Nummer eins
Er ist pure Energie, eine geballte Ladung Emotion, er ist ein Sieger - und einfach nur der Mensch Oliver Kahn.
Authentisch, ehrlich, direkt - Oliver Kahn über seine Stärken und Schwächen, über Angst, Perfektion und Leidenschaft. Seine Themen sind:...
Er ist pure Energie, eine geballte Ladung Emotion, er ist ein Sieger - und einfach nur der Mensch Oliver Kahn.
Authentisch, ehrlich, direkt - Oliver Kahn über seine Stärken und Schwächen, über Angst, Perfektion und Leidenschaft. Seine Themen sind: Erfolg und deren Kehrseite, Heldentum und Angst, Fußball und Leben, Sehnsucht und Fairplay, Vorbild und Älterwerden. Weit über den engen Horizont eines Fußballstadions hinaus schildert er, worauf es ihm ankommt im Leben und auf dem Platz.
Oliver Kahn: "Ich habe (...) gelernt, dass die Annahme von Drucksituationen mich nicht blockiert, sondern eher beflügelt, mir große Leistungen ermöglicht. Ich fühle mich dann wie die gespannte Saite einer Geige. In mir herrscht die größte Aufmerksamkeit, und ich zeige Reflexe, die in dieser Schnelligkeit sonst nicht möglich wären. Und ich bin überwach, sehe in diesen Momenten auf dem Feld vor mir Dinge, die ich sonst vielleicht nicht wahrnehmen würde."
Nummer eins von Oliver Kahn
Gladiatoren
Manchmal beschleicht mich dasGefühl, als seien wir Profifußballer nichts anderes als moderne Gladiatoren.Der Gedanke ist mir erstmals gekommen, als ich den Film Gladiator vonRidley Scott gesehen habe. In einer brodelnden Arena stellte sich der GladiatorMaximus, gespielt von Russell Crowe, den hungrigenMassen und forderte das gesamte römische Imperium heraus. Das bin ich, ging esmir durch den Kopf!
Natürlich waren diese Schauspiele inden riesigen Arenen der Antike primitiv und sehr barbarisch, die Kriegerschlugen einander die Köpfe ein, und nur derjenige ging als Sieger vom Platz,der einen anderen getötet hatte - auf dieser Ebene bewegen wir uns im21. Jahrhundert zum Glück nicht mehr. Doch auch heute kommen die Menschen insStadion, um bestimmte Rituale zu erleben. Sie tragen Fantrikots und schwenkenFahnen. Sie freuen sich und jubeln, sie ärgern sich und schimpfen, sie feuernihre Mannschaft an und weinen, wenn sie verloren hat. Und wir Fußballer stehenunten in der Manege und müssen versuchen, all diesen Anforderungen undErwartungen gerecht zu werden. Wer als Zuschauer schon einmal ein wichtigesSpiel mitverfolgt hat, weiß, wie aufgepeitscht die Stimmung in einem Stadionsein kann.
Übrigens hat Pepsi den Vergleichebenfalls angestellt und in einem Werbespot die Fußballer als Gladiatorender Neuzeit dargestellt: David Beckham, RobertoCarlos und Raúl González steigen in Leder gekleidetund mit einem metallenen Brustpanzer geschützt in eine Arena, die dem Film Gladiatornachempfunden ist.
Aber nicht nur die Zuschauer mitihren gefühlsbeladenen Ausbrüchen tragen zu diesemGladiatorenspektakel bei. Größtenteils sind es die Medien, die ein Spielanheizen, es in fetten Schlagzeilen kommentieren und sich nach dem Kampf ihreHelden und Verlierer suchen. Die Verlierer werden nicht mehr wie zu Zeiten derrömischen Kaiser getötet, aber sie werden in der Öffentlichkeit kritisiert, anden Pranger gestellt, manchmal zu Recht, vielfach aber auch völlig überzogen.Nichts wird süffisanter goutiert als ein am Boden liegender Verlierer.
