Oliver Twist
LESEPROBE
Fast zweihundert Jahre ist es her, dassan einem klirrend kalten Februarnachmittag in einem Farmhaus in Kentucky zweiMänner bei einem Glas Wein zusammensaßen. Die beiden hatten die Stühlezusammengerückt und sprachen leise, aber eindringlich miteinander. Einer derMänner war der Sklavenhändler Haley, der andere war Mr Shelby, der Besitzerder Farm. Haley war klein und untersetzt. Seine Gesichtszüge und vor allem diekalten Augen unter den halb geschlossenen Lidern verrieten einen Menschen, dersich gewissenlos in der Welt hinaufzuarbeiten versteht. Er trug auffallendeKleidung: eine grellbunte Weste, ein blaues Halstuch, schwarze Beinkleider undReitstiefel. Seine dicken Finger waren mit Ringen geschmückt. Die Art, mit derer im Gespräch mit seiner schweren goldenen Uhrkette spielte, wirkteselbstgefällig und protzig.
Mr Shelby hingegen machte einenschlichten, aber vornehmen Eindruck, seine Redeweise war zurückhaltend undverriet Bildung. Im Gegensatz zu seinem Gegenüber war er ein Gentleman.
Die Einrichtung des Zimmers, das Hausund die Anlagen zeigten Wohlstand des Besitzers und Shelby war in der Tat ein,begüterter Farmer. Die vielen Arbeiter auf seinem Hof kannten ihn als gerechtenund wohlwollenden Herrn, der sich um sie sorgte und sie menschlich behandelte.Niemand hätte von ihm erwartet, dass er Geschäfte mit Sklavenhändlern betrieb,und er selbst wäre früher nie auf den Gedanken gekommen. Aber Missernten in denletzten Jahren und falsche Spekulationen hatten ihn in hohe Schulden gestürztund schließlich waren Schuldscheine über große Beträge Haley in die Händegefallen. Nun war der Händler gekommen, um sein Geld einzutreiben.
»Warum sind Sie mit meinem Vorschlagnicht einverstanden?«, fragte Mr Shelby. »Auf diese Weise würden Sie ein vorteilhaftesGeschäft machen und für mich wäre die Angelegenheit erledigt!«
Haley schüttelte den Kopf. »SolcheGeschäfte kann ich nicht machen!« Er nahm sein Weinglas und trank es in einemZug leer. »Ich wäre Ihnen ja gern gefällig, Mr Shelby«, fuhr er mit glatterHöflichkeit fort. »Aber ich kann nicht!«
»Haley«, sagte Mr Shelby eindringlich.»Sie kennen Tom nicht! Er ist wirklich ein außergewöhnlicher Arbeiter. Er istehrlich und klug; ich habe ihn zum Verwalter meines Gutes gemacht!«
»Ehrlich?«, grinste Haley. »Sie meinenwohl, so ehrlich, wie Nigger eben sind?«
»Ich meine es ernst!«, entgegnete MrShelby heftig. »Tom ist absolut verlässlich und ein gläubiger Christ. Wie hätteich ihm sonst meinen Besitz, mein Geld, das Haus und die Pferde anvertrauenkönnen? Ja, ich kann ihn sogar unbehindert im Land umhergehen lassen. Er isttreu!«
»O ja! Es gibt fromme Nigger!«, sagteHaley spöttisch.
»Manche Leute wollen das nicht glauben.Aber ich glaube es!« Shelby musste seinen aufsteigenden Zorn unterdrücken. »HörenSie, Haley«, sagte er beherrscht. »Ich will Ihnen ein
Beispiel erzählen. Vorigen Herbst habeich Tom nach Cincinnati geschickt, um Geschäfte für mich abzuschließen und mirfünfhundert Dollar zu bringen. >Tom<, sagte ich zu ihm, >ich vertrauedir. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann!< Später habe icherfahren, dass ihm einige Mistkerle zugeredet haben, sich mit dem Geld nachKanada abzusetzen. Aber glauben Sie, er hätte es getan? Tom kam wieder! Nunwerden Sie auch verstehen, dass ich mich schwer von ihm trenne, und Sie solltenihn für die ganze Schuld nehmen, wenn Sie einen Funken Gewissen hätten!«
»Ich habe gerade so viel Gewissen, wiesich ein Geschäftsmann leisten kann«, versuchte Haley zu scherzen. »Ich binauch bereit, alles zu tun, meinen Freunden zu helfen. Aber das hier geht zuweit. Sie verlangen einfach zu viel.«
»Und wie stellen Sie sich das Geschäftvor?«, wollte Mr Shelby wissen.
