Winterfluch / October Daye Bd.1
Die Welt der Feen und Elfen ist nie gänzlich verschwunden, sondern besteht im Geheimen neben der Wirklichkeit fort. October "Toby" Daye ist ein Kind beider Welten, halb Mensch, halb Fae. Einst verlor sie alles, was ihr lieb war; und seitdem meidet sie...
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Produktinformationen zu „Winterfluch / October Daye Bd.1 “
Die Welt der Feen und Elfen ist nie gänzlich verschwunden, sondern besteht im Geheimen neben der Wirklichkeit fort. October "Toby" Daye ist ein Kind beider Welten, halb Mensch, halb Fae. Einst verlor sie alles, was ihr lieb war; und seitdem meidet sie Menschen und Fae gleichermaßen. Da wird in San Francisco eine Fürstin der Fae, ermordet, und Tobys Leben gerät erneut aus den Fugen. Durch einen mächtigen Fluch, den die Fürstin mit ihrem letzen Atem ausstößt, ist Toby verpflichtet, ihren Tod aufzuklären. Um dem Fluch zu entkommen, muss Toby in die Welt der Fae zurückkehren. Bald stellt sie fest, dass mehr als nur ihr Leben auf dem Spiel steht. Ein packender Feenkrimi und zugleich der erste Roman in einer spannungsgeladenen Urban-Fantasy-Serie, die keltische Motive in eine moderne Welt überführt. "Hervorragend recherchiert, packend erzählt, äußerst atmosphärisch und kompromisslos wie ein guter Krimi. Der viel versprechende Auftakt einer neuen Urban-Fantasy-Serie, die Fans von Jim Butcher und Kim Harrison gleichermaßen anspricht." Publishers Weekly
Lese-Probe zu „Winterfluch / October Daye Bd.1 “
Winterfluch von Seanan McGuireKapitel 1
23. Dezember 2009: vierzehn Jahre und sechs Monate später
Da ist Fenchel für Euch und Aglei;
da ist Raute für Euch, und hier ist welche für mich;
Ihr könnt Eure Raute mit einem Zeichen tragen.
William Shakespeare, Hamlet
Stockend hatte der Dezember in San Francisco Einzug gehalten, wie ein Besucher, der nicht sicher war, ob er bleiben wollte. Der Himmel präsentierte sich in der einen Minute blau, in der nächsten bedeckt. Touristen schwitzten oder froren mit ihrer Reisegarderobe, während die Einwohner an einem einzigen Nachmittag von Pullovern zu ärmellosen Hemden und wieder zurück wechselten. Das ist in der Gegend aber ganz normal. In der Bucht herrscht nahezu ständig Frühling, und die Farben der Hügel – braun mit hoher Buschfeuergefahr im Sommer, grün und chronisch unter Schlammlawinen leidend im Winter – bilden den einzigen wirklichen Unterschied zwischen den Jahreszeiten.
Es war halb sechs Uhr morgens, und der Safeway-Supermarkt in der Mission Street – nie ein Highlight des Nachtlebens, ganz gleich, wie man es betrachtete – wirkte praktisch verwaist. Der übliche Ansturm der Trunkenbolde und jugendlichen Nachtschwärmer lag schon Stunden zurück. Inzwischen hatten wir nur noch eine Ansammlung von Frühaufstehern, Nachtschichtpersonal und Obdachlosen auf der Suche nach einem warmen Plätzchen, an dem sie den Rest der Nacht verbringen konnten. Die Obdachlosen und ich hatten die stillschweigende Vereinbarung getroffen, einander zu ignorieren. Solange ich nicht zugab, dass ich sie sehen konnte, brauchte ich sie auch nicht aufzufordern zu gehen, und beide Seiten ersparten sich den ansonsten unvermeidlichen Ärger.
Ich bin allmählich richtig geübt darin, Dinge zu ignorieren, die ich nicht sehen will. Man könnte es auch als eine »angeeignete
... mehr
Fähigkeit« bezeichnen. Jedenfalls arbeite ich weiter daran.
»Bar oder mit Karte, Ma’am?«, fragte ich und gab mir keine Mühe, die Müdigkeit aus meinem Tonfall zu verbannen. In einer halben Stunde
ging meine Schicht zu Ende, also würde ich gerade noch rechtzeitig nach Hause kommen, bevor die Sonne aufging.
»Karte, Schätzchen«, antwortete die Frau an meiner Kasse. Sie fuhr sich mit einer Hand durch schmierige braune Locken und deutete auf mein Namensschild. »Ist das wirklich der Name, den dir deine Eltern gegeben haben?«
Ich pappte mir ein Lächeln ins Gesicht und begann, ihre Waren mit der automatischen Mühelosigkeit einzutüten, die durch lange Übung entsteht. »Ja.« Sie kaufte sechs Halbliterbottiche Gourmet-Eiscreme und eine Zwölferpackung Cola Light. Ich habe schon seltsamere Einkäufe gesehen.
