Orangentage
Seitdem er Hanka kennengelernt hat, die so wunderbar nach Orangen duftet, fühlt sich Dareks Leben perfekt an. Alles scheint sich zu fügen, und als sein Vater sich einen lang gehegten Traum erfüllt und eine Pferdefarm auf ihrem Hof aufzieht, macht Darek...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Orangentage “
Klappentext zu „Orangentage “
Seitdem er Hanka kennengelernt hat, die so wunderbar nach Orangen duftet, fühlt sich Dareks Leben perfekt an. Alles scheint sich zu fügen, und als sein Vater sich einen lang gehegten Traum erfüllt und eine Pferdefarm auf ihrem Hof aufzieht, macht Darek begeistert mit. Schon bald kennt er sich mit den verschiedenen Rassen und Temperamenten aus und hat die Vierbeiner fest in sein Herz geschlossen. In seiner Begeisterung fällt ihm erst auf, dass sein Vater möglicherweise doch von anderen Dingen als einem Leben mit Pferden träumt, als es fast zu spät ist. Welchen Plan verfolgt sein Vater mit der Farm wirklich?
Lese-Probe zu „Orangentage “
Orangentage von Iva Procházková 1.
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Darek holte Luft und spuckte mit voller Kraft. Die Spucke landete auf Hugos Kinn und lief langsam an seinem Hals hinunter. Hugo wischte sie mit dem Arm ab.
»Du bist tot!«, brüllte er. »Erst nach dir«, gab Darek zurück und sprang zur Seite, weil Hugo mit einem Knüppel in der Hand auf ihn losstürzte.
Darek gelang es zwar, dem Schlag auszuweichen, aber Hugos Gewicht drückte ihn gegen die Friedhofsmauer. Sein Pullover zerriss beim Aufprall an einem scharfen, hervorspringenden Stein, der sich zwischen seine Schulterblätter bohrte. Darek zog zischend vor Schmerz die Luft ein und holte mit der Faust Richtung Hugos Kiefer aus. Bedauerlicherweise streifte er nur sein Ohr, weil Hugo im letzten Augenblick den Kopf weggedreht hatte.
»Hahaha!« Hugo täuschte einen krampfhaften Lachanfall vor.
»Es kitzelt, du Trottel!«
»Ich werde dich noch mehr kitzeln, willst du?«
Anstatt zu antworten, holte Hugo wieder mit seinem Knüppel aus. Darek versteckte den Kopf hinter den Armen. Unmittelbar darauf verspürte er einen heftigen Schlag am linken Unterarm. Der Schmerz schoss ihm bis in die Fingerspitzen. Intuitiv stieß er Hugo sein rechtes Knie in den Schritt. Hugos Beine gaben nach, er knickte in der Taille ein. Darek sprang zurück, blieb jedoch aufmerksam in Kampfstellung. Denn es hätte auch bloß ein Trick von Hugo sein können, um dann umso kräftiger loszuschlagen. Doch als ihm der Knüppel aus der Hand fiel und sein Gesicht sich zu einer schmerzhaften Grimasse verzog, ließ Dareks Anspannung nach.
Er begriff, dass der heutige Kampf zu Ende war. Schnell sammelte er die herumliegenden Hefte und Lehrbücher auf, stopfte sie zurück in den Schulranzen und begann rückwärts auf der Mauer entlangzulaufen, den Blick stets auf Hugo geheftet.
»Das hast du verdient, du Miststück!«, schrie er. Seine Stimme hörte sich unsicher, fast schuldbewusst an und das ärgerte ihn. Als ob nicht Hugo die Schlägerei provoziert hätte!
»Leck mich«, murmelte Hugo schwach durch die zusammengebissenen Zähne.
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst meine Schwester in Ruhe lassen! Wenn du sie noch ein Mal anfasst, tret ich dir mit Anlauf in die Eier! Das nächste Mal richte ich dich so zu, dass du da drüben landest.«
Er deutete zum Friedhof, wo sich die Gräberlandschaft erstreckte, die jetzt, im Frühjahr, mit frischen Blumen geschmückt war. Einen der Blumensträuße hatten Darek und Ema vor zwei Tagen dort hingebracht. Ema hatte die gelben Tulpen mit Glitzerband umwickelt und noch eine große Schleife daraus gebunden. Darek gefiel diese grelle Dekoration nicht und er vermutete, dass sie auch der Mutter nicht gefiel, aber das war letztendlich egal.