Dem Sieger ergeht es nicht besser,wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen: Er wird maßlos überhöht. Sicherhat er eine Höchstleistung vollbracht, ein wunderbares Spiel gemacht,vielleicht ein tolles Tor geschossen oder einen großen Titel errungen, aberdie Überzeichnung durch die Medien steht in keinem Verhältnis dazu.
Ich frage mich oft, ob die Zuschauerwirklich verstehen, was es bedeutet, neunzig Minuten in einem Hexenkessel vorZehntausenden von Menschen Fußball zu spielen, aufzulaufen, Niederlagendurchzustehen, aber auch Siege zu feiern. Das eigene Stadion gewährt noch einengewissen Schutz, bei einem Auswärtsspiel hingegen fühlt man sich manchmalausgeliefert, schutzlos. Wirklich nachvollziehen können das vermutlich nurwenige.
Der Profisport ist ein Geschäft, dasden Spielern gesellschaftlichen und finanziellen Aufstieg ermöglicht. Doch dasist bei weitem nicht alles. Eine viel zitierte Aussage aus England bringt esauf den Punkt: »Es geht im Fußball nicht um Leben und Tod, es geht um vielmehr.« Besser kann man es nicht formulieren.
Als Spieler des FC Bayern, bei demjedes Jahr nur der Erfolg zählt, wird man mit der Zeit ohne Wenn und Aber aufErfolg getrimmt. Durch diesen Anspruch beschlich mich schon mal das Gefühl,alles sei erlaubt und der Zweck heilige die Mittel.
Wenn nur der Sieg eine Rolle spielt,besteht die Gefahr, innerlich zu verrohen. Mit der Zeit merkte ich, dass ichmeine Mitmenschen streckenweise nicht mehr so behandelt habe, wie es sichgehört. Wenn ich im Begriff war, im Angesicht meiner Erfolge den Boden unterden Füßen zu verlieren, habe ich mein Umfeld, meine Freunde vernachlässigt.Das ist nichts anderes als eine Folge des gnadenlosen Erfolgsdenkens. Aberdiese Orientierung auf den Erfolg hin ist ein Prinzip, das aus demProfigeschäft nicht mehr wegzudenken ist.
Der Profifußball gibt sich zwar nachwie vor sehr machohaft, im Grunde genommen ist er aber eher spießig:Profifußballer sind nicht so spektakuläre Persönlichkeiten, wie sie gemeinhindargestellt werden.
Die Medien erzeugen von einemSpieler oftmals ein Image, das dem eines Popstars gleichen soll. Nach außenwird ein Bild verkauft, das mit dem Wesen und dem Charakter des Spielers wenigzu tun hat. Wenn ich mir den Alltag eines Profifußballers genauer ansehe,stelle ich sehr schnell fest, dass er mit dem Klischee vom Leben eines Popstarskaum zu vergleichen ist. Was machen denn die meisten Fußballer? Sie heiratenmit einundzwanzig, haben kurz darauf zwei, drei Kinder und lebenzurückgezogen im eigenen Haus. Ein solches Leben ist vom aufregenden Lebeneines Popstars so weit entfernt wie die Erde vom Mond.
Einerseits sind die Zuschauerglücklich, wenn ihnen die Medien einen Sportler präsentieren, der auf ungewohnteArt zu ihrer Unterhaltung beiträgt. Sofort heißt es dann: »Ach, was sind wirfroh, dass wir wieder mal so einen bunten Vogel haben, der immer für eineÜberraschung gut ist.« Auf der anderen Seite gilt: Wer aus dem Rahmen fällt,wird sofort kritisch betrachtet.