»Wohl Hippies, wie?«
Nein, eine Fae-Frau und ihr irischer Buchhaltergemahl. Aber das war unmöglich zu erklären, deshalb nickte ich nur. »Auf Anhieb erraten. Das macht 18,53 $.«
Grunzend fuhr sie mit ihrer Visa-Karte durch das Terminal und wartete kaum, bis der Vorgang abgeschlossen war, bis sie nach ihren Einkäufen griff und auf die Tür zusteuerte. »Gute Nacht, Schätzchen.«
»Ihnen auch, Ma’am«, rief ich zurück. Dann nahm ich ihre Quittung von der Kasse und hielt sie hoch. »Sie haben vergessen, Ihre …«
Zu spät; sie war schon weg. Ich zerknüllte die Quittung, warf sie in meinen Abfalleimer und lehnte mich gegen die Trennwand, die meine Bahn von der nächsten abgrenzte. Die Frau könnte ja später zurückkommen und sich bei meinem Boss darüber beschweren, dass sie keine Quittung erhalten hatte, wenn ihr danach zumute war. Bei meinem Glück würde ihr danach zumute sein – was mir einen weiteren Minuspunkt in meiner Personalakte bescheren würde. Genau das, was ich nicht gebrauchen konnte. Dies war mein dritter Job, seit ich aus dem Teich befreit war; die beiden ersten waren jämmerliche Fehlschläge gewesen, größtenteils aufgrund meiner eingeschränkten Arbeitszeiten, meines allgemeinen Mangels an kulturellem Bewusstsein und meines unvollständigen Verständnisses moderner Technik. Wer hätte gedacht, dass man als Nachtschichtangestellte eines 7-Eleven- Supermarkts so viel Computerwissen benötigte? Ich jedenfalls nicht, bis ich wegen meiner Unfähigkeit, die Registrierkasse neu zu starten, gefeuert wurde. In der Nachtschicht an der Kasse zu stehen mochte vielleicht nicht meine letzte Chance sein, aber es fühlte sich durchaus so an. Bei Safeway gab es wenigstens einen Filialleiter, der Dinge in Ordnung brachte, wenn sie kaputtgingen.
Meine Kollegen waren weit und breit nicht zu sehen. Wahrscheinlich versteckten sie sich wieder mal im Lagerraum, rauchten Juans angeblich hervorragendes Marihuana und verließen sich darauf, dass ich vorn im Laden die Stellung hielt. Es störte mich aber nicht. Ich hatte den Job als Kassenangestellte nicht angenommen, um Freundschaften zu schließen, sondern weil ich in Ruhe gelassen werden wollte.
Ein Schwarm Pixies umkreiste die Waren in der Auslage neben der Seitentür und zog breite Schleifen, während ihre Wachen auf Anzeichen von Gefahr achteten. Sie waren in Stofffetzen und Papiermüllschnipsel gekleidet, mit Zahnstochern bewaffnet und schienen bereit zu sein, für ein paar Weintrauben und eine überreife Birne in den Krieg zu ziehen. Ich stützte die Ellbogen auf das Förderband, legte das Kinn in die Hände und beobachtete sie. In der Regel mache ich mir wenig aus Pixies. Sie sind zwar hübsch, aber wild und greifen an, wenn man sie provoziert. In Anbetracht dessen, dass ein durchschnittlicher Pixie knapp über zehn Zentimeter groß ist und in triefnassem Zustand keine hundert Gramm wiegt, hört sich das vielleicht nach keiner sonderlichen Bedrohung an. Sie ähneln Mäusen mit Flügeln und Daumen, abgesehen davon, dass Mäuse normalerweise nicht mit aus zerbrochenen Bierflaschen geschnitzten Messern und handgefertigten Speeren bewaffnet sind, die unter Umständen in ebenfalls selbst angefertigtes Gift getaucht wurden. Gleichzeitig musste ich bewundern, wie sie sich anpassten. Eine ganze Gemeinschaft von ihnen gedieh in diesem Lebensmittelgeschäft in der Innenstadt, und niemand außer mir wusste von ihnen.
Außer mir und den Mitgliedern von San Franciscos Fae-Gemeinde, die hier einkauften. Ich hatte mich extra für diesen Laden entschieden, weil er so fernab der wahrscheinlichen Treffpunkte jener Menschen lag, die ich in meinem anderen Leben gekannt hatte. Den Umstand, dass sich einige davon auf die Suche nach mir begeben könnten, hatte ich nicht berücksichtigt.
»Ist diese Kasse geöffnet?«
Die Stimme klang barsch, vertraut und reichte vollauf, um mich aus meinem Tagtraum hochschrecken zu lassen. Ich zuckte zurück und fuhr mit einem Arm so abrupt zur Seite, dass mein Kinn auf dem Förderband aufschlug. In dem vergeblichen Versuch, einen Rest von Würde zu wahren, verbot ich mir, es zu reiben, als ich mich aufrichtete. Stattdessen klebte ich mir ein Lächeln ins Gesicht, drehte mich der Quelle jener Stimme zu und antwortete: »Ja, Sir. Legen Sie Ihre Einkäufe einfach aufs Band.«
Der Mann am Ende meiner Bahn starrte mich an. Besorgnis stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Wurzel und Zweig, Toby, hat das nicht wehgetan?«
Ich zwang mich, das Lächlen aufrechtzuerhalten. Was nicht einfach war. Durch die Zähne hindurch sagte ich: »Ich packe später Eis drauf.
