Nachtmahr / October Daye Bd.3
Roman. Deutsche Erstausgabe
Unter den Feen von San Francisco ist er ein vertrauter Schrecken: der Blinde Michael, der mit seiner Schar in Vollmondnächten über die Hügel von Berkley fegt und Kinder raubt. Bisher hatte sich October Daye keine Gedanken darum gemacht, hat...
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Produktinformationen zu „Nachtmahr / October Daye Bd.3 “
Unter den Feen von San Francisco ist er ein vertrauter Schrecken: der Blinde Michael, der mit seiner Schar in Vollmondnächten über die Hügel von Berkley fegt und Kinder raubt. Bisher hatte sich October Daye keine Gedanken darum gemacht, hat sie doch ganz alltägliche Sorgen, die sie Tag für Tag beschäftigen - zum Beispiel, wie sie ihre Stromrechnung bezahlen soll. Aber als die Kinder ihrer Freundin Stacy plötzlich verschwinden, muss sich Toby mit diesem dunklen Nachtmahr von Faerie auseinandersetzen. Sie hat nur wenige Verbündete an ihrer Seite, darunter die Luideag, die von den meisten Feen genauso gefürchtet wird wie der Blinde Michael ...
Klappentext zu „Nachtmahr / October Daye Bd.3 “
Unter den Feen von San Francisco ist er ein vertrauter Schrecken: der Blinde Michael, der mit seiner Schar in Vollmondnächten über die Hügel von Berkley fegt und Kinder raubt. Bisher hatte sich October Daye keine Gedanken darum gemacht, hat sie doch ganz alltägliche Sorgen, die sie beschäftigen. Aber als die Kinder ihrer Freundin Stacy plötzlich verschwinden, muss sich Toby mit dem Nachtmahr von Faerie auseinandersetzen ...
Lese-Probe zu „Nachtmahr / October Daye Bd.3 “
Nachtmahr von Seanan McGuireKAPITEL 3
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Erde an Toby. Bist du da drin?« »Was?« Ich hörte auf, mein Rührei mit meinen Pommes zu ver-
manschen, und blinzelte Connor über den Tisch an. Er stützte sich auf seine Ellbogen und beobachtete mich. Es fiel mir wie immer schwer, mich an seine menschliche Verkleidung zu gewöhnen - meistens hatte ich in Schattenhügel mit ihm zu tun, wo es keinen Grund gab, sich zu tarnen. Seine Haare müssten eigentlich grau gefleckt sein wie sein Fell in Seehundgestalt, ihr jetziger ordinärer Braunton sah falsch aus. Seine Hände wirkten befremdlich ohne Schwimmhäute, und sowohl das Weiß als auch die deutlich erkennbaren Pupillen seiner Augen waren höchst ungewohnt.
Diese Augen fixierten mich gerade, und ihr Ausdruck zeigte ernste Besorgnis. »Was ist los?«
»Was meinst du?« Ich legte meine Gabel weg, strich mir das Haar zurück und versuchte, wie immer auszusehen. Es funktionierte anscheinend nicht.
»Du hast dein Frühstück kaum angerührt.«
»Ich hab keinen Hunger.«
»Dein Kaffeebecher ist seit fünf Minuten leer, und du hast immer noch nicht damit gedroht, unsere Kellnerin auszuweiden.« Connor schüttelte den Kopf. »Ich kenne dich doch. Was ist los?«
»Nichts«, sagte ich. »Ich bin nur müde.« Ich wollte ihm nicht von May erzählen. Ich wollte nicht, dass er zu helfen versuchte, ich wollte das Ganze einfach nur auf sich beruhen lassen, bis ich bereit war, mich damit auseinanderzusetzen. Vielleicht kam es dazu nicht, bis ich tot war, aber das war meine Entscheidung, nicht seine. Ich versuche, ehrlich zu meinen Freunden zu sein, wenn ich kann, aber es gibt Zeiten, wo ich Ausnahmen mache. Zum Beispiel, wenn ich gerade von der Fae-Entsprechung eines »singenden Telegramms« meinen bevorstehenden Tod angekündigt bekommen habe.
Connor seufzte und richtete seine Aufmerksamkeit auf sein Frühstück. »Wie du willst.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Wenn es wegen meiner Frau ist ...«
»Nein, keine Sorge. Ich hab ihr diese Woche noch keinen Grund gegeben, mich umzubringen, und ich hab ganz sicher auch nicht vor, ihr einen zu liefern.« Ich lächelte schwach. »Ich bin über dich hinweg, Connor.«
»Mein Herz blutet.«
»Was meinst du, was alles bluten würde, wenn ich nicht über dich hinweg wäre und Raysel dahinterkäme?« Ich nahm einen Happen Rührei, es war kalt und gummiartig. Ich schluckte es trotzdem runter und fuhr fort: »Dein Herz, mein Herz, jede Menge andere Körperteile ... «
»Du traust ihr ja viel zu.«
»Wenn es um potenzielle schwere Körperverletzung geht, ja.« Ich ließ die Gabel sinken. »Sie macht mir Sorgen. Etwas stimmt mit ihr ganz und gar nicht.«
»Weißt du, die meisten Kerle haben das Problem, dass ihre Exfreundin auf ihre Frau eifersüchtig ist. Aber nicht, dass sie wilde Verschwörungstheorien über sie aufstellt.«
»Ich war aber nie deine Freundin.«
»Das muss ich zugeben.«
»Sag mir doch, dass ich falschliege.«
Er seufzte. »Kann ich nicht.« Mit einem Blick auf die Uhr fügte er hinzu: »Ich sollte mich zurück nach Schattenhügel aufmachen. Ich muss heute an offiziellen Audienzen teilnehmen.«
Manchmal beschleicht mich der Verdacht, das zutiefst tagaktive Naturell der Herzogin von Schattenhügel könnte der wahre Grund dafür sein, dass sie ihre Tochter mit einem Selkie verheiratet hat: Sehnsucht nach moralischer Unterstützung. »Ich muss auch los«, sagte ich, erhob mich und ließ mein fast unberührtes Frühstück stehen. Connor schielte auf meinen Teller. »Wenn du willst, kannst du ja die Reste mitnehmen«, bemerkte ich.
