Dunkle Zeit / Nightshade Bd.2
Roman
Nachdem Calla erfahren musste, dass die Werwölfe von ihren Herren, den Magiern, belogen und getäuscht wurden, ist sie gemeinsam mit Shay geflohen und in die Hände ihrer einstigen Feinde gefallen. Als sie im Versteck der Sucher erwacht, glaubt sie, dass...
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Produktinformationen zu „Dunkle Zeit / Nightshade Bd.2 “
Klappentext zu „Dunkle Zeit / Nightshade Bd.2 “
Nachdem Calla erfahren musste, dass die Werwölfe von ihren Herren, den Magiern, belogen und getäuscht wurden, ist sie gemeinsam mit Shay geflohen und in die Hände ihrer einstigen Feinde gefallen. Als sie im Versteck der Sucher erwacht, glaubt sie, dass diese sie töten werden. Doch stattdessen machen die Sucher Calla ein verlockendes Angebot: Mit ihrer Hilfe kann sie ihre ehemaligen Herren vernichten und ihr Rudel und den Mann, den sie zurückgelassen hat, retten. Calla steht vor einer schweren Entscheidung. Wird Shay an ihrer Seite bleiben, wenn sie alles dafür riskiert, seinen Rivalen zu befreien?
Lese-Probe zu „Dunkle Zeit / Nightshade Bd.2 “
Dunkle Zeit von Andrea CremerKAPITEL 1
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Die Schreie ließe n sich in der Dunkelheit nicht ausblenden. Ein schreckliches Gewicht lastete auf meiner Brust, sodass ich um jeden Atemzug kämpfen musste, während ich dalag und in meinem eigenen Blut ertrank. Keuchend setzte ich mich auf und blinzelte in die Schatten.
Das Schreien hatte aufgehört. Der Raum wurde still, erdrückt von Schweigen. Ich schluckte zweimal schmerzhaft, um meinen ausgedörrten Mund zu befeuchten. Erst da begriff ich, dass die Schreie meine eigenen gewesen waren, dass jeder Ausruf mir die Kehle weiter aufgeraut hatte, bis sie wund geworden war. Ich hob die Hände an die Brust. Meine Finger strichen über meine Bluse. Der Stoff war glatt, nicht zerfetzt von den Armbrustbolzen. In dem fahlen Licht konnte ich nicht gut sehen, aber ich erkannte, dass die Bluse nicht mir gehörte, oder besser, dass es sich nicht um das von Shay geborgte Kleidungsstück handelte, das ich in jener Nacht getragen hatte, als sich alles verändert hatte.
Ein Sturm von Bildern wirbelte mir durch den Kopf. Eine Schneedecke. Ein dunkler Wald. Das Dröhnen von Trommeln. Ein vielstimmiges Geheul, das mich zur Vereinigung rief.
Die Vereinigung. Das Blut erstarrte mir in den Adern. Ich war vor meinem eigenen Schicksal davongelaufen.
Ich war Ren davongelaufen. Beim Gedanken an den Bane-Alpha schnürte sich mir die Brust zusammen, aber als ich die Hände vors Gesicht schlug, trat eine andere Gestalt an Rens Stelle. Ein kniender Junge mit verbundenen Augen und gefesselten Händen allein im Wald.
Shay.
Ich konnte seine Stimme hören, konnte die Berührung seiner Hände auf meiner Wange spüren, während ich immer wieder das Bewusstsein verlor. Was war geschehen? Er hatte mich so lange in der Dunkelheit gelassen ... Ich war immer noch allein. Aber wo?
Meine Augen gewöhnten sich an das schwache Licht im Raum. Sonnenlicht, gefiltert durch den bewölkten Himmel, fiel durch hohe Bleiglasfenster herein, die sich über die gesamte gegenüberliegende Wand erstreckten und den bleichen Schatten einen rosigen Schimmer verliehen. Ich suchte den Raum nach einem Ausgang ab und entdeckte rechts vom Bett eine hohe Eichentür. Drei, vielleicht fünf Meter von mir entfernt.
Ich brachte es fertig, ruhiger zu atmen, aber mein Herz hämmerte noch immer. Ich schwang die Beine über die Bettkante und legte zaghaft Gewicht auf meine Füße. Das Stehen bereitete mir keine Mühe, und ich spürte, wie jeder Muskel jäh wieder lebendig wurde, angespannt und straff, zu allem bereit.
Ich wäre in der Lage zu kämpfen - und zu töten, wenn es sein musste.
Das Geräusch von Stiefelschritten drang an meine Ohren. Der Knauf drehte sich, und die Tür schwang nach innen auf. Ein Mann stand dort, den ich nur ein einziges Mal zuvor gesehen hatte - dichtes Haar, dunkel, wie schwarzer Kaffee. Seine Gesichtszüge waren wie gemeißelt, stark, kantig, leicht durchzogen von Furchen und bedeckt mit den Schatten eines seit mehreren Tagen nicht rasierten, grau melierten Stoppelbarts - vernachlässigt, aber trotzdem anziehend.
Ich hatte sein Gesicht gesehen, Sekunden bevor er mich mit dem Knauf seines Schwertes bewusstlos geschlagen hatte. Meine Reißzähne schärften sich, und ein Knurren dröhnte tief in meiner Brust.