Darf ich jetzt Ihren Einkauf haben, Sir?«
Der Mann seufzte und begann, seinen Wagen zu entleeren. »Machen wir das noch immer? Ich hatte aufrichtig gehofft, wir hätten es mittlerweile hinter uns. Bist du sicher, dass du nicht mal damit fertig sein willst? Ich kann warten. Du kannst nach deiner Schicht mit mir nach Hause kommen. Ich habe die Nacht über frei, und Stacy würde dich nur allzu gern sehen. Sie würde sogar Pfannkuchen machen, wenn ich sie anrufe und ihr sage, dass du mitkommst …«
Ich antwortete nicht, sondern zog stattdessen seine Waren über den Scanner. Ich mache diesen Job lange genug, um mich für eine so einfache Aufgabe nicht mehr konzentrieren zu müssen. Was gut war, denn er sah in meiner Weigerung, etwas zu erwidern, keinen Grund, die Klappe zu halten. Er plapperte einfach so weiter und versuchte, mein Interesse zu erregen, während ich seinen Einkauf eintütete.
Ich gestand mir ein, dass es mal eine Zeit gegeben hatte, da trug der Mann, der nun vor meiner Kasse stand, einen Namen. Mitch Brown. Wir waren als Kinder zusammen in den Sommerlanden gewesen, den letzten Fae-Ländern, jenem Ort, der auf der anderen Seite jedes Spiegels und jenseits jedes undurchdrungenen Nebelschleiers existiert. Wir waren beide Wechselbälger, bei denen sich menschliches Blut mit Seltsamerem vermischt hatte: Nixie und Wichtel in seinem Fall, Daoine Sidhe in meinem. Wir waren etwa gleich alt, und beide kämpften wir damit herauszufinden, wer wir sein könnten, zumal wir in einer Welt lebten, die sich völlig von der unterschied, in der wir unsere Kindheit verbracht hatten. Es war also nur natürlich, dass wir einen Draht zueinander und zu den anderen Wechselbälgern fanden, die unseren Weg kreuzten – Kerry, halb Wichtel, halb Hohlkopf; Juli, halb Cait Sidhe, ganz und gar eine Plage; und Stacy, die schwachblütige Stacy, meine beste Freundin, die letztlich Mitchs Frau wurde.
»Das macht 26,15 $«, sagte ich und schaute auf.
Mitch seufzte und wischte sich sein farblos-blondes Haar aus der Stirn. »Toby …«
»Bar oder mit Kreditkarte, Sir?«
Mitch hielt kurz inne, ehe er abermals seufzte und seine Brieftasche hervorholte. »Weißt du, das kannst du doch nicht ewig tun«, sagte er noch, als er mir das Geld reichte.
»Ihr Wechselgeld, 3,85 $«, erwiderte ich und legte es zwischen uns.
»Danke für Ihren Einkauf bei Safeway.«
»Du hast ja die Nummer«, sagte er, nahm das Wechselgeld und steckte es in die Tasche, ohne es anzusehen. »Ruf an, wenn du dazu bereit bist. Bitte. Ruf uns an.«
Dann war er weg und steuerte auf den Ausgang zu, die breiten Schultern angespannt. Die Einkaufstüten wirkten vor der Größe seiner Hände winzig. Wichtel sind an sich eher zierlich, aber in Mitchs Fall überwog sein menschliches Erbe. Er hätte einem durchschnittlichen Brückentroll durchaus einen Komplex bescheren können. Stacy ist gerade mal einen Meter sechzig. Ich habe nie verstanden, wie die beiden den Größenunterschied überwinden konnten, aber irgendwie musste es ihnen ja gelungen sein, denn sie hatten bereits ein Kind, bevor ich verschwand, und bekamen dann noch vier weitere, während ich fort war.
Was ich gar nicht wissen wollte. Mitch hatte es mir trotzdem erzählt, genau wie alles andere, was ich nicht wissen wollte. Er versuchte, mich ins Leben zurückzuziehen, während ich nur davor weglaufen wollte.
Ihre älteste Tochter, Cassandra, ist fast genauso alt wie Gillian.
Der Gedanke reichte aus, um meine Stimmung schlagartig noch weiter in den Keller zu befördern. Mit raschen, automatischen Handbewegungen meldete ich meine Registrierkasse ab, zählte das Bargeld aus der Kassenlade heraus und schloss ab, bevor jemand versuchen konnte, sich bei mir anzustellen. Große Gefahr bestand dafür nicht – abgesehen von mir und den Pixies war der vordere Bereich des Geschäfts verwaist. Aber das war mir egal. Ich musste einfach raus.
Drei meiner Kollegen hielten sich im Pausenraum auf, wo sie um die Kaffeekanne herum saßen wie Geier um einen sterbenden Ochsen. Sie schauten kaum auf, als ich ins Zimmer stürmte, mir die Schürze über den Kopf zog und sie auf den Haken mit meinem Namen daran warf – der übrigens einen endlosen Quell der Belustigung für meine Kollegen bot.
»Stimmt was nicht, October?« Das war Pete, der Nachtschichtleiter.
Er bemühte sich immer, mitfühlend und fürsorglich zu wirken, wenn er mit seinen Untergebenen sprach; meist gelang es ihm aber nur, gelangweilt zu klingen.