»Schon gut«, sagte er in einem Ton, der die Worte Lügen strafte.
Er war sichtlich unzufrieden mit meinem Mangel an Appetit, aber ich ging nicht darauf ein. Ich hatte nicht die Kraft.
Wir zahlten und verließen das Restaurant. Connor, immer der Gentleman, hielt mir die Tür auf. Meine Finger streiften seine, bevor er losließ, aber ich zog sie rasch weg. Dass wir einander begehrten, hatte keine Bedeutung mehr. Durfte keine haben.
Draußen blies ein kühler Wind, der Himmel zeigte ein sattes Grau und drohte mit Regen. Stirnrunzelnd sah ich auf. »Das Wetter scheint sich zu verschlechtern.«
»Glaub ich auch.« Connor trat näher. Ich rückte ab, er blieb stehen und gab sich keine Mühe, den enttäuschten Ausdruck zu verbergen, der kurz über sein Gesicht huschte. »Toby ...«
»Lass es einfach, okay? Bitte.« Ich schüttelte den Kopf. »Lass es einfach.« Ich hatte mich nicht so konsequent zurückgehalten, als wir zusammen in Fremont waren, gefangen in einem Mugel, wo ein Mörder durch die Gänge schlich. Dort hatte ich ihn geküsst, das Salz auf seinen Lippen geschmeckt und mich erinnert, warum ich immer wollte, dass er mehr sein könnte als nur ein Freund.
Oberon hilf, ich kann nicht riskieren, dass so was noch mal passiert. Connor seufzte. »In Ordnung. Schön. Bis bald, Toby.«
»Freie Wege«, erwiderte ich.
Connor so zu behandeln zieht mich runter, aber bis er mit seinen Versuchen aufhört, mir auf die Pelle zu rücken, habe ich keine andere Wahl. Er ist verheiratet, und ich habe Prinzipien. Ich bin außerdem klug genug, mich vor seiner Frau zu fürchten, muss also besonders sorgfältig darauf achten, wie nahe ich ihm komme. Raysel hat viel von einer Serienmörderin, die nur darauf wartet, sich zu verwirklichen. Ich habe keine Lust, ihre Zielscheibe zu werden, wenn es dazu kommt.
Das Telefon klingelte, als ich nach Hause kam. Ich ignorierte es. Ich bin zwar kein großer Fan von Anrufbeantwortern, bedenkt man den Zwingfluch, mit dem Evening Winterrose mich mithilfe des Gerätes posthum belegt hatte, aber die Dinger haben fraglos auch ihr Gutes. Anrufe entgegenzunehmen, wenn ich nicht in der Stimmung bin, gehört in diese Kategorie.
Ich hängte meine Jacke auf, als das Gerät ansprang und Stacys ungewöhnlich hysterische Stimme über die Lautsprecher in den Raum drang. »Toby, ich bin es wieder. Tut mir leid, ich weiß, ich hab gesagt, ich warte auf deinen Rückruf, aber ich kann nicht warten, ich - ich kann einfach nicht mehr. Bist du da? Oh, bitte sei da ...«
Ich sprang über die Couch, rannte in den Flur und schnappte den Hörer. »Stacy? Was ist los?«
»Oh, dank O-Oberon, du bist da«, schluchzte sie. »Ich hab hu-hundertmal angerufen, aber du warst nicht zu Hau-hause ...«
»Was ist passiert?« Stacy ist die gelassenste Person, die ich kenne. Wenn auf dem Schulgelände ein Drachen in Raserei geriete, würde sie ihm in die Augen sehen und ihm eine zusammengerollte Zeitung auf die Nase klatschen. Sie gerät nicht in Panik, niemals.
»Andrew und Jessie«, flüsterte sie erstickt.
Ich erstarrte. »Was ist mit ihnen?«
»Sie sind weg.« Ihre Stimme zitterte. »Ich wollte nach den Kindern sehen, ob sie bei Sonnenaufgang gut durchgeschlafen haben. Andy und Jessie waren nicht da.«
Oh, Wurzel und Zweig. »Wann war das? Was ist mit Karen und Anthony?«
»Vor einer Stunde. Und Karen und Anthony lagen in ihren Betten.« Ich blickte auf die Uhr. Es war kurz nach acht. »Hast du im Garten nachgesehen?«
»Wir haben die ganze Nachbarschaft abgesucht.« Sie schniefte. »Wir haben sogar Cassie in der Uni angerufen, falls sie sie aus irgendeinem Grund mit zur Vorlesung genommen hat. Sie sind nicht bei ihr. Sie ist jetzt auf dem Weg nach Hause.«
Großartig, dann treffen sich alle zum gemeinsamen Nervenzusammenbruch. »Bist du sicher, dass du überall nachgeschaut hast?«
»Wir haben überall nachgesehen. Toby, Andy ist erst vier! Er kann noch nicht selbst für seine Tarnung sorgen.«
»Oh, Eiche und Esche«, murmelte ich. Das erklärte, warum Stacy mich anrief statt der Polizei: Sie konnte keine menschliche Hilfe in Anspruch nehmen, selbst wenn sie es wollte.
Kinder brauchen ein paar Jahre, bevor sie das Zaubern beherrschen. Es gibt eine kurze Frühphase, wo alles Nötige gleichsam automatisch passiert, aber die reflexartige Magie schwindet, wenn wir älter werden. Dann wird es zu einer Frage von bewusstem Willen und Konzentration. Tarnzauber zu erlernen dauert eine Weile, und manche Kinder lernen schneller als andere. Unglücklicherweise gehörte Andrew eher zu den Langsamen.