Grundsätzlich könnte ich mirvorstellen, meinen Strafzettel, den ich für zu schnelles Fahren bekommen habe,zu rahmen und zu sagen: »I did itin a Ferrari.« Damit hätte ich kein Problem. Doch im Hinterkopf würde die Fragedrängen, wie viel Ironie und Spaß die Medien verstehen. Denn alles, was ichmache, wird anschließend breit diskutiert. Man würde mich anlässlich einersolchen Aktion für größenKahnsinnig halten unddarüber spekulieren, was denn jetzt schon wieder mit dem Oliver Kahn los sei.Es genügte schon, dass ich am Inntal-Dreieck geblitzt wurde und fünf Kilometerweiter noch einmal. »Scheiße«, dachte ich damals nur. In den Medien habe ichdafür einige Prügel einstecken müssen.
Nachdem das alles bekannt gewordenwar, wurde ich seziert wie ein Käfer unter der Lupe. Ist es denn wirklich vonBedeutung, dass ich zweimal zu schnell gefahren bin? Ich kann gut Fußballspielen, bin ein guter Torhüter - aber müssen meine privaten Angelegenheitenunbedingt die Schlagzeilen füllen? Es gibt in der Welt wichtige und großeProbleme: Hunger, Kriege, Terrorismus, Seuchen. Im Vergleich dazu sind meineprivaten Angelegenheiten Nebensächlichkeiten. Ich verstehe es nicht, wennProminente ihre privaten Dinge in der Öffentlichkeit austragen. Für mich zählt,dass ich die Verantwortung für mein Handeln übernehme, dass ich denbetreffenden Personen in die Augen sehen kann und in dieser Hinsicht einigermaßenmit mir im reinen bin.
Ich bin mir meiner Funktion alsVorbild für die Jugend bewusst, dennoch nehme ich für mich in Anspruch, auchaußerhalb des Spielfeldes nicht fehlerlos zu sein. Ich möchte, wie alle anderenMenschen auch, einfach Erfahrungen sammeln können. Denn das macht doch dasLeben aus.usatz
Die Medien haben meine Person schonmehr als einmal komplett durchleuchtet. Das Klischee vom aggressiven Spieler,der im Tor steht und seine Mitspieler anbrüllt, wird besonders gern ausder Schublade geholt: Man will mich in dieser Rolle sehen und stellt dieseSeite meines Wesens ungehemmt in den Mittelpunkt. Andere Charaktereigenschaftenscheinen im Blitzlichtgewitter nicht zu zählen.
Während der Weltmeisterschaft 2002in Südkorea und Japan wurde ich insbesondere von den Boulevardzeitungen inHöhen katapultiert, wo die Luft sehr dünn war. Anschließend wurde dasAußergewöhnliche zur Norm erklärt. Es wurde und wird erwartet, dass ich dieunhaltbaren Bälle halte. Mit dieser Erwartungshaltung im Hintergrund war dieTalfahrt vorhersehbar. Und genauso kam es dann auch.
Ich habe bei anderen erfolgreichenSportlern beobachtet, wie sie von den Medien erst zum Helden stilisiert und anschließendgnadenlos niedergemacht wurden. Im Jahr 2003 haben sich Zeitungen und Fernsehendann auf mein Privatleben gestürzt.
In einer solchen Situation stelltsich einmal mehr die Frage nach dem Preis, den man für seinen Ruhm zu zahlenhat. Ist es das wirklich wert? Zyniker meinen, ich müsse alles mit mir machenlassen, schließlich erhalte ich dafür ausreichend Schmerzensgeld.
Ein Traum
Als ich jung war, träumte ich davon,vor vielen Menschen Fußball zu spielen und dabei Freude und Spaß zu haben. Daswar naiv. Ich hatte den Traum, dass es beim Fußball nur ums Spielen geht -und das tat ich ja gern. Natürlich wollte ich auch den großen Stars in dieserSzene begegnen. Je länger ich aber meinen Job als Torwart machte, desto mehrmusste ich erfahren, dass der professionelle Fußball ein Geschäft ist, in demGeld, Eitelkeiten und Macht eine große Rolle spielen. So platzte der Traum.