»Frauenprobleme«, erwiderte ich und wandte mich ihm zu. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück. »Ich weiß, dass meine Schicht erst in einer Viertelstunde endet, aber morgen ist mein freier Tag, und ich habe heute Nacht keine Pause gemacht. Darf ich …«
»Geh nach Hause. Ich stemple dich aus.« Diese Ruppigkeit konnte seine Bestürzung kaum verschleiern. Er fürchtete eindeutig, wenn ich bliebe, würde ich beginnen, ihm Einzelheiten zu erzählen. Es erschien mir am besten, mein Glück nicht auf die Probe zu stellen.
Ich streifte mir die Uniformschuhe von den Füßen und verstaute sie in meinem Spind, dann griff ich mir meinen Mantel und meine Turnschuhe, zog beides hastig an und steuerte auf die Tür zu, ohne Pete Gelegenheit zu bieten, es sich anders zu überlegen. Drei lange Schritte vorbei an meinen teilnahmslosen Mitbeschäftigten, und ich war hinaus in die bitterkalte Luft der Gasse hinter dem Laden getreten und frei. Die Tür fiel hinter mir zu, und alles präsentierte sich in einem fahlen, wässrigen Grau, erhellt vom fernen Schimmer der Straßenlaternen.
Der Nebel war seit dem Beginn meiner Schicht aufgezogen und gestaltete es unmöglich, mehr als wenige Meter weit zu sehen. Zitternd steckte ich die Hände in die Taschen. Wenn es in San Francisco mal kalt wird, dann aber richtig. Als kleine Zugabe spürte ich, wie sich bereits Feuchtigkeit in meinem Haar und auf meiner Haut festsetzte. Meine Schuhe und Hosenbeine würden triefnass sein, bis ich zu Hause ankäme.
»Puh«, brummte ich und setzte mich dorthin in Bewegung, wo die Gasse mündete. Sobald ich mich auf der Straße befand, konnte ich den langen Marsch nach Hause antreten, der vorwiegend bergauf verlief. Wäre ich bis zum Ende meiner Schicht geblieben, ich hätte den Bus genommen. Aber die Begegnung mit Mitch hatte mich aufgewühlt, und der Spaziergang würde mir guttun.
Die Kälte wich, als ich den ersten Hügel zwischen mir und meinem Ziel erklomm. Die Anstrengung sorgte für die dringend benötigte Wärme. Ich sah auf die Uhr. Sofern der Kalender im Supermarkt stimmte, waren es noch rund dreiunddreißig Minuten bis zum Sonnenaufgang. Das war genug Zeit, wenn ich nicht langsamer wurde, anhielt, stolperte oder sonst etwas anderes tat, als zu gehen. Der Sonnenaufgang zerstört nämlich kleine Zauber, und dazu gehört alles, was mir meine Kräfte zu wirken erlauben – wie die Trugbanne, mit denen ich als menschlich durchging. Schlimmer noch, er raubte mir die Kräfte, zumindest vorübergehend. Befände ich mich unter freiem Himmel, wenn die Sonne aufging, so konnte ich durchaus noch vor dem Mittag auf der Titelseite einer Boulevardzeitung landen. Aber wie gesagt, die Zeit reichte, solange nichts dazwischenkam.
Die Straße führte mich in Windungen den Hügel hinauf und durch den allmählich dämmernden Morgen hindurch. Im Gehen behielt ich die Hände in den Taschen und versuchte mich darauf zu konzentrieren, nach Hause zu kommen, ohne an Mitch auf dem Weg zu seiner Familie oder an sonst etwas Besonderes zu denken. Nachdenken bewirkte nur, dass ich mich daran erinnerte, was ich schon alles verloren hatte. Abgesehen vom entfernten Rumoren des Verkehrs auf der Schnellstraße herrschte ringsum Stille. Schaudernd lief ich etwas schneller und bog in eine Nebenstraße ein, in eine Gegend, in der es nach verfaultem Obst und süßlicher Verwesung roch. Ein schwarzes Pferd stand in den tiefsten Schatten am Randstein. Der Gestank von Unrat überlagerte den typischen Blut- und Seetangduft des Tieres. Seine Augen waren rot, und der Blick, mit dem es mich bedachte, wirkte einladend und versprach wilde Abenteuer und fantastische Genüsse, wenn ich nur auf seinen Rücken stiege. Ich winkte es mit einer Hand weg und ging weiter. Nur ein Idiot würde einem Kelpie so nah am Wasser vertrauen. Ihn zu besteigen, während der Geruch des Meeres in der Luft lag, käme einem schnellen, aber schmerzlichen Selbstmord gleich, und ich stehe nicht auf Schmerzen.
Der Kelpie trat mit glühenden Augen einige Schritte vor. So sehr ich auch versucht hatte, die Existenz von Faerie zu verleugnen, die Bedrohung würde nicht verschwinden, indem ich sie einfach ignorierte.
Seufzend blieb ich stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Bist du sicher, dass du das tun willst?«
Das Wesen näherte sich weiter.
Gut. Es bedurfte also einer direkteren Vorgehensweise. Ich hob die Arme, schob mir das Haar zurück und setzte den Trugbann aus, der die Form meiner Ohren verbarg. Ich achtete darauf, die Erschöpfung aus meiner Stimme zu verbannen, und fragte: »Ganz sicher?«
Kelpies sind klüger als Pferde und erkennen eine Gefahr, wenn sie damit konfrontiert werden. Gewiss, ich bin bloß ein Wechselbalg, aber ich war offenbar bereit, mich allein in einer nebligen Nacht und nur einen Steinwurf vom Wasser entfernt einem Kelpie zu stellen. Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass diese Bereitwilligkeit ausschließlich auf Tollkühnheit beruhte. So wich er einen Schritt zurück und bleckte dabei eine beeindruckende Ansammlung von Fängen.