Er öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber ich verwandelte mich in eine Wölfin und duckte mich, die Reißzähne entblößt, während ein stetiges Knurren aus meiner Kehle drang. Ich hatte zwei Möglichkeiten: ihn in Stücke reißen oder an ihm vorbeistürzen. Vermutlich blieben mir nur wenige Sekunden für eine Entscheidung.
Er griff sich an die Taille, schob seinen langen, ledernen Staubmantel beiseite und legte die Hand auf den Griff eines langen, geschwungenen Säbels.
Also ein Kampf.
Meine Muskeln zitterten, während ich mich duckte und auf seine Kehle konzentrierte.
»Warte!« Er ließ den Griff des Säbels los und hob die Hände, um mich zu beschwichtigen.
Verblüfft von dieser Geste und ein wenig verärgert über seine Anmaßung erstarrte ich. So leicht würde ich mich nicht beruhigen lassen. Nach einem schnellen Schnapper mit den Reißzähnen riskierte ich einen Blick in den Flur hinter ihm.
»Das willst du nicht tun«, sagte er und trat in mein Sichtfeld. Meine Antwort bestand aus einem Knurren.
Und du willst nicht herausfinden, wozu ich fähig bin, wenn man mich in die Enge treibt.
»Ich verstehe den Impuls«, fuhr er fort und verschränkte die Arme vor der Brust; das Schwert steckte in seiner Scheide. »Du kommst vielleicht an mir vorbei, dann triffst du am Ende des Flurs auf einige Wächter. Und wenn du an denen vorbeikommst - was ich dir durchaus zutraue, da du eine Alpha bist -, wirst du an jedem der Ausgänge auf eine größere Gruppe von Wächtern stoßen.«
»Da du eine Alpha bist.« Woher weiß er, wer ich bin?
Immer noch knurrend wich ich zurück und warf einen Blick über die Schulter zu den hohen Fenstern hinüber. Ich könnte mühelos hin-durchspringen. Es würde wehtun, aber solange der Abgrund nicht zu tief war, würde ich überleben.
»Keine Option«, sagte er mit einem Blick zu den Fenstern. Was ist dieser Typ? Ein Gedankenleser?
»Da draußen geht es über fünfzehn Meter in die Tiefe, und unten wartet solider Marmor.« Er machte einen Schritt vorwärts. Ich wich erneut zurück. »Und niemand möchte, dass du dich verletzt.«
Das Knurren erstarb in meiner Kehle.
Er senkte die Stimme und sprach langsam weiter. »Wenn du wieder deine menschliche Gestalt annehmen würdest, könnten wir reden.«
Ich knirschte frustriert mit den Zähnen und rutschte über den Boden. Aber wir wussten beide, dass ich von Sekunde zu Sekunde unsicherer wurde.
»Wenn du versuchst wegzulaufen«, fuhr er fort, »werden wir gezwungen sein, dich zu töten.«
Er sagte es so gelassen, dass ich einen Moment brauchte, um die Worte zu verdauen.
Ich stieß ein scharfes Bellen des Protests aus, das sich in dunkles Gelächter verwandelte, während ich in eine menschliche Gestalt wechselte.
»Ich habe gedacht, hier will mir niemand etwas antun.«
Einer seiner Mundwinkel zuckte hoch. »Wollen wir auch nicht. Calla, ich bin Monroe.«
Er machte einen Schritt vorwärts.
»Bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte ich und ließ die Reißzähne aufblitzen.
Er kam nicht näher.
»Sie haben noch nicht versucht, mich zu töten«, erwiderte ich und suchte nach wie vor den Raum nach etwas ab, das mir einen taktischen Vorteil bieten konnte. »Was jedoch nicht bedeutet, dass ich Ihnen trauen kann. Wenn ich sehe, dass dieser Stahl, der an Ihrem Gürtel hängt, sich auch nur um zwei Zentimeter bewegt, verlieren Sie einen Arm.«
Er nickte.
Fragen hämmerten in meinem Schädel und bescherten mir Kopfschmerzen. Das Gefühl der Atemlosigkeit drohte mich erneut zu überwältigen. Ich konnte es mir nicht leisten, in Panik zu geraten. Und ebenso wenig, eine Schwäche zu zeigen.
Tief in mir regten sich Erinnerungen, kreiselten unter meiner Haut, bis sich die feinen Härchen auf meinen Armen aufrichteten. Schmerzensschreie hallten in meinem Kopf wider. Ich schauderte und sah Larven um mich herumwabern wie nebelhafte Schatten, während über mir Sukkuben schrien. Das Blut gefror mir in den Adern.
»Monroe! Der Junge ist hier drüben!«
»Wo ist Shay?«
Bei der Erwähnung seines Namens stockte mir die Stimme, und Entsetzen stieg in meiner Kehle auf, während ich auf Monroes Antwort wartete.
Bruchstücke aus der Vergangenheit huschten mir durch den Sinn, ein Nebel von Bildern, die nicht scharf bleiben wollten. Ich kämpfte mit den Erinnerungen, versuchte, sie einzufangen und festzuhalten, um zu begreifen, was geschehen, wie ich hierhergekommen war. Ich erinnerte mich daran, durch schmale Flure gerannt zu sein, begriffen zu haben, dass man uns in die Enge getrieben hatte, und dann hatten wir den Weg in die Bibliothek des Rowan Estate gefunden. Shays Onkel, Bosque Mar, untergrub meinen Zorn mit Zweifeln an dem, was uns widerfuhr.