»Kann Jessica sie beide tarnen?«
»Nur für kurze Zeit. Toby, bitte komm her. Wir müssen sie finden.«
»Schsch, ja, ich weiß. Ich komme.« Ich kämpfte darum, mich nicht von ihrer Panik anstecken zu lassen. Die Kinder saßen wahrscheinlich unter einem Baum in irgendeinem fremden Garten, und Jessica veranschaulichte ihrem kleinen Bruder die besondere Finesse des Hierist-niemand-Zaubers. »Du musst einfach Ruhe bewahren, bis ich da bin, okay?«
»Ich versuch's.«
Noch etwas stimmte nicht. Stacy dürfte nicht so schnell derart in Panik geraten, nicht einmal, wenn zwei von den Kindern weg waren. »Was geht da sonst noch vor sich?«
»Ich ...« Sie zögerte. »Wir kriegen Karen nicht wach. Mitch hat ihr sogar ein Glas Eiswasser über den Kopf geschüttet, und sie hat sich nicht gerührt, und ich hab Angst, Toby, ich hab solche Angst ...«
Mein Herzschlag kam ins Taumeln. »Stacy, beruhige dich und rede mit mir. Atmet sie?«
»Ja.«
»Gut, sorg dafür, dass sie es bequem hat.« Wenn Stacy etwas zu tun hatte, machte sie vielleicht nichts Dummes. »Kein Eiswasser mehr. Wartet einfach auf mich.«
»Mach schnell.« Sie schluchzte, als sie einhängte. Ich starrte den Hörer an, dann knallte ich ihn aufs Telefon und stürmte ins Schlafzimmer. Erst ein Holing, und jetzt war irgendwas mit Stacys Kindern im Gange. Dies entwickelte sich nicht gerade zu einem guten Tag.
Im Stillen bedankte ich mich bei Connor, dass er mich wenigstens lange genug aus dem Haus gelockt hatte, um etwas zu essen, wenn auch nicht viel. Dann riss ich die Schubladen aus meinem Kleiderschrank und warf Kleidungsstücke aufs Bett. Die Katzen legten die Ohren an und flüchteten. »Eiche und Esche und beschissene vermoderte Kiefer«, fluchte ich und wühlte mich durch das Chaos. Das war pubertär, aber ich fühlte mich ein bisschen besser.
»Au!« Ich zuckte zusammen, als ich mit der Hand an die Schneide meines Messers kam, dann packte ich es am Griff und zog es aus einem Stapel T-Shirts. Die Scheide lag dreißig Zentimeter weiter links unter einem Knäuel Socken. Ich zog sie auch heraus, schob das Messer hinein und befestigte sie innen am Bund meiner Jeans. Neuerdings gebe ich mir Mühe, nicht unbewaffnet in Gefahr zu geraten: Ich habe meine Lektion gelernt und trage die Narben, die es beweisen. Im Umgang mit meinen Waffen habe ich ebenfalls dazugelernt und mir angewöhnt, das Messer in der Scheide zu tragen, nachdem ich mich bei ALH Computing fast aufgeschlitzt hätte, als ich mich mit der ungeschützten Klinge im Hosenbund von meinem explodierenden Auto wegrollte.
Das Leben war in letzter Zeit recht spannend gewesen.
Auf dem Rückweg ins Wohnzimmer schnappte ich mir meine Jacke und raffte mein Haar zu einem losen Pferdeschwanz zusammen, der meine Ohrenspitzen verbarg. Menschliche Tarnung ist unverzichtbar, wenn Raffinesse gefragt ist, ich aber plante vorerst nicht, mit jemandem außer meinen Freunden zu tun zu bekommen, und ich wollte meine mageren magischen Ressourcen nicht verschwenden. Später würde ich sie vielleicht dringend brauchen. Ich wandte mich zur Tür.
Krallen gruben sich in meine Wade. Ich blieb stehen, sah nach unten und erblickte Spike, der mit beiden Vorderpfoten an meinem Bein hing. »Spike, lass los. Ich muss weg.« Er jaulte, ohne mein Bein freizugeben. »Was willst du denn?« Er blickte sehnsüchtig auf meine Schulter. Ich seufzte. »Du willst mitkommen?« Spike fasste das als Zustimmung auf, zog die Krallen ein und kletterte an meiner Seite hoch, um sich auf meiner Schulter niederzulassen. Ich schüttelte den Kopf und verließ die Wohnung. Keine weiteren Verzögerungen.
Trotz Spikes Vorliebe dafür, sich beim Fahren an die Windschutzscheibe zu drücken, brauchte ich nicht zu fürchten, dass er entdeckt wurde. Rosenkobolde haben einen instinktiven Zauber, der sie vor jedem verbirgt, von dem sie nicht gesehen werden wollen. Mit steigender Kontrolle der magischen Fähigkeiten lässt diese natürliche Magie nach. Je kompetenter eine Fae-Rasse im Gebrauch der Magie ist, desto weniger instinktive Magie ist ihr geblieben. Manche Fähigkeiten entwickeln sich in bestimmten Rassen ausgeprägter - wie die Blutmagie bei den Daoine Sidhe -, aber viele natürliche Fähigkeiten der primitiveren Fae sind bei den Rassen, die als Menschen durchgehen können, verkümmert. Spike kann weitgehend anstellen, was immer er will, ohne je befürchten zu müssen, dass die menschliche Welt ihn wahrnimmt.
Die Fahrt zu Mitch und Stacy fühlte sich an, als stünde die Zeit still. Panik kann das bewirken, sie stopft Wochen in Stunden und Stunden in Sekunden. Devin sprach von »auf Wechselbalgzeit laufen« und meinte damit diesen Zustand, in dem die Zeit zu schnell dahinrast, und ganz gleich wie viel man noch hat, es ist immer zu wenig. Während der Fahrt konnte ich an nichts anderes denken als daran, wie es mich damals schier umgebracht hatte, Gillian zu verlieren. Ich konnte nicht zulassen, dass Mitch und Stacy so etwas zustieß. Ich musste es irgendwie verhindern.