»Geh einfach weiter«, sagte ich. Das schien ihm den Rest zu geben.
Der Kelpie schnaubte, als wolle er sagen, dass es in der Stadt gewiss einfachere Beute gäbe, und rückte einen weiteren Schritt zurück. Seine Umrisse verblassten im Nebel, bis sie schließlich gar nicht mehr zu erkennen waren. Tarnung ist die erste und beste Verteidigung des Jägers. Ich blieb einige Minuten stehen und wartete, ob er wieder auftauchen würde, bevor ich die Hände in die Taschen zurücksteckte und weiterging, nun etwas schneller. Der Kelpie mochte zwar jetzt verschwunden sein, doch es gab nichts, was ihn davon abhielt, mit Freunden zurückzukommen. Und mehr als einen würde ich mit einem Bluff nicht täuschen können.
© 2010 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
»Bar oder mit Karte, Ma’am?«, fragte ich und gab mir keine Mühe, die Müdigkeit aus meinem Tonfall zu verbannen. In einer halben Stunde
ging meine Schicht zu Ende, also würde ich gerade noch rechtzeitig nach Hause kommen, bevor die Sonne aufging.
»Karte, Schätzchen«, antwortete die Frau an meiner Kasse. Sie fuhr sich mit einer Hand durch schmierige braune Locken und deutete auf mein Namensschild. »Ist das wirklich der Name, den dir deine Eltern gegeben haben?«
Ich pappte mir ein Lächeln ins Gesicht und begann, ihre Waren mit der automatischen Mühelosigkeit einzutüten, die durch lange Übung entsteht. »Ja.« Sie kaufte sechs Halbliterbottiche Gourmet-Eiscreme und eine Zwölferpackung Cola Light. Ich habe schon seltsamere Einkäufe gesehen.
»Wohl Hippies, wie?«
Nein, eine Fae-Frau und ihr irischer Buchhaltergemahl. Aber das war unmöglich zu erklären, deshalb nickte ich nur. »Auf Anhieb erraten. Das macht 18,53 $.«
Grunzend fuhr sie mit ihrer Visa-Karte durch das Terminal und wartete kaum, bis der Vorgang abgeschlossen war, bis sie nach ihren Einkäufen griff und auf die Tür zusteuerte. »Gute Nacht, Schätzchen.«
»Ihnen auch, Ma’am«, rief ich zurück. Dann nahm ich ihre Quittung von der Kasse und hielt sie hoch. »Sie haben vergessen, Ihre …«
Zu spät; sie war schon weg. Ich zerknüllte die Quittung, warf sie in meinen Abfalleimer und lehnte mich gegen die Trennwand, die meine Bahn von der nächsten abgrenzte. Die Frau könnte ja später zurückkommen und sich bei meinem Boss darüber beschweren, dass sie keine Quittung erhalten hatte, wenn ihr danach zumute war. Bei meinem Glück würde ihr danach zumute sein – was mir einen weiteren Minuspunkt in meiner Personalakte bescheren würde. Genau das, was ich nicht gebrauchen konnte. Dies war mein dritter Job, seit ich aus dem Teich befreit war; die beiden ersten waren jämmerliche Fehlschläge gewesen, größtenteils aufgrund meiner eingeschränkten Arbeitszeiten, meines allgemeinen Mangels an kulturellem Bewusstsein und meines unvollständigen Verständnisses moderner Technik. Wer hätte gedacht, dass man als Nachtschichtangestellte eines 7-Eleven- Supermarkts so viel Computerwissen benötigte? Ich jedenfalls nicht, bis ich wegen meiner Unfähigkeit, die Registrierkasse neu zu starten, gefeuert wurde. In der Nachtschicht an der Kasse zu stehen mochte vielleicht nicht meine letzte Chance sein, aber es fühlte sich durchaus so an. Bei Safeway gab es wenigstens einen Filialleiter, der Dinge in Ordnung brachte, wenn sie kaputtgingen.
Meine Kollegen waren weit und breit nicht zu sehen. Wahrscheinlich versteckten sie sich wieder mal im Lagerraum, rauchten Juans angeblich hervorragendes Marihuana und verließen sich darauf, dass ich vorn im Laden die Stellung hielt. Es störte mich aber nicht. Ich hatte den Job als Kassenangestellte nicht angenommen, um Freundschaften zu schließen, sondern weil ich in Ruhe gelassen werden wollte.