Shay umklammerte meine Hand so fest, dass es wehtat. »Sag mir, wer du wirklich bist.«
»Ich bin dein Onkel«, antwortete Bosque gelassen und kam auf uns zu. »Dein eigen Fleisch und Blut.«
» Wer sind die Hüter?«, fragte Shay.
»Solche wie ich, die dich nur beschützen wollen. Die dir helfen wollen«, erwiderte Bosque. »Shay, du bist nicht wie andere Kinder. Du hast brachliegende Fähigkeiten, von denen du dir nicht einmal träumen lassen würdest. Ich kann dir zeigen, wer du in Wirklichkeit bist. Dich lehren, die Macht zu benutzen, über die du gebietest.«
»Wenn Sie so versessen darauf sind, Shay zu helfen, warum war er dann bei meiner Vereinigung das Opfer?« Ich schob Shay hinter mich und beschirmte ihn gegen Bosque.
Der schüttelte den Kopf. »Ein weiteres tragisches Missverständnis. Eine Prüfung deiner Loyalität unserer noblen Sache gegenüber, Calla. Ich dachte, wir hätten dir die beste Ausbildung geboten, aber vielleicht bist du nicht vertraut mit Abraham, der geprüft wurde durch das Opfer seines eigenen Sohnes? Ist nicht das Opfer einer geliebten Person der ultimative Gradmesser deines Glaubens? Denkst du wirklich, wir wollten, dass Shay unter deinen Händen stirbt? Wir haben dich gebeten, seine Beschützerin zu sein.«
Ich begann zu zittern. »Sie lügen.«
»Tue ich das?« Bosque lächelte, und das Lächeln wirkte beinahe freundlich. »Nach allem, was du durchgestanden hast, hast du immer noch kein Vertrauen zu deinen Herren? Man hätte dich niemals gezwungen, Shay etwas zuleide zu tun - im letzten Augenblick hätte man an seiner Stelle eine andere Beute herbeigeholt. Ich verstehe - eine solche Prüfung mag zu schrecklich erscheinen, um fair zu sein, zu viel verlangt von dir und Renier. Vielleicht bist du zu jung, als dass du eine solche Prüfung hättest bestehen können.«
Ich ballte die Hände zu Fäusten, damit Monroe nicht sah, wie sie zitterten. Ich hörte die Schreie von Sukkuben und Inkuben, hörte die zischenden Chimären und das Schlurfen dieser schrecklichen, ausgedörrten Kreaturen, wie sie aus den Portraits gekrochen kamen, die die Wände von Rowan Estate säumten.
»Wo ist er?«, fragte ich ein zweites Mal und knirschte mit den Zähnen. »Ich schwöre, wenn Sie es mir nicht sagen ...«
»Er befindet sich in unserer Obhut«, erwiderte Monroe gelassen.
Da war es wieder, dieses leicht höhnische Grinsen. Ich konnte mir auf das reservierte, aber selbstbewusste Verhalten dieses Mannes keinen Reim machen.
Ich wusste nicht genau, was »Obhut« in diesem Fall zu bedeuten hatte. Also schob ich mich mit weiterhin entblößten Reißzähnen durch den Raum und wartete darauf, dass Monroe etwas tat. Und während ich ihn beobachtete, schwankten vor meinen Augen verschwommene Bilder der Vergangenheit wie in Aquarellfarben.
Kaltes Metall, das meine Arme umschließt. Das Klicken von Schlössern und die plötzliche Abwesenheit von Schwere an meinen Handgelenken. Die Wärme einer sanften Berührung, die die eisige Kälte auf meiner Haut wegmassierte.
»Warum ist sie noch nicht wach?«, fragte Shay. »Sie haben versprochen, ihr würde nichts zustoßen.«
»Sie wird schon wieder in Ordnung kommen«, sagte Monroe. »Der Zauber der Bolzen wirkt wie ein schweres Betäubungsmittel; es wird einige Zeit dauern, bis die Wirkung nachlässt.«
Ich wollte sprechen, mich bewegen, aber meine Lider waren so schwer, und die Dunkelheit des Schlafes zog mich wieder in ihr Reich.
»Wenn wir zu einer Übereinkunft gelangen können, werde ich dich zu ihm bringen«, fuhr Monroe fort.
»Eine Übereinkunft?« Ich hatte recht damit, keine Schwäche zeigen zu wollen. Wenn ich schon ein Abkommen mit einem Sucher einging, dann zu meinen Bedingungen.
»Ja«, sagte er und wagte einen Schritt in meine Richtung. Als ich nicht protestierte, lächelte er. Er wollte mich nicht betrügen - ich fing keinen Geruch von Angst auf -, aber sein Lächeln wurde von etwas anderem verjagt. Schmerz?
»Wir brauchen dich, Calla.«
Meine Verwirrung steigerte sich noch, und so war ich gezwungen, sie abzuschütteln wie einen lästigen Fliegenschwarm. Ich musste selbstbewusst erscheinen, nicht abgelenkt von seinem merkwürdigen Verhalten.
»Wer genau ist ›wir‹? Und wozu brauchen Sie mich?«
Mein Ärger hatte sich verflüchtigt, aber ich konzentrierte mich darauf, meine Reißzähne rasiermesserscharf zu halten. Monroe sollte keine Minute vergessen, mit wem er es zu tun hatte. Ich war immer noch eine Alpha - das durfte ich ebenso wenig vergessen wie er. Diese Stärke war der einzige Vorteil, den ich im Augenblick hatte.