Mitch kam mir am Auto schon entgegen. »Mitch«, sagte ich und nahm ihn in die Arme. Er hielt sich einen Moment bebend an mir fest, bevor ich ihn auf Armeslänge von mir weghielt und ihm in die Augen sah. »Wo ist Stacy?«
»Drinnen«, sagte er. Seine Stimme zitterte genauso wie sein Körper. »Sie kann die Kinder nicht aus den Augen lassen. Sie hat mich gezwungen, Karen nach unten zu tragen, damit sie sie im Schlaf bewachen kann.«
»In Ordnung. Kannst du mir ein paar Fragen beantworten, bevor ich reingehe?«
Er starrte so lange stumpf ins Leere, dass ich schon Angst bekam, er verstünde mich gar nicht. Dann schüttelte er sich und sagte: »Ich kann's versuchen.«
»Stacy sagte, Andrew und Jessica sind weg.« Er nickte. Ich fuhr fort: »Hast du sie ins Bett gehen sehen?«
»Ja. Da waren sie noch da, und Cassie sagt, dass Jessica noch im Bett lag, als sie heute früh ging.«
»Gut zu wissen.« In diesem Moment sprang Spike vom Wagendach auf meine Schulter und ankerte sich durch meine Lederjacke hindurch mit einem vollständigen Satz Krallen. Ich zuckte heftig zusammen. Katzen sind stumpfes Gerät im Vergleich mit Rosenkobolden.
Mitch starrte ihn an. »Toby, warum sitzt ein Rosenkobold auf deiner Schulter?«
»Spike wollte unbedingt mit, und ich hatte keine Zeit für Diskussionen.« Spike schnupperte hörbar die Luft und knurrte grollend. Ich runzelte die Stirn. »Das hat er noch nie gemacht. Spike? Was stimmt nicht?« Ohne weitere Warnung schnellte er sich von meiner Schulter und raste auf das Haus zu, dass unter seinen Pfoten die Grassoden aus dem Rasen flogen. Er sah wütend und angriffslustig aus, als stürmte er zur Verteidigung seines Reviers gegen einen unwillkommenen Eindringling. Ich warf Mitch einen schnellen Blick zu. »Geh du zu Stacy.« Dann setzte ich Spike nach.
Beim Rennen über den Rasen holte ich ein Stück von Spikes Vorsprung auf, aber dann sprang er durchs Fenster ins Wohnzimmer, wohingegen ich gezwungen war, die Tür zu nehmen. Er erreichte die Treppe vor mir, indem er in weiten Sätzen über die Möbel hinweg-schoss, während ich mich an Stacy und den Kindern vorbeischlängeln musste. Wir jagten die Stufen hoch zum oberen Flur, wo er im Kreis lief und zornig mit den Dornen rasselte. Er stieß ein tiefes, knurrendes Geräusch aus, fast unterhalb der Hörgrenze, als ob irgendetwas an diesem Flur ihn ganz wild machte. Das gefiel mir gar nicht. Spike gehörte ursprünglich der Gräfin von Schattenhügel. Er konnte ziemlich gut einschätzen, was gefährlich war und was nicht, und wenn dieser Flur ihn dermaßen auf die Palme brachte ...
Ich zog mein Messer, hielt es an der Hüfte. »Wo lang?« Spike sah auf und fauchte. Ich seufzte. »Das hilft nicht weiter.«
Es gab sechs Türen. Eine führte in den Wäscheschrank, die daneben ins Badezimmer. Die Tür zu Cassandras Zimmer war halb angelehnt und offenbarte ein Stück Fußboden mit herumliegenden Papierstapeln und hingeworfenen Klamotten. Die Tür zu Mitchs und Stacys Zimmer stand offen und zeigte das ungemachte Bett. Mitch arbeitet nachts. Stacy musste ihn geweckt haben, als sie die Kinder vermisste.
Die vorderste Tür führte zu Jessicas und Karens Zimmer, die Tür zu Anthonys und Andrews Zimmer lag gegenüber auf der anderen Seite des Flurs. Beide Zimmer waren unaufgeräumt, an der Grenze zum Chaos. Nichts Ungewöhnliches in diesem Alter. Ich schaute erst ins Mädchenzimmer und hielt nach Spuren eines Kampfes Ausschau. Es herrschte Unordnung, aber innerhalb des normalen Rahmens für einen Raum, den sich zwei halbwüchsige Kinder teilten. Was immer passiert war, Jessica hatte dieses Zimmer anscheinend kampflos verlassen.
Als ich gerade über die Schwelle treten wollte, legte sich eine Hand auf meine Schulter. Ich verkrampfte mich, und nur der Gedanke an Anthony und Cassandra hielt mich davon ab, gleich Klinge voran herumzuwirbeln. Manchmal denke ich, ich werde langsam gewaltgeil. Dann fällt mir ein, wer und was alles schon versucht hat, mich umzubringen, und ich frage mich, warum die Paranoia so lange gebraucht hat.
»Tante Birdie?«, flüsterte Cassandra.
Ich entspannte mich und sah über die Schulter. »Ja, Kätzchen?« Spike zog immer noch langsam Kreise und knurrte grollend. Ich war nicht sicher, was ihn so aufbrachte, aber ich trat ihm auch nicht in den Weg.
»Hast du sie gefunden?«
»Noch nicht. Tut mir leid.«
»Oh.« Ihre Miene verdüsterte sich. »Mama geht es nicht gut. Kommst du runter?«
Der Ton von Spikes Knurren änderte sich. Er wurde eindringlicher. Dann hörte er auf, im Kreis zu laufen, und pirschte steifbeinig auf die Tür des Jungszimmers zu. »Nicht jetzt«, sagte ich schnell. »Sorg dafür, dass deine Mutter und alle anderen unten bleiben, ja?«
»Okay«, sagte Cassandra unschlüssig und betrachtete Spike. »Dein Rosenkobold knurrt.«
»Ich weiß. Geh runter, Cass. Ich bin gleich bei euch.« Oder tot, fügte ich im Stillen hinzu. Ich gebe mir Mühe, Warnungen nicht zu ignorieren, besonders wenn ich sie nicht verstehe. Spike mochte wegen einer Maus so ausrasten, aber es konnte auch eine Reaktion auf etwas sein, das ich nicht wahrnahm. Auf das Schlimmste gefasst zu sein ist eine gute Methode, nicht überrumpelt zu werden.