Besonders wichtig war für mich dieIdee des Fairplay. In einer Welt des bedingungslosen Erfolgs spielt dieserGedanke aber nur noch eine untergeordnete Rolle. Auch ich selbst kann ihnnicht für mich in Anspruch nehmen, aber dennoch träume ich von Fairness undAufrichtigkeit im Spiel.
Fairplay in seiner Reinform istetwas für Idealisten. Es gibt nur noch wenige, die der vergangenen Vorstellungvon Fußball gerecht werden. Sie werden oft als naiv dargestellt, im Grundevertreten sie aber eine wichtige Forderung. Der einzelne Spieler hingegen kannsich nicht mit Überlegungen dieser Art beschäftigen. Der Druck, unter dem ersteht, ist viel zu groß. Er muss erfolgreich sein. Nur das zählt.
Fairplay erfordert im heutigenProfifußball ein hohes Maß an Zivilcourage. Welcher Spieler geht schon zumSchiedsrichter und sagt, dass er das Tor in der neunzigsten Minute unterZuhilfenahme der Hand erzielt hat? Der Schiedsrichter konnte es nichtsehen - aber die Fernsehkameras. Trotzdem bleibt das Tor ein Tor. Mandenke nur an den Treffer, den Diego Armando Maradona im WM-Viertelfinale 1986gegen England erzielt hat. »Es war der Kopf Maradonas und die Hand Gottes«,erklärte er den Treffer einer verdutzten Öffentlichkeit.
Ich kenne nur wenige, die demGedanken des Fairplay gerecht werden wollen. ArsèneWenger, der Trainer des FC Arsenal London, ist ein solcher Mensch. Er hat mitseiner Mannschaft einmal ein Spiel unter merkwürdigen Umständen gewonnen: Eingegnerischer Spieler hatte den Ball aufgrund der Verletzung eines Arsenal-Spielersins Aus geschossen. Arsenal bekam Einwurf, aber der Spieler warf den Ballnicht zum Gegner, wie es Brauch ist in solchen Situationen, sondern zu einemSpieler aus der eigenen Mannschaft. Dieser wiederum erzielte daraufhin ein Tor.Wenger sagte nach dem Spiel, dass er so nicht gewinnen möchte, das Spiel müsstewiederholt werden. Und es wurde tatsächlich wiederholt.
Würden Spieler Schwalben undHandspiele anzeigen, weil sie nicht um jeden Preis gewinnen wollen, dann würdesich ihr Verhalten - davon bin ich jedenfalls überzeugt - auch aufdie gesamte Gesellschaft und insbesondere auf die Jugendlichen auswirken.
Fußball, so wie ich ihn mirvorstelle, wird allenfalls noch in England gespielt. Bei kleinen Fouls wirdnicht lange lamentiert, die Spieler stehen schnell wieder auf und bleiben nichtewig liegen, sie bedrängen den Schiedsrichter kaum, um rote und gelbe Kartenfür die gegnerischen Spieler zu fordern, die Zuschauer feuern ihre Mannschaftan und anerkennen bei einem Sieg des Gegners auch dessen Leistung - ichhabe das in Manchester mehrfach erlebt -, ohne die eigene Mannschaftauszupfeifen. Das hat in meinen Augen etwas mit Fairplay zu tun. Wenn aber zumBeispiel in der Nachspielzeit ständig Spieler ausgewechselt werden, nur um Zeitzu schinden, dann entspricht das nicht meiner Vorstellung von Fußball. Auchwenn ein Spieler gefoult wird und ein riesiges Theater um sein Knie macht, nurum anderthalb Minuten herauszuschlagen, zeugt das nicht gerade vonFairplay. Es kommt auch immer wieder vor, dass alle Spieler die Hand heben undbehaupten: »Der hat den Ball berührt, nicht ich!« Das ist fast schon absurd.