Ein Schwarm Pixies umkreiste die Waren in der Auslage neben der Seitentür und zog breite Schleifen, während ihre Wachen auf Anzeichen von Gefahr achteten. Sie waren in Stofffetzen und Papiermüllschnipsel gekleidet, mit Zahnstochern bewaffnet und schienen bereit zu sein, für ein paar Weintrauben und eine überreife Birne in den Krieg zu ziehen. Ich stützte die Ellbogen auf das Förderband, legte das Kinn in die Hände und beobachtete sie. In der Regel mache ich mir wenig aus Pixies. Sie sind zwar hübsch, aber wild und greifen an, wenn man sie provoziert. In Anbetracht dessen, dass ein durchschnittlicher Pixie knapp über zehn Zentimeter groß ist und in triefnassem Zustand keine hundert Gramm wiegt, hört sich das vielleicht nach keiner sonderlichen Bedrohung an. Sie ähneln Mäusen mit Flügeln und Daumen, abgesehen davon, dass Mäuse normalerweise nicht mit aus zerbrochenen Bierflaschen geschnitzten Messern und handgefertigten Speeren bewaffnet sind, die unter Umständen in ebenfalls selbst angefertigtes Gift getaucht wurden. Gleichzeitig musste ich bewundern, wie sie sich anpassten. Eine ganze Gemeinschaft von ihnen gedieh in diesem Lebensmittelgeschäft in der Innenstadt, und niemand außer mir wusste von ihnen.
Außer mir und den Mitgliedern von San Franciscos Fae-Gemeinde, die hier einkauften. Ich hatte mich extra für diesen Laden entschieden, weil er so fernab der wahrscheinlichen Treffpunkte jener Menschen lag, die ich in meinem anderen Leben gekannt hatte. Den Umstand, dass sich einige davon auf die Suche nach mir begeben könnten, hatte ich nicht berücksichtigt.
»Ist diese Kasse geöffnet?«
Die Stimme klang barsch, vertraut und reichte vollauf, um mich aus meinem Tagtraum hochschrecken zu lassen. Ich zuckte zurück und fuhr mit einem Arm so abrupt zur Seite, dass mein Kinn auf dem Förderband aufschlug. In dem vergeblichen Versuch, einen Rest von Würde zu wahren, verbot ich mir, es zu reiben, als ich mich aufrichtete. Stattdessen klebte ich mir ein Lächeln ins Gesicht, drehte mich der Quelle jener Stimme zu und antwortete: »Ja, Sir. Legen Sie Ihre Einkäufe einfach aufs Band.«
Der Mann am Ende meiner Bahn starrte mich an. Besorgnis stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Wurzel und Zweig, Toby, hat das nicht wehgetan?«
Ich zwang mich, das Lächlen aufrechtzuerhalten. Was nicht einfach war. Durch die Zähne hindurch sagte ich: »Ich packe später Eis drauf.
Darf ich jetzt Ihren Einkauf haben, Sir?«
Der Mann seufzte und begann, seinen Wagen zu entleeren. »Machen wir das noch immer? Ich hatte aufrichtig gehofft, wir hätten es mittlerweile hinter uns. Bist du sicher, dass du nicht mal damit fertig sein willst? Ich kann warten. Du kannst nach deiner Schicht mit mir nach Hause kommen. Ich habe die Nacht über frei, und Stacy würde dich nur allzu gern sehen. Sie würde sogar Pfannkuchen machen, wenn ich sie anrufe und ihr sage, dass du mitkommst …«
Ich antwortete nicht, sondern zog stattdessen seine Waren über den Scanner. Ich mache diesen Job lange genug, um mich für eine so einfache Aufgabe nicht mehr konzentrieren zu müssen. Was gut war, denn er sah in meiner Weigerung, etwas zu erwidern, keinen Grund, die Klappe zu halten. Er plapperte einfach so weiter und versuchte, mein Interesse zu erregen, während ich seinen Einkauf eintütete.
Ich gestand mir ein, dass es mal eine Zeit gegeben hatte, da trug der Mann, der nun vor meiner Kasse stand, einen Namen. Mitch Brown. Wir waren als Kinder zusammen in den Sommerlanden gewesen, den letzten Fae-Ländern, jenem Ort, der auf der anderen Seite jedes Spiegels und jenseits jedes undurchdrungenen Nebelschleiers existiert. Wir waren beide Wechselbälger, bei denen sich menschliches Blut mit Seltsamerem vermischt hatte: Nixie und Wichtel in seinem Fall, Daoine Sidhe in meinem. Wir waren etwa gleich alt, und beide kämpften wir damit herauszufinden, wer wir sein könnten, zumal wir in einer Welt lebten, die sich völlig von der unterschied, in der wir unsere Kindheit verbracht hatten. Es war also nur natürlich, dass wir einen Draht zueinander und zu den anderen Wechselbälgern fanden, die unseren Weg kreuzten – Kerry, halb Wichtel, halb Hohlkopf; Juli, halb Cait Sidhe, ganz und gar eine Plage; und Stacy, die schwachblütige Stacy, meine beste Freundin, die letztlich Mitchs Frau wurde.
»Das macht 26,15 $«, sagte ich und schaute auf.
Mitch seufzte und wischte sich sein farblos-blondes Haar aus der Stirn. »Toby …«
»Bar oder mit Kreditkarte, Sir?«
Mitch hielt kurz inne, ehe er abermals seufzte und seine Brieftasche hervorholte. »Weißt du, das kannst du doch nicht ewig tun«, sagte er noch, als er mir das Geld reichte.
»Ihr Wechselgeld, 3,85 $«, erwiderte ich und legte es zwischen uns.