Cassandra sah mich mit gerunzelter Stirn an. Dann drehte sie sich um und ging hinunter.
Ich wartete auf das Verklingen ihrer Schritte, bevor ich Spike ins Jungszimmer folgte. Die eine Hälfte war Anthonys, dekoriert mit Raumschiffen und astronomischen Postern, der Boden geringfügig sauberer. Andrews Seite war in Dinosauriern und Clowns gehalten. Alles in grellen Regenbogenfarben mit abgerundeten Kanten. Die Dinosaurier, die ich ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, standen auf einem Regal neben dem Bett und wirkten klein und irgendwie traurig. Der Junge, der sie liebte, war nicht da.
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
Erde an Toby. Bist du da drin?« »Was?« Ich hörte auf, mein Rührei mit meinen Pommes zu ver-
manschen, und blinzelte Connor über den Tisch an. Er stützte sich auf seine Ellbogen und beobachtete mich. Es fiel mir wie immer schwer, mich an seine menschliche Verkleidung zu gewöhnen - meistens hatte ich in Schattenhügel mit ihm zu tun, wo es keinen Grund gab, sich zu tarnen. Seine Haare müssten eigentlich grau gefleckt sein wie sein Fell in Seehundgestalt, ihr jetziger ordinärer Braunton sah falsch aus. Seine Hände wirkten befremdlich ohne Schwimmhäute, und sowohl das Weiß als auch die deutlich erkennbaren Pupillen seiner Augen waren höchst ungewohnt.
Diese Augen fixierten mich gerade, und ihr Ausdruck zeigte ernste Besorgnis. »Was ist los?«
»Was meinst du?« Ich legte meine Gabel weg, strich mir das Haar zurück und versuchte, wie immer auszusehen. Es funktionierte anscheinend nicht.
»Du hast dein Frühstück kaum angerührt.«
»Ich hab keinen Hunger.«
»Dein Kaffeebecher ist seit fünf Minuten leer, und du hast immer noch nicht damit gedroht, unsere Kellnerin auszuweiden.« Connor schüttelte den Kopf. »Ich kenne dich doch. Was ist los?«
»Nichts«, sagte ich. »Ich bin nur müde.« Ich wollte ihm nicht von May erzählen. Ich wollte nicht, dass er zu helfen versuchte, ich wollte das Ganze einfach nur auf sich beruhen lassen, bis ich bereit war, mich damit auseinanderzusetzen. Vielleicht kam es dazu nicht, bis ich tot war, aber das war meine Entscheidung, nicht seine. Ich versuche, ehrlich zu meinen Freunden zu sein, wenn ich kann, aber es gibt Zeiten, wo ich Ausnahmen mache. Zum Beispiel, wenn ich gerade von der Fae-Entsprechung eines »singenden Telegramms« meinen bevorstehenden Tod angekündigt bekommen habe.
Connor seufzte und richtete seine Aufmerksamkeit auf sein Frühstück. »Wie du willst.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Wenn es wegen meiner Frau ist ...«
»Nein, keine Sorge. Ich hab ihr diese Woche noch keinen Grund gegeben, mich umzubringen, und ich hab ganz sicher auch nicht vor, ihr einen zu liefern.« Ich lächelte schwach. »Ich bin über dich hinweg, Connor.«
»Mein Herz blutet.«
»Was meinst du, was alles bluten würde, wenn ich nicht über dich hinweg wäre und Raysel dahinterkäme?« Ich nahm einen Happen Rührei, es war kalt und gummiartig. Ich schluckte es trotzdem runter und fuhr fort: »Dein Herz, mein Herz, jede Menge andere Körperteile ... «
»Du traust ihr ja viel zu.«
»Wenn es um potenzielle schwere Körperverletzung geht, ja.« Ich ließ die Gabel sinken. »Sie macht mir Sorgen. Etwas stimmt mit ihr ganz und gar nicht.«
»Weißt du, die meisten Kerle haben das Problem, dass ihre Exfreundin auf ihre Frau eifersüchtig ist. Aber nicht, dass sie wilde Verschwörungstheorien über sie aufstellt.«
»Ich war aber nie deine Freundin.«
»Das muss ich zugeben.«
»Sag mir doch, dass ich falschliege.«
Er seufzte. »Kann ich nicht.« Mit einem Blick auf die Uhr fügte er hinzu: »Ich sollte mich zurück nach Schattenhügel aufmachen. Ich muss heute an offiziellen Audienzen teilnehmen.«
Manchmal beschleicht mich der Verdacht, das zutiefst tagaktive Naturell der Herzogin von Schattenhügel könnte der wahre Grund dafür sein, dass sie ihre Tochter mit einem Selkie verheiratet hat: Sehnsucht nach moralischer Unterstützung. »Ich muss auch los«, sagte ich, erhob mich und ließ mein fast unberührtes Frühstück stehen. Connor schielte auf meinen Teller. »Wenn du willst, kannst du ja die Reste mitnehmen«, bemerkte ich.
»Schon gut«, sagte er in einem Ton, der die Worte Lügen strafte.
Er war sichtlich unzufrieden mit meinem Mangel an Appetit, aber ich ging nicht darauf ein. Ich hatte nicht die Kraft.
Wir zahlten und verließen das Restaurant. Connor, immer der Gentleman, hielt mir die Tür auf. Meine Finger streiften seine, bevor er losließ, aber ich zog sie rasch weg. Dass wir einander begehrten, hatte keine Bedeutung mehr. Durfte keine haben.
Draußen blies ein kühler Wind, der Himmel zeigte ein sattes Grau und drohte mit Regen. Stirnrunzelnd sah ich auf. »Das Wetter scheint sich zu verschlechtern.«
»Glaub ich auch.« Connor trat näher. Ich rückte ab, er blieb stehen und gab sich keine Mühe, den enttäuschten Ausdruck zu verbergen, der kurz über sein Gesicht huschte. »Toby ...«
»Lass es einfach, okay? Bitte.« Ich schüttelte den Kopf. »Lass es einfach.« Ich hatte mich nicht so konsequent zurückgehalten, als wir zusammen in Fremont waren, gefangen in einem Mugel, wo ein Mörder durch die Gänge schlich. Dort hatte ich ihn geküsst, das Salz auf seinen Lippen geschmeckt und mich erinnert, warum ich immer wollte, dass er mehr sein könnte als nur ein Freund.