Beim Golf hingegen spielt dasFairplay eine große Rolle. Hier habe ich gelernt, was unter dem Begriff»gentlemanlike« zu verstehen ist. Das Spiel mit dem kleinen weißen Ballerfordert ein hohes Maß an Selbstdisziplin. Das beginnt schon damit, dass manleise ist, wenn der andere spielt. Und wenn man sich einmal verzählt hat,korrigiert man sich und sagt, dass es ein Schlag mehr war.
Zu meiner Utopie von einem fairenFußballspiel gehört auch, dass die Zuschauer stolz sind, wenn die eigeneMannschaft gewinnt. In Deutschland habe ich oft beobachtet, dass ein Siegallein nicht ausreicht. Es muss auch noch besonders aufregend gespielt werden.Oder es wird gefragt, wo denn das schöne Spiel geblieben sei. Die Engländersind da viel direkter. Für sie heißt es nur »Goal! Goal!« - »Tor! Tor!«,und das reicht zum Glücklichsein. Sie wissen, es gibt gute und schlechteSpiele, gerade wenn eine Mannschaft oft spielt. Entscheidend ist, dass manerfolgreich war.
Wenn hingegen deutsche Mannschaftenzwar gewonnen, jedoch nicht gut gespielt haben, dann heißt es am nächsten Tagin den Zeitungen: »Schlechtestes Spiel aller Zeiten« - »Neuer Tiefpunkt!«oder »Große Krise!« Solch eine Berichterstattung übertreibt maßlos. Entwederhebt sie uns Spieler in den Himmel, oder sie macht uns nieder.
Kein Wunder, dass Teamchef RudiVöller im August 2003, nach einem 0:0 gegen Island, in einem Sportschau-Interviewmit Waldemar Hartmann der Kragen platzte. Hartmann sprach wieder einmal voneinem Tiefpunkt, und Völler konterte: »Tiefpunkt, noch tieferer Tiefpunkt, ichkann es nicht mehr hören.« Und er forderte von den Kommentatoren mehrSachlichkeit und weniger sinnlose Verrisse. Ich kann ihm da nur zustimmen.Kritik ist sehr wichtig, aber wenn sie das normale Maß übersteigt und nichtmehr konstruktiv ist, dann kann ich sie nicht annehmen.
Selbst ehemalige Spieler, die heuteals Sportkommentatoren tätig sind, zeigen manchmal wenig Einfühlungsvermögenfür die Situation der aktiven Spieler. Obwohl ihnen die gleichen Fehlerunterlaufen sind, urteilen sie manchmal in einer Art und Weise, als hätten sienie selbst auf dem Platz gestanden. Ich weiß nicht, wie ich in einer ähnlichenFunktion reagieren würde. Provokationen sind notwendig, um das Produkt Fußballzu verkaufen. Und ohne eine gewisse Aufgeregtheit wäre der Fußball nicht das,was er ist.
Autoren-Porträt vonOliver Kahn - Das schreibt der Bayern-Torhüterin "Nummer eins" über sich selbst
Vorwort
Eigentlich bin ich ein ausgeglichener und fröhlicher Mensch.Es muss wohl mit meinem Beruf zusammenhängen, dass ich nach außen hin oftmals sehrernsthaft und verbissen wirke. Mein Job als Fußballprofi, und speziell alsTorwart, fordert nun mal Entschlossenheit und Besessenheit.
Nur wenige Menschen können sich vermutlich vorstellen, wases bedeutet, in der Fußballnationalmannschaft und beim FC Bayern München dieNummer eins zu tragen. Durch harte Arbeit habe ich erreicht, was ich wollte.Aber ich weiß auch: Ich stehe ständig unter Beobachtung, ich werde an denhöchsten Maßstäben gemessen, ich werde "in den Himmel gehoben" und "in dieHölle geschickt". Jeder Fehler wird von allen Seiten durchleuchtet undöffentlich diskutiert.
Als Torhüter habe ich körperlich kein Ventil, um diesenDruck abzulassen. Ich kann mir nicht den Ärger von der Seele laufen, kann nichtmit noch mehr Engagement auf dem Platz überzeugen. Ich stehe "nur" im Tor.Gleichzeitig bin ich mental natürlich voll im Spiel, hochkonzentriert undvoller Anspannung.