»Meine Leute«, sagte er und deutete vage hinter sich auf die Tür. »Die Sucher.«
»Sie sind ihr Anführer?« Ich runzelte die Stirn.
Er wirkte stark, aber gereizt - wie jemand, der nie so viel Schlaf bekam, wie er eigentlich brauchte.
»Ich bin ein Anführer«, erwiderte er. »Ich führe das Team Haldis an; wir sind verantwortlich für Operationen außerhalb des Vorpostens in Denver.«
»Lassen Sie uns über Ihre Freunde in Denver reden.«
Irgendwo in den Tiefen meines Geistes lächelte Lumine, meine Herrin, und ein Sucher schrie.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust, damit ich nicht schauderte. »In Ordnung.«
»Aber es ist nicht nur mein Team, das deine Hilfe braucht«, fuhr er fort, drehte sich plötzlich um und schritt vor der Tür auf und ab. »Wir alle brauchen dich. Alles hat sich verändert; wir dürfen keine Zeit verschwenden.«
Er fuhr sich beim Sprechen mit den Händen durch das dunkle Haar. Ich erwog zu fliehen - er war offensichtlich abgelenkt -, aber irgendetwas an seinem Verhalten faszinierte mich, und ich wusste nicht, ob ich überhaupt noch fliehen wollte.
»Du bist vielleicht unsere einzige Chance. Ich glaube nicht, dass der Spross dies allein tun kann. Du bist möglicherweise der letzte Teil der Gleichung. Der Wendepunkt.«
»Der Wendepunkt wovon?«
»In diesem Krieg. Du kannst ihn beenden.«
Krieg. Bei dem Wort geriet mein Blut in Wallung. Ich war dankbar dafür; die Hitze, die durch meine Adern floss, stärkte mich. Dieser Krieg war der, für den man mich erzogen hatte.
»Du musst dich uns anschließen, Calla.«
Ich hörte ihn kaum, war gefangen in einem roten Nebel - Gedanken an die Gewalt, die einen so großen Teil meines Lebens verzehrte, füllten mich aus.
Der Krieg der Hexen.
Ich hatte den Hütern bei ihren Kämpfen gegen die Sucher geholfen, seit ich mit den Zähnen Fleisch schneiden konnte. Ich hatte für sie gejagt, für sie getötet.
Dann konzentrierte ich mich wieder auf Monroe. Ich hatte seine Leute getötet. Wie konnte er nur wollen, dass ich mich ihnen anschloss?
Als spürte er meinen Argwohn, erstarrte er. Er sagte nichts, sondern verschränkte die Hände hinter dem Rücken, beobachtete mich und wartete darauf, dass ich sprach.
Ich schluckte und zwang mich zu einem festen Tonfall. »Ich soll also für Sie kämpfen.«
»Nicht nur du«, sagte er. Ich erkannte, wie bemüht er war, seine Worte zu kontrollieren. Er schien verzweifelt darauf bedacht zu sein, die Luft zwischen uns mit seinen Gedanken zu überfluten. »Aber du bist der Schlüssel. Du bist eine Alpha, eine Anführerin. Genau das haben wir immer gebraucht.«
»Das verstehe ich nicht.« Während er sprach leuchteten seine Augen so sehr, dass ich nicht wusste, ob ich Angst haben oder fasziniert sein sollte.
»Die Wächter, Calla. Dein Rudel. Du musst sie auf unsere Seite bringen. Damit sie mit uns kämpfen.«
Ein Gefühl, als wäre der Boden unter mir weggebrochen und als fiele ich. Ich wollte glauben, was er sagte, denn war es nicht genau das, worauf ich gehofft hatte?
Eine Möglichkeit, mein Rudel zu befreien.
Ja. Ja, das war es. Selbst jetzt raste mein Herz bei dem Gedanken daran, nach Vail zurückzukehren und meine Rudelgefährten zu suchen. Zu Ren zurückzukehren. Ich konnte sie alle von den Hütern wegführen. Zu etwas anderem. Etwas Besserem.
Aber die Sucher waren meine Feinde. Ich musste sehr vorsichtig sein, wenn ich einen Pakt mit ihnen schloss. Ich entschied mich dafür, mein Widerstreben zu übertreiben.
»Ich weiß nicht, ob das möglich ist.«
»Aber es ist möglich!« Monroe machte einen Satz nach vorn, als wollte er mich an den Händen packen, ein wahnsinniges Glitzern in den Augen.
Ich sprang zurück, wechselte in die Wolfsgestalt und schnappte nach seinen Fingern.
»Entschuldigung.« Er schüttelte den Kopf. »Es gibt so vieles, das du nicht weißt.«
Ich verwandelte mich zurück. Tiefe Linien waren in seine Züge eingemeißelt. Gehetzt, voller Geheimnisse.
»Keine plötzlichen Bewegungen, Monroe.« Ich ging langsam auf ihn zu, streckte die Hand aus und wehrte eine weitere Annäherung seinerseits ab. »Ich bin interessiert, aber ich bin nicht davon überzeugt, dass Sie wissen, was Sie von mir verlangen.«
»Ich weiß es.« Er wandte den Blick ab und zuckte bei seinen eigenen Worten beinahe zusammen. »Ich verlange von dir, alles aufs Spiel zu setzen.«
»Und warum sollte ich das tun?«, fragte ich.