Oberon hilf, ich kann nicht riskieren, dass so was noch mal passiert. Connor seufzte. »In Ordnung. Schön. Bis bald, Toby.«
»Freie Wege«, erwiderte ich.
Connor so zu behandeln zieht mich runter, aber bis er mit seinen Versuchen aufhört, mir auf die Pelle zu rücken, habe ich keine andere Wahl. Er ist verheiratet, und ich habe Prinzipien. Ich bin außerdem klug genug, mich vor seiner Frau zu fürchten, muss also besonders sorgfältig darauf achten, wie nahe ich ihm komme. Raysel hat viel von einer Serienmörderin, die nur darauf wartet, sich zu verwirklichen. Ich habe keine Lust, ihre Zielscheibe zu werden, wenn es dazu kommt.
Das Telefon klingelte, als ich nach Hause kam. Ich ignorierte es. Ich bin zwar kein großer Fan von Anrufbeantwortern, bedenkt man den Zwingfluch, mit dem Evening Winterrose mich mithilfe des Gerätes posthum belegt hatte, aber die Dinger haben fraglos auch ihr Gutes. Anrufe entgegenzunehmen, wenn ich nicht in der Stimmung bin, gehört in diese Kategorie.
Ich hängte meine Jacke auf, als das Gerät ansprang und Stacys ungewöhnlich hysterische Stimme über die Lautsprecher in den Raum drang. »Toby, ich bin es wieder. Tut mir leid, ich weiß, ich hab gesagt, ich warte auf deinen Rückruf, aber ich kann nicht warten, ich - ich kann einfach nicht mehr. Bist du da? Oh, bitte sei da ...«
Ich sprang über die Couch, rannte in den Flur und schnappte den Hörer. »Stacy? Was ist los?«
»Oh, dank O-Oberon, du bist da«, schluchzte sie. »Ich hab hu-hundertmal angerufen, aber du warst nicht zu Hau-hause ...«
»Was ist passiert?« Stacy ist die gelassenste Person, die ich kenne. Wenn auf dem Schulgelände ein Drachen in Raserei geriete, würde sie ihm in die Augen sehen und ihm eine zusammengerollte Zeitung auf die Nase klatschen. Sie gerät nicht in Panik, niemals.
»Andrew und Jessie«, flüsterte sie erstickt.
Ich erstarrte. »Was ist mit ihnen?«
»Sie sind weg.« Ihre Stimme zitterte. »Ich wollte nach den Kindern sehen, ob sie bei Sonnenaufgang gut durchgeschlafen haben. Andy und Jessie waren nicht da.«
Oh, Wurzel und Zweig. »Wann war das? Was ist mit Karen und Anthony?«
»Vor einer Stunde. Und Karen und Anthony lagen in ihren Betten.« Ich blickte auf die Uhr. Es war kurz nach acht. »Hast du im Garten nachgesehen?«
»Wir haben die ganze Nachbarschaft abgesucht.« Sie schniefte. »Wir haben sogar Cassie in der Uni angerufen, falls sie sie aus irgendeinem Grund mit zur Vorlesung genommen hat. Sie sind nicht bei ihr. Sie ist jetzt auf dem Weg nach Hause.«
Großartig, dann treffen sich alle zum gemeinsamen Nervenzusammenbruch. »Bist du sicher, dass du überall nachgeschaut hast?«
»Wir haben überall nachgesehen. Toby, Andy ist erst vier! Er kann noch nicht selbst für seine Tarnung sorgen.«
»Oh, Eiche und Esche«, murmelte ich. Das erklärte, warum Stacy mich anrief statt der Polizei: Sie konnte keine menschliche Hilfe in Anspruch nehmen, selbst wenn sie es wollte.
Kinder brauchen ein paar Jahre, bevor sie das Zaubern beherrschen. Es gibt eine kurze Frühphase, wo alles Nötige gleichsam automatisch passiert, aber die reflexartige Magie schwindet, wenn wir älter werden. Dann wird es zu einer Frage von bewusstem Willen und Konzentration. Tarnzauber zu erlernen dauert eine Weile, und manche Kinder lernen schneller als andere. Unglücklicherweise gehörte Andrew eher zu den Langsamen.
»Kann Jessica sie beide tarnen?«
»Nur für kurze Zeit. Toby, bitte komm her. Wir müssen sie finden.«
»Schsch, ja, ich weiß. Ich komme.« Ich kämpfte darum, mich nicht von ihrer Panik anstecken zu lassen. Die Kinder saßen wahrscheinlich unter einem Baum in irgendeinem fremden Garten, und Jessica veranschaulichte ihrem kleinen Bruder die besondere Finesse des Hierist-niemand-Zaubers. »Du musst einfach Ruhe bewahren, bis ich da bin, okay?«
»Ich versuch's.«
Noch etwas stimmte nicht. Stacy dürfte nicht so schnell derart in Panik geraten, nicht einmal, wenn zwei von den Kindern weg waren. »Was geht da sonst noch vor sich?«
»Ich ...« Sie zögerte. »Wir kriegen Karen nicht wach. Mitch hat ihr sogar ein Glas Eiswasser über den Kopf geschüttet, und sie hat sich nicht gerührt, und ich hab Angst, Toby, ich hab solche Angst ...«
Mein Herzschlag kam ins Taumeln. »Stacy, beruhige dich und rede mit mir. Atmet sie?«
»Ja.«
»Gut, sorg dafür, dass sie es bequem hat.« Wenn Stacy etwas zu tun hatte, machte sie vielleicht nichts Dummes. »Kein Eiswasser mehr. Wartet einfach auf mich.«
»Mach schnell.« Sie schluchzte, als sie einhängte. Ich starrte den Hörer an, dann knallte ich ihn aufs Telefon und stürmte ins Schlafzimmer. Erst ein Holing, und jetzt war irgendwas mit Stacys Kindern im Gange. Dies entwickelte sich nicht gerade zu einem guten Tag.
