selber und half sechs Wochen lang. Für die Zeit danach vermittelte sie der Familie eine andere Pflegerin.
Natürlich war es allen klar, dass es sich hier um Schwarzarbeit und damit um etwas Illegales handelte. Aber die Wilmers’ sahen keinen anderen Weg, auch deshalb fanden sie sich damit ab.
Genau wie der ambulante Pflegedienst, der den Vater medizinisch versorgte. Die Mitarbeiter wollten den Auftrag nicht verlieren, also schwiegen sie und machten ihre Arbeit.
Irgendwann kam die erste Warnung
Nach etwa sechs Monaten, im Jahre 2003, starb der Vater. Doch statt die freie Zeit zu genießen, fiel Dorothea Wilmers in ein Loch. Das Kümmern um den Vater war ihr zur Lebensaufgabe geworden, und diese Aufgabe fehlte ihr jetzt.
Zurück in den früheren Job konnte die gelernte Fotolaborantin nicht: Erstens war sie seit acht Jahren raus aus dem Geschäft, zweitens gab es den Beruf durch den Siegeszug der Digitaltechnik im Grunde nicht mehr.
Sie brauchte etwas Sinnvolles zu tun. Deshalb kam es ihr gelegen, wenn Freunde und Nachbarn sie nach einer Hilfe für ihre Mutter fragten. Dorothea Wilmers nutzte ihre Kontakte nach Polen, die sie durch die Erfahrungen mit dem Vater hatte, und begann, Pflegekräfte zu vermitteln. Erst waren es zwei, dann fünf, schließlich etwa zehn. Geld nahm sie dafür nicht.
Irgendwann kam dann die erste Warnung. Ein Freund, der in der Pflegebranche arbeitet, rief ihren Sohn an und sagte, der Zoll – zuständig für Schwarzarbeit – ermittele gegen die Familie.
Ob es sich bei der Aktion um eine gezielte Einschüchterung handelte oder der Anrufer tatsächlich etwas wusste, ist zwar bis heute unklar, auf jeden Fall entschloss sich die Familie Wilmers daraufhin, aus der Idee ein legales Business zu machen. Auf der zweijährigen Odyssee, die dann folgte, mussten sie vor allem zwei Dinge lernen. Erstens: Einige Altenheime betrachten eine bezahlbare 24-Stunden-Betreuung zu Hause als massive Bedrohung ihres Geschäftsmodells und wehren sich mit Zähnen und Klauen. Zweitens: Was in der Altenpflege legal ist und was illegal, darüber gibt es in diesem Land höchst unterschiedliche Auffassungen – auch und gerade unter Juristen.
Und, noch wichtiger: An einer grundlegenden Klarstellung besteht wenig Interesse.
Rund-um-die-Uhr-Betreuung statt Heim
Wer eine Pflegestufe hat und zu Hause bleiben will, kann einen ambulanten Pflegedienst bestellen. Wie bereits geschildert, kümmert der sich ums Waschen und Anziehen, sortiert die tägliche Ration Tabletten oder reibt den Patienten ein. Für Spaziergänge oder eine Partie Mühle ist er nicht zuständig. Das bezahlt die Kasse nicht, und deshalb hat der Mitarbeiter des Pflegedienstes dafür auch keine Zeit. Je nach Pflegestufe besucht er den Patienten ein- bis viermal täglich, zwischen diesen Terminen muss er alleine oder mit Hilfe von Familie und Freunden zurechtkommen. Es sei denn, er kann wesentlich mehr bezahlen, als ihm die Pflegekasse gewährt. Denn natürlich versorgen ambulante Dienste auch viele Menschen zehn Stunden am Stück oder sogar rund um die Uhr, was deutlich mehr kostet, als die Pflegeversicherung erstattet. Dieses Geld bezahlt aber – von Härtefällen abgesehen – nicht die Pflegekasse, sondern entweder der Patient selbst mit seiner Rente und seinem Vermögen oder das Sozialamt. Die allermeisten Familien sind weder so reich, dass sie sich das leisten können, noch so arm, dass das Sozialamt dafür aufkommt. Sie liegen irgendwo dazwischen. Der pflegebedürftige Großvater muss sich also mit den zwei bis drei täglichen Besuchen des ambulanten Dienstes begnügen, wenn seine Angehörigen keine Zeit haben, sich selbst intensiv um ihn zu kümmern. Mit der Zeit geht es ihm dann schlechter, und alle stellen fest, dass die Einsätze der Profis nicht mehr genügen. Wer ein extra Zimmer hat, um sie unterzubringen, beschäftigt dann oft eine Schwarzarbeiterin aus Osteuropa. Die ist immer da und im Gegensatz zu legalen Lösungen bezahlbar. Familien, die diesen Weg nicht gehen wollen oder können, geben den Verwandten meist irgendwann ins Heim. Ob eine 24-Stunden-Betreuung funktioniert, hängt – unabhängig von der Frage, ob die Hilfskraft nun Steuern bezahlt oder nicht – vom gegenseitigen Vertrauen ab. Entscheidend ist, wie sich beide Parteien persönlich verstehen, nicht so sehr, welche Qualifikation die Frau aus Osteuropa mitbringt. Sie erledigt den Haushalt und ist vor allem immer präsent, weil sie in der Wohnung des Pflegebedürftigen lebt. Nachts kann sie über ein Babyphon von ihrem Zimmer aus kontrollieren, ob mit ihrem Schützling alles in Ordnung ist. Und bei Bedarf einen Angehörigen oder den Arzt rufen. Allerdings: Ganz ohne Mithilfe der Familie funktioniert auch dieses Modell nicht, die Kinder und Enkel sollten es als Gemeinschaftsaufgabe betrachten.
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Autoren-Porträt von Christoph Lixenfeld
Christoph Lixenfeld arbeitet seit 1994 als freier Journalist in Hamburg und schrieb für das Handelsblatt, die Süddeutsche Zeitung, Focus u. a. Er produzierte Hörfunkfeatures für den NDR und DeutschlandRadio Kultur sowie TV-Beiträge für plus-minus und Panorama.
Bibliographische Angaben
- Autor: Christoph Lixenfeld
- 2008, 284 Seiten, Maße: 13,5 x 21,3 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: ECON
- ISBN-10: 3430300347
- ISBN-13: 9783430300346
Rezension zu „Niemand muss ins Heim “
»Christoph Lixenfeld zeigt mit konkreten Vorschlägen, wie eine menschenwürdige Pflege gelingen kann, wenn sie zu einem gesellschaftlichen Anliegen wird.« MARKUS BREITSCHEIDEL
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