Über einen längeren Zeitraum ganz oben zu sein macht dieSache auch nicht einfacher. Es gibt keine Routine, mit der man diese Positionimmer wieder bestätigen kann. Ich bewundere Sportler, die es geschafft haben,über Jahre hinweg an der Spitze zu stehen: Tiger Woods zum Beispiel oderMichael Jordan, Wayne Gretzky, Michael Schumacher, Pete Sampras und BorisBecker. Sie alle hatten und haben ihre eigene Strategie, um so lange wiemöglich sportliche Spitzenleistungen zu erbringen.
In diesem Buch versuche ich zu beschreiben, was es für michheißt, die Nummer eins zu tragen und zu sein.
Der Ball
Jeder Torhüter hat ein leicht schizophrenes Verhältnis zumBall. Einerseits liebt er ihn, wenn er ihn in den Händen hält, wenn er nichtdie Linie überquert, nicht im Netz zappelt. Andererseits aber verflucht er denBall, wenn er über diese magische Linie rollt und unabänderlich im Tor landet.[...]
Wenn ich ihn halte, ist das der Himmel auf Erden, ichverspüre eine unglaubliche Euphorie. Wenn ich ihn dagegen nicht zu packenbekomme, tritt genau das Gegenteil ein, ich stürze für diesen Augenblick ineinen Abgrund.ImTor
Mein größter Fehler ist meine Ungeduld, obwohl ich alsTorwart eine unglaubliche Geduld beweisen muss. Ich möchte die Dinge immersofort haben, alles muss in diesem Augenblick passieren, sonst bin ichunerträglich. . [...]
Nicht nur der Rahmen des Tores, auch der Strafraum grenztmich ein. [...] Vielleicht suchen sich Torhüter deshalb an anderer Stelle ihreFreiräume und sind - wie es so oft gesagt wird - in einem gewissen SinneEigenbrötler. Wir wollen uns nicht gern unterordnen. Wir müssen Freiräumehaben, ohne dass es unsere Absicht ist, dadurch aus dem Mannschaftsgefüge zufallen. Wir sind in die Mannschaft integriert, dennoch machen wir viel allein.. [...]
Die Größe des Tores ist eher eine psychologischeHerausforderung, denn sie wechselt ständig. Es gibt Tage, da habe ich dasGefühl, das Tor sei unglaublich klein. Das ist dann der Fall, wenn ich gutdrauf bin und das Spiel hervorragend läuft. Manchmal blicke ich mich kurz um,weil ich kaum glauben kann, wie winzig mir an solchen Tagen das Tor vorkommt.Ich dagegen bin der reinste Riese. Aber es gibt auch die anderen Tage. Wenn ichnach zwei Minuten den ersten Treffer kassiert und nach fünf Minuten späterschon wieder irgend etwas passiert, dann schrumpfe ich zum Zwerg, und das Torhinter mir nimmt kosmische Dimensionen an. Das ist ein sehr interessantesPhänomen; seltsamerweise ist es nur schwer zu steuern. . [...]
Der Torwart kann spielentscheidend sein - im positiven wieim negativen Sinn. Ich bin überzeugt, dass ich meine Mannschaft unterstützenund ihr einen gewissen Halt geben kann. Aber ich allein als Torhüter binmachtlos. Ohne meine Abwehr, ohne meine Mitspieler, ohne mein Glück und alles,was dazugehört, bin ich in diesem Job nichts.
Gefühle
Ich wollte immer authentisch sein. Die Menschen sollensagen, der Oliver Kahn lebt auf dem Platz, er liebt seinen Sport, er tut allesfür den Erfolg, er macht Fehler, aber er macht auch tolle Sachen.
Ich werde als "Titan" bezeichnet, als "King Kahn" oder"Vul-Kahn", aber am liebsten bin ich der Keeper, der Torhüter. [...]