Die Antwort kannte ich bereits. Ich hatte alles aufs Spiel gesetzt, um Shay zu retten. Und ich täte es auf der Stelle wieder, wenn es bedeutete, dass ich zu meinen Rudelgefährten zurückkehren konnte, wenn ich sie retten konnte.
Er trat zurück, streckte den Arm aus und gab mir den Weg zur offenen Tür frei.
»Freiheit.«
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Die Schreie ließe n sich in der Dunkelheit nicht ausblenden. Ein schreckliches Gewicht lastete auf meiner Brust, sodass ich um jeden Atemzug kämpfen musste, während ich dalag und in meinem eigenen Blut ertrank. Keuchend setzte ich mich auf und blinzelte in die Schatten.
Das Schreien hatte aufgehört. Der Raum wurde still, erdrückt von Schweigen. Ich schluckte zweimal schmerzhaft, um meinen ausgedörrten Mund zu befeuchten. Erst da begriff ich, dass die Schreie meine eigenen gewesen waren, dass jeder Ausruf mir die Kehle weiter aufgeraut hatte, bis sie wund geworden war. Ich hob die Hände an die Brust. Meine Finger strichen über meine Bluse. Der Stoff war glatt, nicht zerfetzt von den Armbrustbolzen. In dem fahlen Licht konnte ich nicht gut sehen, aber ich erkannte, dass die Bluse nicht mir gehörte, oder besser, dass es sich nicht um das von Shay geborgte Kleidungsstück handelte, das ich in jener Nacht getragen hatte, als sich alles verändert hatte.
Ein Sturm von Bildern wirbelte mir durch den Kopf. Eine Schneedecke. Ein dunkler Wald. Das Dröhnen von Trommeln. Ein vielstimmiges Geheul, das mich zur Vereinigung rief.
Die Vereinigung. Das Blut erstarrte mir in den Adern. Ich war vor meinem eigenen Schicksal davongelaufen.
Ich war Ren davongelaufen. Beim Gedanken an den Bane-Alpha schnürte sich mir die Brust zusammen, aber als ich die Hände vors Gesicht schlug, trat eine andere Gestalt an Rens Stelle. Ein kniender Junge mit verbundenen Augen und gefesselten Händen allein im Wald.
Shay.
Ich konnte seine Stimme hören, konnte die Berührung seiner Hände auf meiner Wange spüren, während ich immer wieder das Bewusstsein verlor. Was war geschehen? Er hatte mich so lange in der Dunkelheit gelassen ... Ich war immer noch allein. Aber wo?
Meine Augen gewöhnten sich an das schwache Licht im Raum. Sonnenlicht, gefiltert durch den bewölkten Himmel, fiel durch hohe Bleiglasfenster herein, die sich über die gesamte gegenüberliegende Wand erstreckten und den bleichen Schatten einen rosigen Schimmer verliehen. Ich suchte den Raum nach einem Ausgang ab und entdeckte rechts vom Bett eine hohe Eichentür. Drei, vielleicht fünf Meter von mir entfernt.
Ich brachte es fertig, ruhiger zu atmen, aber mein Herz hämmerte noch immer. Ich schwang die Beine über die Bettkante und legte zaghaft Gewicht auf meine Füße. Das Stehen bereitete mir keine Mühe, und ich spürte, wie jeder Muskel jäh wieder lebendig wurde, angespannt und straff, zu allem bereit.
Ich wäre in der Lage zu kämpfen - und zu töten, wenn es sein musste.
Das Geräusch von Stiefelschritten drang an meine Ohren. Der Knauf drehte sich, und die Tür schwang nach innen auf. Ein Mann stand dort, den ich nur ein einziges Mal zuvor gesehen hatte - dichtes Haar, dunkel, wie schwarzer Kaffee. Seine Gesichtszüge waren wie gemeißelt, stark, kantig, leicht durchzogen von Furchen und bedeckt mit den Schatten eines seit mehreren Tagen nicht rasierten, grau melierten Stoppelbarts - vernachlässigt, aber trotzdem anziehend.
Ich hatte sein Gesicht gesehen, Sekunden bevor er mich mit dem Knauf seines Schwertes bewusstlos geschlagen hatte. Meine Reißzähne schärften sich, und ein Knurren dröhnte tief in meiner Brust.
Er öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber ich verwandelte mich in eine Wölfin und duckte mich, die Reißzähne entblößt, während ein stetiges Knurren aus meiner Kehle drang. Ich hatte zwei Möglichkeiten: ihn in Stücke reißen oder an ihm vorbeistürzen. Vermutlich blieben mir nur wenige Sekunden für eine Entscheidung.
Er griff sich an die Taille, schob seinen langen, ledernen Staubmantel beiseite und legte die Hand auf den Griff eines langen, geschwungenen Säbels.
Also ein Kampf.
Meine Muskeln zitterten, während ich mich duckte und auf seine Kehle konzentrierte.
»Warte!« Er ließ den Griff des Säbels los und hob die Hände, um mich zu beschwichtigen.
Verblüfft von dieser Geste und ein wenig verärgert über seine Anmaßung erstarrte ich. So leicht würde ich mich nicht beruhigen lassen. Nach einem schnellen Schnapper mit den Reißzähnen riskierte ich einen Blick in den Flur hinter ihm.
»Das willst du nicht tun«, sagte er und trat in mein Sichtfeld. Meine Antwort bestand aus einem Knurren.