Im Stillen bedankte ich mich bei Connor, dass er mich wenigstens lange genug aus dem Haus gelockt hatte, um etwas zu essen, wenn auch nicht viel. Dann riss ich die Schubladen aus meinem Kleiderschrank und warf Kleidungsstücke aufs Bett. Die Katzen legten die Ohren an und flüchteten. »Eiche und Esche und beschissene vermoderte Kiefer«, fluchte ich und wühlte mich durch das Chaos. Das war pubertär, aber ich fühlte mich ein bisschen besser.
»Au!« Ich zuckte zusammen, als ich mit der Hand an die Schneide meines Messers kam, dann packte ich es am Griff und zog es aus einem Stapel T-Shirts. Die Scheide lag dreißig Zentimeter weiter links unter einem Knäuel Socken. Ich zog sie auch heraus, schob das Messer hinein und befestigte sie innen am Bund meiner Jeans. Neuerdings gebe ich mir Mühe, nicht unbewaffnet in Gefahr zu geraten: Ich habe meine Lektion gelernt und trage die Narben, die es beweisen. Im Umgang mit meinen Waffen habe ich ebenfalls dazugelernt und mir angewöhnt, das Messer in der Scheide zu tragen, nachdem ich mich bei ALH Computing fast aufgeschlitzt hätte, als ich mich mit der ungeschützten Klinge im Hosenbund von meinem explodierenden Auto wegrollte.
Das Leben war in letzter Zeit recht spannend gewesen.
Auf dem Rückweg ins Wohnzimmer schnappte ich mir meine Jacke und raffte mein Haar zu einem losen Pferdeschwanz zusammen, der meine Ohrenspitzen verbarg. Menschliche Tarnung ist unverzichtbar, wenn Raffinesse gefragt ist, ich aber plante vorerst nicht, mit jemandem außer meinen Freunden zu tun zu bekommen, und ich wollte meine mageren magischen Ressourcen nicht verschwenden. Später würde ich sie vielleicht dringend brauchen. Ich wandte mich zur Tür.
Krallen gruben sich in meine Wade. Ich blieb stehen, sah nach unten und erblickte Spike, der mit beiden Vorderpfoten an meinem Bein hing. »Spike, lass los. Ich muss weg.« Er jaulte, ohne mein Bein freizugeben. »Was willst du denn?« Er blickte sehnsüchtig auf meine Schulter. Ich seufzte. »Du willst mitkommen?« Spike fasste das als Zustimmung auf, zog die Krallen ein und kletterte an meiner Seite hoch, um sich auf meiner Schulter niederzulassen. Ich schüttelte den Kopf und verließ die Wohnung. Keine weiteren Verzögerungen.
Trotz Spikes Vorliebe dafür, sich beim Fahren an die Windschutzscheibe zu drücken, brauchte ich nicht zu fürchten, dass er entdeckt wurde. Rosenkobolde haben einen instinktiven Zauber, der sie vor jedem verbirgt, von dem sie nicht gesehen werden wollen. Mit steigender Kontrolle der magischen Fähigkeiten lässt diese natürliche Magie nach. Je kompetenter eine Fae-Rasse im Gebrauch der Magie ist, desto weniger instinktive Magie ist ihr geblieben. Manche Fähigkeiten entwickeln sich in bestimmten Rassen ausgeprägter - wie die Blutmagie bei den Daoine Sidhe -, aber viele natürliche Fähigkeiten der primitiveren Fae sind bei den Rassen, die als Menschen durchgehen können, verkümmert. Spike kann weitgehend anstellen, was immer er will, ohne je befürchten zu müssen, dass die menschliche Welt ihn wahrnimmt.
Die Fahrt zu Mitch und Stacy fühlte sich an, als stünde die Zeit still. Panik kann das bewirken, sie stopft Wochen in Stunden und Stunden in Sekunden. Devin sprach von »auf Wechselbalgzeit laufen« und meinte damit diesen Zustand, in dem die Zeit zu schnell dahinrast, und ganz gleich wie viel man noch hat, es ist immer zu wenig. Während der Fahrt konnte ich an nichts anderes denken als daran, wie es mich damals schier umgebracht hatte, Gillian zu verlieren. Ich konnte nicht zulassen, dass Mitch und Stacy so etwas zustieß. Ich musste es irgendwie verhindern.
Mitch kam mir am Auto schon entgegen. »Mitch«, sagte ich und nahm ihn in die Arme. Er hielt sich einen Moment bebend an mir fest, bevor ich ihn auf Armeslänge von mir weghielt und ihm in die Augen sah. »Wo ist Stacy?«
»Drinnen«, sagte er. Seine Stimme zitterte genauso wie sein Körper. »Sie kann die Kinder nicht aus den Augen lassen. Sie hat mich gezwungen, Karen nach unten zu tragen, damit sie sie im Schlaf bewachen kann.«
»In Ordnung. Kannst du mir ein paar Fragen beantworten, bevor ich reingehe?«
Er starrte so lange stumpf ins Leere, dass ich schon Angst bekam, er verstünde mich gar nicht. Dann schüttelte er sich und sagte: »Ich kann's versuchen.«
»Stacy sagte, Andrew und Jessica sind weg.« Er nickte. Ich fuhr fort: »Hast du sie ins Bett gehen sehen?«
»Ja. Da waren sie noch da, und Cassie sagt, dass Jessica noch im Bett lag, als sie heute früh ging.«
»Gut zu wissen.« In diesem Moment sprang Spike vom Wagendach auf meine Schulter und ankerte sich durch meine Lederjacke hindurch mit einem vollständigen Satz Krallen. Ich zuckte heftig zusammen. Katzen sind stumpfes Gerät im Vergleich mit Rosenkobolden.