Ich schlüpfe [...] in meine Torwartkluft, und auf einmalverändert sich etwas. Schon wenn ich das Stadion betrete, macht es »Klick« inmeinem Kopf, und es setzen sich Mechanismen in Gang, die überhaupt nichts mitder Realität zu tun haben. Manchmal werde ich tatsächlich den Eindruck nichtlos, es existieren in mir zwei Personen, der Sportler Oliver Kahn und derprivate Mensch Oliver Kahn.
[...]
Immer wieder faszinieren mich die Emotionen des reinenSpiels. Beim Fußball zeigt man seine tiefsten Gefühle.
Druck
Ich habe [...] gelernt,dass die Annahme von Drucksituationen mich nicht blockiert, sondern eherbeflügelt, mir große Leistungen ermöglicht. Ich fühle mich dann wie diegespannte Saite einer Geige. In mir herrscht die größte Aufmerksamkeit, und ichzeige Reflexe, die in dieser Schnelligkeit sonst nicht möglich wären. Und ichbin überwach, sehe in diesen Momenten auf dem Feld vor mir Dinge, die ich sonstvielleicht nicht wahrnehmen würde.
Ziele
Erst als ich merkte, dass meineLebensqualität merklich abnahm, ich jeglichen Spaß an den kleinen Dingen desAlltags verloren hatte, nur noch der Sport Sinn vermittelte, einzig das nächsteTraining interessant war und ich ausschließlich daran dachte, erfolgreich seinzu müssen, erst an diesem Punkt habe ich begriffen, dass meine Besessenheit zuweit ging. Ich war zum Workaholic geworden, mit allen nur erdenklichenBegleiterscheinungen eines Süchtigen. Ich fühlte mich nur noch gut, wenn ichdie Droge Fußball bekam. Ich wollte mehr und mehr davon.
Erfolg
Erfolge zu haben und sie immer wieder zu bestätigen ist einegroße Kunst. Wieder und wieder erfolgreich zu sein, Siege zu feiern und Titelzu gewinnen, das ist wie eine Sucht, die mich antreibt. [...]
Im Profifußball zählt nur die Gegenwart: Ich bin immer nurso gut wie mein letztes Spiel.
Heldentum
Ich fühle mich in der Rolledes Helden nur bedingt wohl. [...] Man wird in Sphären katapultiert, in denensich ein Mensch kaum zurechtfinden kann. Dort verschwimmen die Realitäten, undman beginnt tatsächlich das zu glauben, was die Medien voller Verehrungberichten.
Gladiatoren
Ich frage mich oft, ob die Zuschauer wirklich verstehen, wases bedeutet, neunzig Minuten in einem Hexenkessel vor Zehntausenden vonMenschen Fußball zu spielen, aufzulaufen, Niederlagen durchzustehen, aber auchSiege zu feiern. Das eigene Stadion gewährt noch einen gewissen Schutz, beieinem Auswärtsspiel hingegen fühlt man sich manchmal ausgeliefert, schutzlos.Wirklich nachvollziehen können das vermutlich nur wenige. [...]
Die Medien erzeugen voneinem Spieler oftmals ein Image, das dem eines Popstars gleichen soll. Nachaußen wird ein Bild verkauft, das mit dem Wesen und dem Charakter des Spielersnichts zu tun hat. Wenn ich mir den Alltag eines Profifußballers genaueransehe, stelle ich sehr schnell fest, dass er mit dem eines Popstars nicht zuvergleichen ist. Was machen denn die meisten Fußballer? Sie heiraten miteinundzwanzig, haben kurz darauf zwei, drei Kinder und leben zurückgezogen imeigenen Haus. Ein solches Leben ist vom aufregenden Leben eines Popstars soweit entfernt wie die Erde vom Mond. [...]
Ich bin mir meiner Funktion als Vorbild für die Jugendbewusst, dennoch nehme ich für mich in Anspruch, auch außerhalb des Spielfeldesnicht fehlerlos zu sein. Ich möchte, wie alle anderen Menschen auch, einfachErfahrungen sammeln können. Denn das macht doch das Leben aus.