Und du willst nicht herausfinden, wozu ich fähig bin, wenn man mich in die Enge treibt.
»Ich verstehe den Impuls«, fuhr er fort und verschränkte die Arme vor der Brust; das Schwert steckte in seiner Scheide. »Du kommst vielleicht an mir vorbei, dann triffst du am Ende des Flurs auf einige Wächter. Und wenn du an denen vorbeikommst - was ich dir durchaus zutraue, da du eine Alpha bist -, wirst du an jedem der Ausgänge auf eine größere Gruppe von Wächtern stoßen.«
»Da du eine Alpha bist.« Woher weiß er, wer ich bin?
Immer noch knurrend wich ich zurück und warf einen Blick über die Schulter zu den hohen Fenstern hinüber. Ich könnte mühelos hin-durchspringen. Es würde wehtun, aber solange der Abgrund nicht zu tief war, würde ich überleben.
»Keine Option«, sagte er mit einem Blick zu den Fenstern. Was ist dieser Typ? Ein Gedankenleser?
»Da draußen geht es über fünfzehn Meter in die Tiefe, und unten wartet solider Marmor.« Er machte einen Schritt vorwärts. Ich wich erneut zurück. »Und niemand möchte, dass du dich verletzt.«
Das Knurren erstarb in meiner Kehle.
Er senkte die Stimme und sprach langsam weiter. »Wenn du wieder deine menschliche Gestalt annehmen würdest, könnten wir reden.«
Ich knirschte frustriert mit den Zähnen und rutschte über den Boden. Aber wir wussten beide, dass ich von Sekunde zu Sekunde unsicherer wurde.
»Wenn du versuchst wegzulaufen«, fuhr er fort, »werden wir gezwungen sein, dich zu töten.«
Er sagte es so gelassen, dass ich einen Moment brauchte, um die Worte zu verdauen.
Ich stieß ein scharfes Bellen des Protests aus, das sich in dunkles Gelächter verwandelte, während ich in eine menschliche Gestalt wechselte.
»Ich habe gedacht, hier will mir niemand etwas antun.«
Einer seiner Mundwinkel zuckte hoch. »Wollen wir auch nicht. Calla, ich bin Monroe.«
Er machte einen Schritt vorwärts.
»Bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte ich und ließ die Reißzähne aufblitzen.
Er kam nicht näher.
»Sie haben noch nicht versucht, mich zu töten«, erwiderte ich und suchte nach wie vor den Raum nach etwas ab, das mir einen taktischen Vorteil bieten konnte. »Was jedoch nicht bedeutet, dass ich Ihnen trauen kann. Wenn ich sehe, dass dieser Stahl, der an Ihrem Gürtel hängt, sich auch nur um zwei Zentimeter bewegt, verlieren Sie einen Arm.«
Er nickte.
Fragen hämmerten in meinem Schädel und bescherten mir Kopfschmerzen. Das Gefühl der Atemlosigkeit drohte mich erneut zu überwältigen. Ich konnte es mir nicht leisten, in Panik zu geraten. Und ebenso wenig, eine Schwäche zu zeigen.
Tief in mir regten sich Erinnerungen, kreiselten unter meiner Haut, bis sich die feinen Härchen auf meinen Armen aufrichteten. Schmerzensschreie hallten in meinem Kopf wider. Ich schauderte und sah Larven um mich herumwabern wie nebelhafte Schatten, während über mir Sukkuben schrien. Das Blut gefror mir in den Adern.
»Monroe! Der Junge ist hier drüben!«
»Wo ist Shay?«
Bei der Erwähnung seines Namens stockte mir die Stimme, und Entsetzen stieg in meiner Kehle auf, während ich auf Monroes Antwort wartete.
Bruchstücke aus der Vergangenheit huschten mir durch den Sinn, ein Nebel von Bildern, die nicht scharf bleiben wollten. Ich kämpfte mit den Erinnerungen, versuchte, sie einzufangen und festzuhalten, um zu begreifen, was geschehen, wie ich hierhergekommen war. Ich erinnerte mich daran, durch schmale Flure gerannt zu sein, begriffen zu haben, dass man uns in die Enge getrieben hatte, und dann hatten wir den Weg in die Bibliothek des Rowan Estate gefunden. Shays Onkel, Bosque Mar, untergrub meinen Zorn mit Zweifeln an dem, was uns widerfuhr.
Shay umklammerte meine Hand so fest, dass es wehtat. »Sag mir, wer du wirklich bist.«
»Ich bin dein Onkel«, antwortete Bosque gelassen und kam auf uns zu. »Dein eigen Fleisch und Blut.«
» Wer sind die Hüter?«, fragte Shay.
»Solche wie ich, die dich nur beschützen wollen. Die dir helfen wollen«, erwiderte Bosque. »Shay, du bist nicht wie andere Kinder. Du hast brachliegende Fähigkeiten, von denen du dir nicht einmal träumen lassen würdest. Ich kann dir zeigen, wer du in Wirklichkeit bist. Dich lehren, die Macht zu benutzen, über die du gebietest.«
»Wenn Sie so versessen darauf sind, Shay zu helfen, warum war er dann bei meiner Vereinigung das Opfer?« Ich schob Shay hinter mich und beschirmte ihn gegen Bosque.