»Danke für Ihren Einkauf bei Safeway.«
»Du hast ja die Nummer«, sagte er, nahm das Wechselgeld und steckte es in die Tasche, ohne es anzusehen. »Ruf an, wenn du dazu bereit bist. Bitte. Ruf uns an.«
Dann war er weg und steuerte auf den Ausgang zu, die breiten Schultern angespannt. Die Einkaufstüten wirkten vor der Größe seiner Hände winzig. Wichtel sind an sich eher zierlich, aber in Mitchs Fall überwog sein menschliches Erbe. Er hätte einem durchschnittlichen Brückentroll durchaus einen Komplex bescheren können. Stacy ist gerade mal einen Meter sechzig. Ich habe nie verstanden, wie die beiden den Größenunterschied überwinden konnten, aber irgendwie musste es ihnen ja gelungen sein, denn sie hatten bereits ein Kind, bevor ich verschwand, und bekamen dann noch vier weitere, während ich fort war.
Was ich gar nicht wissen wollte. Mitch hatte es mir trotzdem erzählt, genau wie alles andere, was ich nicht wissen wollte. Er versuchte, mich ins Leben zurückzuziehen, während ich nur davor weglaufen wollte.
Ihre älteste Tochter, Cassandra, ist fast genauso alt wie Gillian.
Der Gedanke reichte aus, um meine Stimmung schlagartig noch weiter in den Keller zu befördern. Mit raschen, automatischen Handbewegungen meldete ich meine Registrierkasse ab, zählte das Bargeld aus der Kassenlade heraus und schloss ab, bevor jemand versuchen konnte, sich bei mir anzustellen. Große Gefahr bestand dafür nicht – abgesehen von mir und den Pixies war der vordere Bereich des Geschäfts verwaist. Aber das war mir egal. Ich musste einfach raus.
Drei meiner Kollegen hielten sich im Pausenraum auf, wo sie um die Kaffeekanne herum saßen wie Geier um einen sterbenden Ochsen. Sie schauten kaum auf, als ich ins Zimmer stürmte, mir die Schürze über den Kopf zog und sie auf den Haken mit meinem Namen daran warf – der übrigens einen endlosen Quell der Belustigung für meine Kollegen bot.
»Stimmt was nicht, October?« Das war Pete, der Nachtschichtleiter.
Er bemühte sich immer, mitfühlend und fürsorglich zu wirken, wenn er mit seinen Untergebenen sprach; meist gelang es ihm aber nur, gelangweilt zu klingen.
»Frauenprobleme«, erwiderte ich und wandte mich ihm zu. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück. »Ich weiß, dass meine Schicht erst in einer Viertelstunde endet, aber morgen ist mein freier Tag, und ich habe heute Nacht keine Pause gemacht. Darf ich …«
»Geh nach Hause. Ich stemple dich aus.« Diese Ruppigkeit konnte seine Bestürzung kaum verschleiern. Er fürchtete eindeutig, wenn ich bliebe, würde ich beginnen, ihm Einzelheiten zu erzählen. Es erschien mir am besten, mein Glück nicht auf die Probe zu stellen.
Ich streifte mir die Uniformschuhe von den Füßen und verstaute sie in meinem Spind, dann griff ich mir meinen Mantel und meine Turnschuhe, zog beides hastig an und steuerte auf die Tür zu, ohne Pete Gelegenheit zu bieten, es sich anders zu überlegen. Drei lange Schritte vorbei an meinen teilnahmslosen Mitbeschäftigten, und ich war hinaus in die bitterkalte Luft der Gasse hinter dem Laden getreten und frei. Die Tür fiel hinter mir zu, und alles präsentierte sich in einem fahlen, wässrigen Grau, erhellt vom fernen Schimmer der Straßenlaternen.
Der Nebel war seit dem Beginn meiner Schicht aufgezogen und gestaltete es unmöglich, mehr als wenige Meter weit zu sehen. Zitternd steckte ich die Hände in die Taschen. Wenn es in San Francisco mal kalt wird, dann aber richtig. Als kleine Zugabe spürte ich, wie sich bereits Feuchtigkeit in meinem Haar und auf meiner Haut festsetzte. Meine Schuhe und Hosenbeine würden triefnass sein, bis ich zu Hause ankäme.
»Puh«, brummte ich und setzte mich dorthin in Bewegung, wo die Gasse mündete. Sobald ich mich auf der Straße befand, konnte ich den langen Marsch nach Hause antreten, der vorwiegend bergauf verlief. Wäre ich bis zum Ende meiner Schicht geblieben, ich hätte den Bus genommen. Aber die Begegnung mit Mitch hatte mich aufgewühlt, und der Spaziergang würde mir guttun.
Die Kälte wich, als ich den ersten Hügel zwischen mir und meinem Ziel erklomm. Die Anstrengung sorgte für die dringend benötigte Wärme. Ich sah auf die Uhr. Sofern der Kalender im Supermarkt stimmte, waren es noch rund dreiunddreißig Minuten bis zum Sonnenaufgang. Das war genug Zeit, wenn ich nicht langsamer wurde, anhielt, stolperte oder sonst etwas anderes tat, als zu gehen. Der Sonnenaufgang zerstört nämlich kleine Zauber, und dazu gehört alles, was mir meine Kräfte zu wirken erlauben – wie die Trugbanne, mit denen ich als menschlich durchging. Schlimmer noch, er raubte mir die Kräfte, zumindest vorübergehend. Befände ich mich unter freiem Himmel, wenn die Sonne aufging, so konnte ich durchaus noch vor dem Mittag auf der Titelseite einer Boulevardzeitung landen. Aber wie gesagt, die Zeit reichte, solange nichts dazwischenkam.