Haley lehnte sich in seinen Sesselzurück und streckte langsam die Beine von sich. Nach einer kurzen Pause sagteer: »Haben Sie nicht einen Jungen oder ein Mädchen als Draufgabe?«
Shelbys Gesicht verfinsterte sich. »Ichgebe kein Kind weg! Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, es ist mir äußerstpeinlich, überhaupt jemanden verkaufen zu müssen! Nur die äußerste Not zwingtmich dazu!«
Haley hob die Augenbrauen und drehtedas Glas in der Hand. »Mr Shelby!«, sagte er kühl. »So werden wir kaum zu einemAbschluss kommen.«
In diesem Augenblick öffnete sich dieTür und ein etwa vierjähriger, fast weißer Junge kam ins Zimmer. SchwarzeLocken umrahmten sein rundes Gesicht und seine großen, dunklen Augen blicktenneugierig auf die beiden Männer.
»Hallo, Harry! Wie geht's!«, rief MrShelby. Der Junge lief unbefangen auf Shelby zu, der ihm zärtlich über das Haarstrich. Dabei musterten die Augen des Knaben mit scheuer Neugier den Fremden.»Magst du das?«, fragte Shelby und reichte dem Jungen eine Weintraube aus derObstschale. Der Kleine lächelte, streckte beide Hände aus und nickte eifrig. Erlehnte sich an Shelbys Knie, zupfte mit seinen kleinen dicken Fingern die süßenBeeren von der Traube und stopfte sie in den Mund. Dabei warf er immer wiedereinen Blick zu Haley hinüber, der den jungen mit wachsendem Interessebetrachtete.
»Nun, Harry; zeig dem Herrn, wie dutanzen und singen kannst.« Der Junge legte die Traube auf den Tisch, stelltesich mitten ins Zimmer und sang mit seiner hellen Kinderstimme ein Lied. Dabeistampfte er wild mit den Füßen und klatschte mit den Händen den Takt dazu.
»Bravo! Bravo!«, rief Haley.
»Nun zeig uns noch, wie Onkel Joe geht,wenn er Rheuma hat«, sagte Mr Shelby.
Dem Jungen schien die Vorstellung Spaßzu machen. Ohne zu zögern, holte er den Spazierstock seines Herrn aus der Ecke undhumpelte mit gekrümmtem Rücken im Zimmer umher. Dabei verzerrte er das Gesichtund tat, als ob er in alle Ecken spuckte.
»Der ist ja großartig!«, rief Haley.»Der Bengel hat es faustdick hinter den Ohren!« Er schlug dem Farmer auf dieSchulter. »Hören Sie, Shelby, den Jungen als Draufgabe - und die Sache geht inOrdnung! Ist das nicht ein einmaliges Angebot?«
In diesem Augenblick wurde die Türleise geöffnet und eine junge Farbige betrat das Zimmer. Es war die Mutter des Jungen.Sie hatte die gleichen dunklen Augen, schwarzes welliges Haar und eine auffallendhelle Hautfarbe.
Haley streckte den Kopf vor undmusterte sie ungeniert. Seine Augen glitten über die hohe, feingliedrigeGestalt und er verzog die Mundwinkel zu einem leichten Grinsen.
Die Frau blieb zögernd an der Türstehen, als sie den fremden Gast erblickte.
»Was gibt's, Eliza?«, fragte Shelby.
»Ich suche Harry, Sir!«
»Der ist hier. Nimm ihn gleich mit!«
Die junge Frau nahm das Kind auf denArm und mit einer leichten Verbeugung verließ sie hastig das Zimmer. Haleyblickte ihr mit begehrlichen Augen nach. Als sie die Tür geschlossen hatte,wandte er sich an Mr Shelby.
»Wie viel?«, fragte er mit einemAugenzwinkern und deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür.
Shelby verstand sofort. Er zog dieAugenbrauen zusammen, sodass eine tiefe Falte über der Nasenwurzel entstand.»Ich verkaufe sie nicht!«
»Shelby, mit der können Sie in NewOrleans ein Vermögen machen!«
»Ich will kein Vermögen machen!«, sagteShelby trocken.