Der schüttelte den Kopf. »Ein weiteres tragisches Missverständnis. Eine Prüfung deiner Loyalität unserer noblen Sache gegenüber, Calla. Ich dachte, wir hätten dir die beste Ausbildung geboten, aber vielleicht bist du nicht vertraut mit Abraham, der geprüft wurde durch das Opfer seines eigenen Sohnes? Ist nicht das Opfer einer geliebten Person der ultimative Gradmesser deines Glaubens? Denkst du wirklich, wir wollten, dass Shay unter deinen Händen stirbt? Wir haben dich gebeten, seine Beschützerin zu sein.«
Ich begann zu zittern. »Sie lügen.«
»Tue ich das?« Bosque lächelte, und das Lächeln wirkte beinahe freundlich. »Nach allem, was du durchgestanden hast, hast du immer noch kein Vertrauen zu deinen Herren? Man hätte dich niemals gezwungen, Shay etwas zuleide zu tun - im letzten Augenblick hätte man an seiner Stelle eine andere Beute herbeigeholt. Ich verstehe - eine solche Prüfung mag zu schrecklich erscheinen, um fair zu sein, zu viel verlangt von dir und Renier. Vielleicht bist du zu jung, als dass du eine solche Prüfung hättest bestehen können.«
Ich ballte die Hände zu Fäusten, damit Monroe nicht sah, wie sie zitterten. Ich hörte die Schreie von Sukkuben und Inkuben, hörte die zischenden Chimären und das Schlurfen dieser schrecklichen, ausgedörrten Kreaturen, wie sie aus den Portraits gekrochen kamen, die die Wände von Rowan Estate säumten.
»Wo ist er?«, fragte ich ein zweites Mal und knirschte mit den Zähnen. »Ich schwöre, wenn Sie es mir nicht sagen ...«
»Er befindet sich in unserer Obhut«, erwiderte Monroe gelassen.
Da war es wieder, dieses leicht höhnische Grinsen. Ich konnte mir auf das reservierte, aber selbstbewusste Verhalten dieses Mannes keinen Reim machen.
Ich wusste nicht genau, was »Obhut« in diesem Fall zu bedeuten hatte. Also schob ich mich mit weiterhin entblößten Reißzähnen durch den Raum und wartete darauf, dass Monroe etwas tat. Und während ich ihn beobachtete, schwankten vor meinen Augen verschwommene Bilder der Vergangenheit wie in Aquarellfarben.
Kaltes Metall, das meine Arme umschließt. Das Klicken von Schlössern und die plötzliche Abwesenheit von Schwere an meinen Handgelenken. Die Wärme einer sanften Berührung, die die eisige Kälte auf meiner Haut wegmassierte.
»Warum ist sie noch nicht wach?«, fragte Shay. »Sie haben versprochen, ihr würde nichts zustoßen.«
»Sie wird schon wieder in Ordnung kommen«, sagte Monroe. »Der Zauber der Bolzen wirkt wie ein schweres Betäubungsmittel; es wird einige Zeit dauern, bis die Wirkung nachlässt.«
Ich wollte sprechen, mich bewegen, aber meine Lider waren so schwer, und die Dunkelheit des Schlafes zog mich wieder in ihr Reich.
»Wenn wir zu einer Übereinkunft gelangen können, werde ich dich zu ihm bringen«, fuhr Monroe fort.
»Eine Übereinkunft?« Ich hatte recht damit, keine Schwäche zeigen zu wollen. Wenn ich schon ein Abkommen mit einem Sucher einging, dann zu meinen Bedingungen.
»Ja«, sagte er und wagte einen Schritt in meine Richtung. Als ich nicht protestierte, lächelte er. Er wollte mich nicht betrügen - ich fing keinen Geruch von Angst auf -, aber sein Lächeln wurde von etwas anderem verjagt. Schmerz?
»Wir brauchen dich, Calla.«
Meine Verwirrung steigerte sich noch, und so war ich gezwungen, sie abzuschütteln wie einen lästigen Fliegenschwarm. Ich musste selbstbewusst erscheinen, nicht abgelenkt von seinem merkwürdigen Verhalten.
»Wer genau ist ›wir‹? Und wozu brauchen Sie mich?«
Mein Ärger hatte sich verflüchtigt, aber ich konzentrierte mich darauf, meine Reißzähne rasiermesserscharf zu halten. Monroe sollte keine Minute vergessen, mit wem er es zu tun hatte. Ich war immer noch eine Alpha - das durfte ich ebenso wenig vergessen wie er. Diese Stärke war der einzige Vorteil, den ich im Augenblick hatte.
»Meine Leute«, sagte er und deutete vage hinter sich auf die Tür. »Die Sucher.«
»Sie sind ihr Anführer?« Ich runzelte die Stirn.
Er wirkte stark, aber gereizt - wie jemand, der nie so viel Schlaf bekam, wie er eigentlich brauchte.
»Ich bin ein Anführer«, erwiderte er. »Ich führe das Team Haldis an; wir sind verantwortlich für Operationen außerhalb des Vorpostens in Denver.«
»Lassen Sie uns über Ihre Freunde in Denver reden.«
Irgendwo in den Tiefen meines Geistes lächelte Lumine, meine Herrin, und ein Sucher schrie.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust, damit ich nicht schauderte. »In Ordnung.«
»Aber es ist nicht nur mein Team, das deine Hilfe braucht«, fuhr er fort, drehte sich plötzlich um und schritt vor der Tür auf und ab. »Wir alle brauchen dich. Alles hat sich verändert; wir dürfen keine Zeit verschwenden.«
Er fuhr sich beim Sprechen mit den Händen durch das dunkle Haar. Ich erwog zu fliehen - er war offensichtlich abgelenkt -, aber irgendetwas an seinem Verhalten faszinierte mich, und ich wusste nicht, ob ich überhaupt noch fliehen wollte.