Die Straße führte mich in Windungen den Hügel hinauf und durch den allmählich dämmernden Morgen hindurch. Im Gehen behielt ich die Hände in den Taschen und versuchte mich darauf zu konzentrieren, nach Hause zu kommen, ohne an Mitch auf dem Weg zu seiner Familie oder an sonst etwas Besonderes zu denken. Nachdenken bewirkte nur, dass ich mich daran erinnerte, was ich schon alles verloren hatte. Abgesehen vom entfernten Rumoren des Verkehrs auf der Schnellstraße herrschte ringsum Stille. Schaudernd lief ich etwas schneller und bog in eine Nebenstraße ein, in eine Gegend, in der es nach verfaultem Obst und süßlicher Verwesung roch. Ein schwarzes Pferd stand in den tiefsten Schatten am Randstein. Der Gestank von Unrat überlagerte den typischen Blut- und Seetangduft des Tieres. Seine Augen waren rot, und der Blick, mit dem es mich bedachte, wirkte einladend und versprach wilde Abenteuer und fantastische Genüsse, wenn ich nur auf seinen Rücken stiege. Ich winkte es mit einer Hand weg und ging weiter. Nur ein Idiot würde einem Kelpie so nah am Wasser vertrauen. Ihn zu besteigen, während der Geruch des Meeres in der Luft lag, käme einem schnellen, aber schmerzlichen Selbstmord gleich, und ich stehe nicht auf Schmerzen.
Der Kelpie trat mit glühenden Augen einige Schritte vor. So sehr ich auch versucht hatte, die Existenz von Faerie zu verleugnen, die Bedrohung würde nicht verschwinden, indem ich sie einfach ignorierte.
Seufzend blieb ich stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Bist du sicher, dass du das tun willst?«
Das Wesen näherte sich weiter.
Gut. Es bedurfte also einer direkteren Vorgehensweise. Ich hob die Arme, schob mir das Haar zurück und setzte den Trugbann aus, der die Form meiner Ohren verbarg. Ich achtete darauf, die Erschöpfung aus meiner Stimme zu verbannen, und fragte: »Ganz sicher?«
Kelpies sind klüger als Pferde und erkennen eine Gefahr, wenn sie damit konfrontiert werden. Gewiss, ich bin bloß ein Wechselbalg, aber ich war offenbar bereit, mich allein in einer nebligen Nacht und nur einen Steinwurf vom Wasser entfernt einem Kelpie zu stellen. Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass diese Bereitwilligkeit ausschließlich auf Tollkühnheit beruhte. So wich er einen Schritt zurück und bleckte dabei eine beeindruckende Ansammlung von Fängen.
»Geh einfach weiter«, sagte ich. Das schien ihm den Rest zu geben.
Der Kelpie schnaubte, als wolle er sagen, dass es in der Stadt gewiss einfachere Beute gäbe, und rückte einen weiteren Schritt zurück. Seine Umrisse verblassten im Nebel, bis sie schließlich gar nicht mehr zu erkennen waren. Tarnung ist die erste und beste Verteidigung des Jägers. Ich blieb einige Minuten stehen und wartete, ob er wieder auftauchen würde, bevor ich die Hände in die Taschen zurücksteckte und weiterging, nun etwas schneller. Der Kelpie mochte zwar jetzt verschwunden sein, doch es gab nichts, was ihn davon abhielt, mit Freunden zurückzukommen. Und mehr als einen würde ich mit einem Bluff nicht täuschen können.
© 2010 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
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Autoren-Porträt von Seanan McGuire
Seanan McGuire wurde in Martinez, Kalifornien, geboren. Neben ihrer Karriere als Schriftstellerin verfolgt sie eine Reihe von Hobbys, zeichnet gern Comics und schreibt Songs. Gegenwärtig lebt sie in einem alten Farmhaus in Nordkalifornien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Seanan McGuire
- 2010, 352 Seiten, Maße: 13,8 x 21,7 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Ins Dtsch. übertr. v. Michael Krug
- Übersetzer: Michael Krug
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802582888
- ISBN-13: 9783802582882
Rezension zu „Winterfluch / October Daye Bd.1 “
"October Daye ist halb Mensch, halb Fee. Sie hat sich vom Volk der Feen abgewandt, um ein Leben als ganz normaler Mensch zu führen. Sie lebt in San Francisco und wird von ihren Freunden Toby genannt. Doch als eine der mächtigsten Feen, die Gräfin Evening Winterrose, ermordet wird, gerät ihr Leben völlig aus den Fugen. Denn kurz vor ihrem Tod hat die Gräfin October mit einem Fluch belegt, der ausgerechnet sie dazu verdammt, den Mord aufzuklären. Um den Mörder zu finden, kehrt October in das Reich der Feen zurück - Ein packender Feenkrimi und zugleich der erste Roman in einer spannungsgeladenen Urban-Fantasy-Serie, die keltische Motive in eine moderne Welt überführt. Hervorragend recherchiert, packend erzählt, äußerst atmosphärisch und kompromisslos wie ein guter Krimi. Der viel versprechende Auftakt einer neuen Urban-Fantasy-Serie, die Fans von Jim Butcher und Kim Harrison gleichermaßen anspricht." (Publishers Weekly)
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