Nur ein Tropfen Glück
Boston, 1914. Lydia, Verkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft, lernt den Mann ihres Lebens kennen, einen unscheinbaren Medizinstudenten, der bezaubernde Briefe schreiben kann. Nach der Heirat macht er aus seinem Talent eine Profession. Zusammen mit einem dubiosen Heiltrunk, den Lydia zusammengebraut hat, verkauft er seine Briefe als Medizin. Doch kaum dass die Erfindung sich auszuzahlen beginnt, bricht die Spanische Grippe aus: Boston steht unter Quarantäne, Lydia wird Witwe und riskiert ihr Leben, um anderen zu helfen.
Henry Wickett ist ein Hypochonder, wie ihn nur reiche Elternhäuser hervorbringen, und als Liebhaber nur mäßig begabt. So erschöpft sich sein Beitrag zum Gelingen der Hochzeitsnacht im korrekten Zitieren lateinischer Fachbegriffe gewisser Körperregionen. Doch Lydias natürlicher Charme kuriert ihn. Bald lässt Henry sich von der patriotischen Aufwallung in Boston anstecken und will in den Krieg ziehen, doch wegen seiner schwächlichen Konstitution wird er ausgemustert. Den Großteil seiner Energie jedoch steckt er in seine "Heilbriefe" und in die Vermarktung des Getränkes, für dessen Vertrieb er einen tatendurstigen Kompagnon gewinnt.
Sein früher Tod kommt überraschend, und Lydia braucht eine Weile, bis sie merkt, dass Henry keinem gewöhnlichen Virus zum Opfer fiel, sondern der Spanischen Grippe, die durch die Straßen und Häuser von Neuengland fegt. Auch ihr Lieblingsbruder stirbt bei dieser Pandemie, und für Lydia bricht eine Welt zusammen. Aber aus Trauer und Verzweiflung schöpft sie auch Entschlossenheit, und so schaut sie nicht weg wie die anderen, sondern hilft und riskiert ihr Leben. Als Grippe und Krieg vorbei sind, steht Lydia vor einer neuen Herausforderung: sich von Henrys Kompagnon den ihr zustehenden Anteil an den Gewinnen aus dem "Heiltrunk" zu sichern. Ein vielstimmiger Roman, der auf minutiösen Recherchen beruht und uns das Schicksal einer ganzen Epoche aus der Sicht einer ungewöhnlichen Frau näher bringt.
"Ein Quantensprung in der Entwicklung dieser großartigen Schriftstellerin." - Kirkus Reviews
"Humorvoll, bedrückend, zärtlich, ein Meisterwerk, das Leserherzen höher schlagen lässt." - Library Journal
Nur ein Tropfen Glück von Myla Goldberg
LESEPROBE
Auf der D Street brauchte man keinenWecker: Die stets pünktlichen Pferdefuhrwerke waren ein Heer, das die Pfortendes Schlafes stürmte. Die hölzernen Rollwagen waren schwer und lagen tief auflaut ratternden Rädern, und die dicken Planken waren so zerstoßen undverschmutzt, dass man nicht mehr sah, dass sie aus Holz gefertigt waren. DieKarren wurden von Pferden gezogen - zwei, vier, manchmal sechs pro Gespann -,deren Hufe über die nahe gelegene Third Streetklapperten. Die Fenster klirrten, und der Boden bebte; der Krach war wie die Handeines Riesen, die an Lydia Kilkennys schlafenden Schulternrüttelte. Jeden Morgen wurde sie nicht von dem Lärm geweckt, sondern erwachtemitten in ihm. Im Winter kamen die Wagen, wenn der Himmel noch dunkel war unddie Hufe knallend auf das vereiste Kopfsteinpflaster schlugen. Im Sommer schiendas Pferdegetrappel freundlicher zu klingen, vielleicht, weil der Himmelbereits fahl vom ersten Licht war.
Cora Kilkenny erinnert sich, dass ihre Tochter Liddie als kleines Ding glaubte, das Geräusch wäre Gott,der die guten Katholiken auf der D Street wecken wollte.
Lydia wusste, dass diese polterndenFuhrwerke auf dem Weg in die Bostoner Innenstadt waren, doch das Straßengewirr aufder anderen Seite der Broadway-Brücke tauchte nur in Verbindung mit denPferdegeräuschen in ihrem Kopf auf und verschwand mit deren Verklingen auchwieder. Wenn der Strom der Rollwagen abnahm und sie nicht mehr nebeneinander,sondern einer hinter dem anderen fuhren, lösten das Knarren von Dielen und diegedämpften Stimmen der Nachbarn das Hufgeklapper ab. In den Fabriken ertöntendie Pfeifen. Kirchenglocken läuteten. Der Gemüsehändler setzte sich mit seinem Ruf»Frische Tomaten« auf der D Street in Bewegung, selbst wenn er keine Tomatenhatte, weil ihn diese Worte von den anderen Gemüsemännern abhoben, dieebenfalls mit ihren Karren durch Southie zogen.
Während Lydia sich zu regen begann,setzte ihre Mutter bereits Wasser für Kakao und Haferbrei auf. Wenn Lydia dieKleinen angezogen hatte, waren Michael und ihr Vater mit ihren morgendlichenWaschungen fertig, und sie hatte die Waschschüssel für sich allein. Siebürstete ihre Haare und steckte sie hoch, und meistens waren dann auch diePferdewagen verschwunden. Dann schien das andere Boston, der Nordteil, wiederweit entfernt zu sein.
Jamieerinnert sich an den warmen Druck der Hände seiner Schwester, wenn sie ihn aus demBettchen hob und neben den Kleidern absetzte, die sie für ihn bereitgelegthatte, während das Hufgeklapper wie Murmeln durch seinen Kopf rasselte.