Erwachsen werden
Fußball ist ein Sport inkurzen Hosen. Elf Männer spielen ein Spiel, das sie schon als Kinder gespielthaben. So haftet jedem Fußballspiel der Zauber des Kindlichen an. Und genau daskann zum Problem werden. Fußballer haben es immer schwer, erwachsene Männer zuwerden, weil sie ja immer nur spielen. Das können sie mit der Zeit immerbesser. Aber andere Entwicklungen kommen dabei zu kurz.
Was hat Sie motiviert, einBuch zu schreiben?
Ich glaube, von mir hättekaum jemand erwartet, dass ich ein Buch schreibe. Der Hauptgrund, weshalb iches nunmehr getan habe, liegt darin, dass die Zeit dafür einfach reif war. Es wurdeund wird viel über mich behauptet, jeder weiß immer etwas über mich zuberichten. Aber die meisten Menschen, ob Fans oder Presse, kennen nur denTorhüter Oliver Kahn. Ich möchte mit meinem Buch einen Einblick in meineGedankenwelt geben, den Menschen Oliver Kahn zeigen. Ich will zeigen, was mirwichtig ist, im Leben und auf dem Platz. Und ich denke, ich kann den Lesernmeines Buches etwas von meinen Lebenserfahrungen mitgeben.
Wie stark ist "Nummereins" von autobiografischen Zügen geprägt?
Mein Buch ist keine Biografieim eigentlichen Sinne. Es ist auch kein Becker-, Bohlen-, Effenberg- oderMatthäus-Tagebuch. Es sind meine Gedanken, die ich niedergeschrieben habe. Esist ein Buch über meine Lebenserfahrung.
Hat die Arbeit an Ihrem Buch Ihre Sichtweise auf diebeschriebenen Ereignisse und Ihre Selbstwahrnehmung verändert?
Mit 24 hätte ich so ein Buchsicher nicht schreiben können. Ich habe durch meinen Sport und meineBekanntheit sehr viele Extreme erlebt: größtes Glück, tiefste Traurigkeit. Alldiese Erfahrungen habe ich analysiert. Ich habe versucht herauszufinden, woraufes mir wirklich ankommt.
Sie haben keinen Co-Autoren - anders als viele andere, dienicht professionell schreiben. Ist Ihnen das Formulieren leicht gefallen?
Harte Arbeit ist für mich jabekanntlich ein Schlüssel zum Erfolg. Aber das Buch zu verfassen hat mir aufeine ganz andere Art harte Arbeit abverlangt. Weniger das Formulieren, eher dieungewohnte Tätigkeit. Sich viele Gedanken zu machen, ist eins. Diese aber dannauch zu strukturieren und zu kultivieren, dass sie für andere Menschen lesbaroder nachvollziehbar sind, das ist eine ganz andere Sache.
Sie schreiben in "Nummer eins" über Ihreberuflichen Herausforderungen. Ihr Privatleben spielt keine Rolle in Ihrem Buch.Haben Sie dennoch Verständnis, wenn sich die Öffentlichkeit genau dafür sehrinteressiert?
Anfangs war ich überraschtvon der Aufmerksamkeit, die mir die Medien immer wieder schenken. Ich bin soerzogen, dass Privates in der Öffentlichkeit nichts zu suchen hat. Aberoffensichtlich will die Öffentlichkeit alles wissen. Dem Rechnung zu tragen istnicht immer leicht, da ich es nicht für richtig halte, Privates preiszugebenund in der Öffentlichkeit breit zu treten. Das ist mir fremd - jeder Menschbraucht eine gewisse Intimsphäre.
Die Fragen stellte Mathias Voigt, literaturtest.de.
- Autor: Oliver Kahn
- 2004, 1, 175 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 13,2 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426273462
- ISBN-13: 9783426273463
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