Mitch starrte ihn an. »Toby, warum sitzt ein Rosenkobold auf deiner Schulter?«
»Spike wollte unbedingt mit, und ich hatte keine Zeit für Diskussionen.« Spike schnupperte hörbar die Luft und knurrte grollend. Ich runzelte die Stirn. »Das hat er noch nie gemacht. Spike? Was stimmt nicht?« Ohne weitere Warnung schnellte er sich von meiner Schulter und raste auf das Haus zu, dass unter seinen Pfoten die Grassoden aus dem Rasen flogen. Er sah wütend und angriffslustig aus, als stürmte er zur Verteidigung seines Reviers gegen einen unwillkommenen Eindringling. Ich warf Mitch einen schnellen Blick zu. »Geh du zu Stacy.« Dann setzte ich Spike nach.
Beim Rennen über den Rasen holte ich ein Stück von Spikes Vorsprung auf, aber dann sprang er durchs Fenster ins Wohnzimmer, wohingegen ich gezwungen war, die Tür zu nehmen. Er erreichte die Treppe vor mir, indem er in weiten Sätzen über die Möbel hinweg-schoss, während ich mich an Stacy und den Kindern vorbeischlängeln musste. Wir jagten die Stufen hoch zum oberen Flur, wo er im Kreis lief und zornig mit den Dornen rasselte. Er stieß ein tiefes, knurrendes Geräusch aus, fast unterhalb der Hörgrenze, als ob irgendetwas an diesem Flur ihn ganz wild machte. Das gefiel mir gar nicht. Spike gehörte ursprünglich der Gräfin von Schattenhügel. Er konnte ziemlich gut einschätzen, was gefährlich war und was nicht, und wenn dieser Flur ihn dermaßen auf die Palme brachte ...
Ich zog mein Messer, hielt es an der Hüfte. »Wo lang?« Spike sah auf und fauchte. Ich seufzte. »Das hilft nicht weiter.«
Es gab sechs Türen. Eine führte in den Wäscheschrank, die daneben ins Badezimmer. Die Tür zu Cassandras Zimmer war halb angelehnt und offenbarte ein Stück Fußboden mit herumliegenden Papierstapeln und hingeworfenen Klamotten. Die Tür zu Mitchs und Stacys Zimmer stand offen und zeigte das ungemachte Bett. Mitch arbeitet nachts. Stacy musste ihn geweckt haben, als sie die Kinder vermisste.
Die vorderste Tür führte zu Jessicas und Karens Zimmer, die Tür zu Anthonys und Andrews Zimmer lag gegenüber auf der anderen Seite des Flurs. Beide Zimmer waren unaufgeräumt, an der Grenze zum Chaos. Nichts Ungewöhnliches in diesem Alter. Ich schaute erst ins Mädchenzimmer und hielt nach Spuren eines Kampfes Ausschau. Es herrschte Unordnung, aber innerhalb des normalen Rahmens für einen Raum, den sich zwei halbwüchsige Kinder teilten. Was immer passiert war, Jessica hatte dieses Zimmer anscheinend kampflos verlassen.
Als ich gerade über die Schwelle treten wollte, legte sich eine Hand auf meine Schulter. Ich verkrampfte mich, und nur der Gedanke an Anthony und Cassandra hielt mich davon ab, gleich Klinge voran herumzuwirbeln. Manchmal denke ich, ich werde langsam gewaltgeil. Dann fällt mir ein, wer und was alles schon versucht hat, mich umzubringen, und ich frage mich, warum die Paranoia so lange gebraucht hat.
»Tante Birdie?«, flüsterte Cassandra.
Ich entspannte mich und sah über die Schulter. »Ja, Kätzchen?« Spike zog immer noch langsam Kreise und knurrte grollend. Ich war nicht sicher, was ihn so aufbrachte, aber ich trat ihm auch nicht in den Weg.
»Hast du sie gefunden?«
»Noch nicht. Tut mir leid.«
»Oh.« Ihre Miene verdüsterte sich. »Mama geht es nicht gut. Kommst du runter?«
Der Ton von Spikes Knurren änderte sich. Er wurde eindringlicher. Dann hörte er auf, im Kreis zu laufen, und pirschte steifbeinig auf die Tür des Jungszimmers zu. »Nicht jetzt«, sagte ich schnell. »Sorg dafür, dass deine Mutter und alle anderen unten bleiben, ja?«
»Okay«, sagte Cassandra unschlüssig und betrachtete Spike. »Dein Rosenkobold knurrt.«
»Ich weiß. Geh runter, Cass. Ich bin gleich bei euch.« Oder tot, fügte ich im Stillen hinzu. Ich gebe mir Mühe, Warnungen nicht zu ignorieren, besonders wenn ich sie nicht verstehe. Spike mochte wegen einer Maus so ausrasten, aber es konnte auch eine Reaktion auf etwas sein, das ich nicht wahrnahm. Auf das Schlimmste gefasst zu sein ist eine gute Methode, nicht überrumpelt zu werden.
Cassandra sah mich mit gerunzelter Stirn an. Dann drehte sie sich um und ging hinunter.
Ich wartete auf das Verklingen ihrer Schritte, bevor ich Spike ins Jungszimmer folgte. Die eine Hälfte war Anthonys, dekoriert mit Raumschiffen und astronomischen Postern, der Boden geringfügig sauberer. Andrews Seite war in Dinosauriern und Clowns gehalten. Alles in grellen Regenbogenfarben mit abgerundeten Kanten. Die Dinosaurier, die ich ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, standen auf einem Regal neben dem Bett und wirkten klein und irgendwie traurig. Der Junge, der sie liebte, war nicht da.
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
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Autoren-Porträt von Seanan McGuire
Seanan McGuire wurde in Martinez, Kalifornien, geboren. Neben ihrer Karriere als Schriftstellerin verfolgt sie eine Reihe von Hobbys, zeichnet gern Comics und schreibt Songs. Gegenwärtig lebt sie in einem alten Farmhaus in Nordkalifornien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Seanan McGuire
- 2011, 374 Seiten, Maße: 13,9 x 21,4 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Satzer, René
- Übersetzer: Rene Satzer
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 380258290X
- ISBN-13: 9783802582905
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