Haley lehnte sich zurück und haktebeide Daumen in die Armlöcher seiner Weste. »Tausend!«, sagte er undbeobachtete mit halb geschlossenen Augen Shelbys Gesicht. Shelby schüttelteenergisch den Kopf »Ich dachte, Sie brauchen Geld?«, sagte Haley zynisch.»Tausend ist ein anständiges Angebot unter Freunden.«
Shelby biss die Zähne zusammen. »Ichsagte schon, ich verkaufe sie nicht. Meine Frau würde Eliza nie hergeben!«
»Ach was!« Haley machte einewegwerfende Handbewegung. »Frauen können nicht rechnen. Die ändern ihre Meinungschnell, wenn man ihnen klar macht, wie viel Kleider und Schmuck sie um tausendDollar kaufen können. Ich wette, Ihre ist nicht anders. Also, wie viel wollenSie haben?«
»Mr Haley!«, sagte Shelby schroff.»Bemühen Sie sich nicht. Ich habe Nein gesagt und dabei bleibt es! Ich änderemeine Meinung nicht. Sie ist unverkäuflich!«
»Wie Sie wollen«, antwortete Haleygedehnt. »Und was ist mit dem Jungen?«
»Aber um Himmels willen, was wollen Siedenn mit dem Jungen anfangen?«
»Machen Sie sich keine Sorgen!«,antwortete Haley. »Ich habe da einen Freund, der sucht immer hübsche kleineJungen. Die zieht er groß und verkauft sie dann als Diener in reiche Häuser.Macht doch einen vornehmen Eindruck, wenn so ein hübscher Bursche die Türöffnet, das Gepäck und die Garderobe abnimmt und bei Tisch bedient. Ich kenneviele Reiche, die großen Wert darauf legen. Solche Jungen bringen einem ein schönesStück Geld ein! Und ich versichere Ihnen, der Kleine da ist genau richtig.«
»Ich glaube, ich werde ihn nichtverkaufen«, sagte Shelby nachdenklich. »Es wäre zu hart, ihn seiner Mutterwegzunehmen!«
»Ach was! Natürlich ist es unangenehm.Aber diese Frauen kommen über so etwas schon hinweg, man muss es nur richtig anpacken.Ich denke da an einen Fall in Orleans. Der Händler wollte eine Frau kaufen,aber ohne ihr Kind. Die Frau benahm sich wie eine Verrückte. Sie ließ das Kindnicht mehr aus den Armen, sie heulte und flehte den Händler an, und als man ihrdas Kind mit Gewalt wegnahm und sie einsperrte, verlor sie vollends denVerstand. Eine Woche später war sie tot. Und warum? Wegen der falschenBehandlung!« Haley verschränkte die Arme, sein Gesicht hatte einenüberheblichen Ausdruck angenommen.
»Und was würden Sie tun?«, fragte MrShelby.
»Die einfachste Sache der Welt. Beisolchen Dingen dürfen die Frauen nicht dabei sein. Sie kennen doch dasSprichwort, Shelby: >Aus den Augen, aus dem Sinn.< Das trifft bei denengenau zu. Wenn alles vorbei und nichts mehr zu ändern ist, finden sie sichschon damit ab. Und die Schwarzen wissen doch von vornherein, was ihr Schicksalist, sie nehmen es auch nicht so schwer. Aber ihr hier in Kentucky verzieht jaeure Neger. Tut ihr ihnen damit etwas Gutes? Nein! Ihr macht ihnen nur falsche Hoffnungen.Wenn die dann woanders hinkommen, ist es für sie umso härter.«
»Mag sein«, entgegnete Shelby. »Mir istes jedenfalls lieber, wenn ich weiß, dass meine Leute zufrieden sind!«
»Natürlich hält jeder seine Methode fürdie beste«, lenkte Haley ein. »Sie dürfen mich nicht für einen hartherzigen Menschenhalten, Shelby, ich behandle die Neger auch gut, wenn es sich lohnt! Also, wassagen Sie zu meinem Vorschlag?«
»Ich muss mir die Sache überlegen«,antwortete Shelby nach kurzer Pause. »Wenn Ihnen etwas an dem Geschäft liegt,Haley, sagen Sie niemandem, warum Sie hier sind. So etwas spricht sich schnellherum. Und wenn der Handel bei meinen Leuten bekannt wird, lässt sich keinerim Stillen fortschaffen, darauf können Sie sich verlassen.«
»Keine Angst, ich schweige. Aberüberlegen Sie nicht zu lange, ich habe es eilig. Ich möchte bald wissen, woranich bin.«
Haley erhob sich und warf seinen Mantelüber. Shelby begleitete ihn zur Tür.