South Boston war so sehr und soselbstverständlich ein Teil Lydias wie ihr Zeigefinger. Sie kannte dieseStraßen besser als jeder Stadtplan, da in ihrem geistigen Atlas auch dieVeränderungen der Jahreszeiten, von Tag zu Tag und Stunde zu Stunde, berücksichtigtwaren. Wenn sie die 28 D Street verließ - eines von vielen einförmigen, dreistöckigenMietshäusern, die wie schlechte Zähne an der Straße aufgereiht standen -,spielte dieser innere Kalender auch bei der Wahl ihres Weges eine Rolle.Dienstagnachmittags zum Beispiel, wenn sie für ihre Mutter Mehl und Marmeladevon Hennesy s holte, mied Lydia die kürzeste Streckeüber die Fifth Street, weil sie den Speckseifenmannmit seinem Block Waschseife nicht leiden konnte. Ganz unabhängig vom Ziel wardie Third Street am Spätnachmittag gänzlich zuumgehen, weil der Ansturm der in ihre Remisen und Ställe zurückkehrenden Wageneine Zumutung für die Nase - und für die Fußgänger zuweilen lebensbedrohlichwar.
Im tiefsten Winter, wenn Eis undfestgetretener Schnee jeden Schritt gefährlich werden ließen, konnte man sich amWest Broadway auf dem Trittbrett eines Lastschlittens mitnehmen lassen, derMilch, Lebensmittel oder Bier ausfuhr, aber zum Rodeln ging man am besten nach Dorchester Heights. Sofern maneinen guten Rodelschlitten hatte und die Straßen nicht zu voll waren, konnteman in der Nähe der G Street losfahren und fast ein Viertel des Alphabetsdurchqueren - bis zur L Street. Michael war der bessere Rodler, vielleicht weiler mutiger oder ein Jahr älter war; Lydia schaffte es bestenfalls bis zur J Street,bevor der Schlitten sie oder sie den Schlitten zum Anhalten brachte.
Da Dan KilkennyEismann war, war die gesamte D Street-Bande Lydia undMichael den Sommer über hörig. In der brütenden Sommerhitze war Speiseeis etwasMagisches: Die großen Blöcke, die hinten aus einem Wagen zum Vorschein kamen,dampften unglaublicherweise nicht vor Hitze, sondernvor Kälte, auf der Treppe hallten die unverkennbar schweren Schritte desEismanns, auf dessen breitem Rücken die Eisblöcke gestapelt waren, die wieriesige, schmelzende Diamanten glitzerten. Pater O Brian beschrieb in seinenPredigten den Himmel als einen Ort voller Engelsgesang und Licht, aber Lydia wardavon überzeugt, dass es dort wie im Eiswagen ihres Vaters war: still, kühl unddunkel. Der Gestank von Leder und Leim aus der nahe gelegenen Schuhfabrik wurdedort von Salzheu, Sägespänen und Stroh verdrängt, und auch das Geschrei desLumpensammlers war nur noch gedämpft zu vernehmen.
An besonders heißen Tagen war esnicht notwendig, sich vorher abzusprechen. Die Bande spielte zusammen Ball imCommonwealth Park oder schlenderte hinunter an den Strand am City Point oderspielte auf der Straße Murmeln oder Verstecken. Ohne ein Wort drehte Michaelsich dann zu Lydia um oder sie zu ihm, und mit lautem Geheul beendeten sie dieUnternehmung des Tages und rasten los in Richtung Eis. Beim Anblick seiner Brutließ Dan Kilkenny dann einen überzähligen Block springen:Das Eis fiel in hohem Bogen auf die Straße, ein Traum gefangenen Lichts, bis esauf dem Pflaster zu frostigem Glück zerbarst. Jeder Anstand wurde gegen das flüchtigeHochgefühl von Eis an der richtigen Stelle eingetauscht. Splitter desGefrorenen fanden den Weg in Münder, unter Hemden und Kleider, unters Kinn undauf geschlossene Augen. Eis wurde in die Kuhle am Hals gebettet und zwischenFinger und Zehen gespannt. Das Eis lockerte den eisernen Griff des Sommers einpaar köstliche Minuten lang, bevor die Hitze wieder unbarmherzig zuschlug.
WennMargaret Kelly aus der 32 D Street einen Eismann zumVater gehabt hätte, hätte sie nicht so ein Getue darum gemacht. In der größtenHitze mussten alle in Reih und Glied antreten und sich von Liddieund Mick Tausend Nadelstiche verpassen lassen, bevor sie ihnen die richtigeStraße zeigten.
Zehn Jahre lang war ihr diese Weltgroß genug. In der fünften Klasse betrachtete Lydia einen Stadtplan undverstand plötzlich, dass ihr ganzes Reich nur aus dem kleinsten Finger anBostons breiter Hand bestand. Das neblige Ziel der morgendlichen Pferdewagenwurde nun deutlicher. Auf der anderen Seite der Brücke lagen der Boston Common,der älteste öffentliche Park Amerikas, und der Public Garden mit seinenSchwanenbooten. Auf der anderen Seite der Brücke war die Washington Street -die längste Straße in ganz Neu-England -, die sich endlos in Richtung Südenzog, durch jede Ortschaft zwischen Boston und Providence,ein einziges, zielstrebiges Band aus Pflastersteinen. Als sie die WashingtonStreet erst einmal gesehen hatte, wusste Lydia, dass das Leben dort nicht ohnesie weitergehen konnte.
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© KarlBlessing Verlag
Übersetzung:Anke Caroline Burger
- Autor: Myla Goldberg
- 2006, 1, 359 Seiten, Maße: 14,4 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Burger, Anke Caroline
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 3896673157
- ISBN-13: 9783896673152
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