»Du bist vielleicht unsere einzige Chance. Ich glaube nicht, dass der Spross dies allein tun kann. Du bist möglicherweise der letzte Teil der Gleichung. Der Wendepunkt.«
»Der Wendepunkt wovon?«
»In diesem Krieg. Du kannst ihn beenden.«
Krieg. Bei dem Wort geriet mein Blut in Wallung. Ich war dankbar dafür; die Hitze, die durch meine Adern floss, stärkte mich. Dieser Krieg war der, für den man mich erzogen hatte.
»Du musst dich uns anschließen, Calla.«
Ich hörte ihn kaum, war gefangen in einem roten Nebel - Gedanken an die Gewalt, die einen so großen Teil meines Lebens verzehrte, füllten mich aus.
Der Krieg der Hexen.
Ich hatte den Hütern bei ihren Kämpfen gegen die Sucher geholfen, seit ich mit den Zähnen Fleisch schneiden konnte. Ich hatte für sie gejagt, für sie getötet.
Dann konzentrierte ich mich wieder auf Monroe. Ich hatte seine Leute getötet. Wie konnte er nur wollen, dass ich mich ihnen anschloss?
Als spürte er meinen Argwohn, erstarrte er. Er sagte nichts, sondern verschränkte die Hände hinter dem Rücken, beobachtete mich und wartete darauf, dass ich sprach.
Ich schluckte und zwang mich zu einem festen Tonfall. »Ich soll also für Sie kämpfen.«
»Nicht nur du«, sagte er. Ich erkannte, wie bemüht er war, seine Worte zu kontrollieren. Er schien verzweifelt darauf bedacht zu sein, die Luft zwischen uns mit seinen Gedanken zu überfluten. »Aber du bist der Schlüssel. Du bist eine Alpha, eine Anführerin. Genau das haben wir immer gebraucht.«
»Das verstehe ich nicht.« Während er sprach leuchteten seine Augen so sehr, dass ich nicht wusste, ob ich Angst haben oder fasziniert sein sollte.
»Die Wächter, Calla. Dein Rudel. Du musst sie auf unsere Seite bringen. Damit sie mit uns kämpfen.«
Ein Gefühl, als wäre der Boden unter mir weggebrochen und als fiele ich. Ich wollte glauben, was er sagte, denn war es nicht genau das, worauf ich gehofft hatte?
Eine Möglichkeit, mein Rudel zu befreien.
Ja. Ja, das war es. Selbst jetzt raste mein Herz bei dem Gedanken daran, nach Vail zurückzukehren und meine Rudelgefährten zu suchen. Zu Ren zurückzukehren. Ich konnte sie alle von den Hütern wegführen. Zu etwas anderem. Etwas Besserem.
Aber die Sucher waren meine Feinde. Ich musste sehr vorsichtig sein, wenn ich einen Pakt mit ihnen schloss. Ich entschied mich dafür, mein Widerstreben zu übertreiben.
»Ich weiß nicht, ob das möglich ist.«
»Aber es ist möglich!« Monroe machte einen Satz nach vorn, als wollte er mich an den Händen packen, ein wahnsinniges Glitzern in den Augen.
Ich sprang zurück, wechselte in die Wolfsgestalt und schnappte nach seinen Fingern.
»Entschuldigung.« Er schüttelte den Kopf. »Es gibt so vieles, das du nicht weißt.«
Ich verwandelte mich zurück. Tiefe Linien waren in seine Züge eingemeißelt. Gehetzt, voller Geheimnisse.
»Keine plötzlichen Bewegungen, Monroe.« Ich ging langsam auf ihn zu, streckte die Hand aus und wehrte eine weitere Annäherung seinerseits ab. »Ich bin interessiert, aber ich bin nicht davon überzeugt, dass Sie wissen, was Sie von mir verlangen.«
»Ich weiß es.« Er wandte den Blick ab und zuckte bei seinen eigenen Worten beinahe zusammen. »Ich verlange von dir, alles aufs Spiel zu setzen.«
»Und warum sollte ich das tun?«, fragte ich.
Die Antwort kannte ich bereits. Ich hatte alles aufs Spiel gesetzt, um Shay zu retten. Und ich täte es auf der Stelle wieder, wenn es bedeutete, dass ich zu meinen Rudelgefährten zurückkehren konnte, wenn ich sie retten konnte.
Er trat zurück, streckte den Arm aus und gab mir den Weg zur offenen Tür frei.
»Freiheit.«
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
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Autoren-Porträt von Andrea Cremer
Wenn Andrea Cremer nicht schreibt, unterrichtet sie Geschichte an einem College in Minnesota. Sie liebt die Natur, starrt gern stundenlang in Baumkronen und versucht sich von weißen Teppichen fernzuhalten, da sie einen Hang hat, Dinge zu verschütten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andrea Cremer
- 2011, 1. Aufl., 336 Seiten, Maße: 13,7 x 21,4 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- in Deutsche übertr. v. Michaela Link
- Übersetzer: Michaela Link
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802583825
- ISBN-13: 9783802583827
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