»Auf bald!«, sagte Haley und streckteMr Shelby die Hand hin. Der musste sie wohl oder übel nehmen, obwohl er Haleyin diesem Augenblick lieber mit einem Tritt zur Tür hinausbefördert hätte.
Eliza war, als sie mit Harry das Zimmerverlassen hatte, voll böser Ahnung vor der Tür stehen geblieben und hattegelauscht. Sie hatte Bruchstücke der Unterhaltung verstanden, und als die Herrinnach ihr rief, klopfte ihr Herz zum Zerspringen. Hatte sie richtig gehört?Wollte der Mann wirklich sie oder ihren Harry kaufen?
Eliza war bei der Arbeit sogeistesabwesend, dass sie ihrer Herrin statt des verlangten Kleides einNachthemd aus dem Kasten brachte und gleich darauf ohne ersichtlichen Grund denWasserkrug fallen ließ.
»Aber Eliza, was hast du denn heute?«,fragte Mrs Shelby besorgt. Eliza konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten undsank weinend auf einen Stuhl.
»Ach, Missis«, schluchzte sie, »einHändler war da und - er will meinen Harry kaufen!«
»Aber Eliza, Kind, was redest du denndaher!«, beruhigte sie Mrs Shelby. »Du weißt doch, dass dein Herr mit diesen Sklavenhändlernaus dem Süden keine Geschäfte macht. Außerdem würde es ihm nie einfallen,einen von seinen Leuten ohne Grund zu verkaufen. Und ausgerechnet deinen Harry!Ich glaube fast, du bildest dir zu viel ein auf ihn. Kaum schaut einer zur Türherein, meinst du schon, er will deinen Jungen kaufen!«
»Aber, nicht wahr, Missis, Sie würdenso etwas nie erlauben?«
»Natürlich nicht! Genauso gut könnteich meinen Robert verkaufen lassen. Jetzt lass es gut sein und hilf mir lieber,mein Haar hinaufzustecken. Ich gehe doch heute mit zur Abendgesellschaft.«
Die zuversichtlichen Worte beruhigtenEliza. Sie glaubte nun auch, dass ihre Befürchtungen grundlos waren. Geschickthalf sie ihrer Herrin bei der Frisur.
Mrs Shelby hatte keine Ahnung, inwelcher Zwangslage ihr Mann steckte und wie sehr er dem Sklavenhändlerausgeliefert war.
© cbj Verlag
Deutsche Bearbeitung von Maria Czedik-Eysenberg
Seine unbeschwerte Kindheit endete in einer doppeltenErniedrigung. Der 12jährige Charles mußte in einer Schuhcreme-Fabrik arbeiten,um der finanziell ruinierten Familie nicht mehr zur Last zu fallen. Sein Vaterwurde dennoch ins Schuldgefängnis gesperrt; Nachdem die Schulden getilgt waren,durfte Charles wieder in die Schule. In Anwaltskanzleien erlernte er dann dasHandwerk des Schreibens.Er wurde Parlaments- berichterstatter und konnte kurzeSkizzen über das Londoner Leben in Zeitschriften veröffentlichen, daraufschrieb er Fortsetzungsromane, häufig mehrere gleichzeitig. Er war eingutaussehender und gutgekleideter, rühriger Mann, ein gerngesehener Gast undein sympathischer Gastgeber. Die Romane, in denen Dickens mit Liebe und Humordie Welt der kleinen Leute darstellte und aus tiefem Mitleid Kritik an densozialen Mißständen übte, waren ein lebenslanger Nachklang an seine in einerFabrik verlorengegangene Jugend.
- Autor: Charles Dickens
- Altersempfehlung: 8 - 10 Jahre
- 2005, Maße: 14,2 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: cbj
- ISBN-10: 3570129977
- ISBN-13: 9783570129975
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