»Verpiss dich, Arschgesicht!«, ertönte Hugos nicht mehr so geschwächte Stimme. Darek legte einen Schritt zu. Er kannte die Verbissenheit und die sich schnell wieder aufladenden Batterien von Hugo nur zu gut. Einmal, als sie sich hinter der Eisenbahnstrecke geprügelt hatten, war Hugo im Finale, kurz vor Dareks Sieg, mit solcher Wucht auf ihn gesprungen, dass sie beide auf den Kies des Bahndamms rollten. Hugo brach sich dabei den kleinen Finger und Dareks Handy war platt gedrückt. Nein, nach einer weiteren Kampfrunde sehnte er sich definitiv nicht. Außerdem war es höchste Zeit, Ema abzuholen. In ein paar Minuten würde sie vor der Schule stehen, den Hals recken und abwechselnd nach rechts und links schauen - wie ein Huhn, das nach Körnern Ausschau hält. Sie war Hugo und anderen Kindern eine Quelle unerschöpflicher Belustigung.
»Put ... put ... put ... put!«, riefen sie ihr zu und äfften ihre ruckartigen Bewegungen nach. »Sieh da, ein Regenwurm, pick ihn, schnell!« Jedes Mal, wenn Darek das Hohngelächter hörte, stritten zwei Gefühle in ihm. Mach sie platt! Vermöbel sie! Polier ihnen die Fresse!, empfahl die erste wilde Regung. Das andere Gefühl kam langsamer. Es bestand aus Müdigkeit und Missmut und enthielt auch Zorn auf Ema. Als ob sie nicht imstande wäre, einfach ruhig dort zu stehen und auf ihn zu warten! Oder den Weg nach Hause allein zu meistern! Als Darek acht Jahre alt war, ging er überall allein hin und niemand wunderte sich darüber. Doch Ema war nicht wie er, sie ähnelte keinem Menschen, den er kannte. Sie war anders und er musste sich damit abfinden. Er musste sie lieb haben, wie sie war - hatte die Mutter gesagt. Nie hatte Darek mit ihr darüber diskutiert, aber oft überlegte er, ob man Liebhaben anordnen konnte. »Lauf doch zu deiner bescheuerten Schwester, damit sie nicht von einem Dreirad überfahren wird!«, grölte Hugo hinter ihm her. Dann kam ein Stein geflogen, er verfehlte jedoch sein Ziel. Hugo war ein schwerer Brocken, aber zielen konnte er nicht, deswegen wurde er beim Fußball immer ins Tor gestellt. Darek hörte auf, sich umzublicken, und rannte Richtung Grafenschule los, deren abgeblätterter Schornstein hinter dem Hügel hervorschaute. Die Dachrinne war angerostet, der Putz bröcklig und auch sonst strahlte das Gebäude nur wenig Aristokratisches aus, aber es befand sich an der Stelle des ehemaligen Grafenhofs. Obwohl kaum jemand in Piosek sagen konnte, um welchen Grafen es sich eigentlich handelte und wo er sein Ende gefunden hatte, bemühte sich niemand um einen aktuelleren Namen für die Schule. Es war eine Grundschule; die älteren Schüler gingen in ein anderes Gebäude am Rand des Dorfes. Darek war diese Aufteilung nur recht. So war er wenigstens vormittags Ema los, musste ihr nicht in den Gängen begegnen und mit ihr die Pausen auf demselben Schulhof verbringen. Manchmal gelang es ihm, sie ganz zu vergessen. In solchen Momenten fühlte er sich leicht und sorglos. Er kickte oder schwang sich übers Klettergerüst und wetteiferte mit den anderen, wer die Hängebrücke kräftiger zum Schaukeln brachte. Aber wenn er sich mitten im Spiel an seine Schwester erinnerte, blieb ihm das Lachen im Hals stecken und er schaute sofort auf die Uhr, getrieben von der Furcht, zu spät zu kommen und dass Ema seinetwegen etwas zustoßen könnte.
Diese Furcht verfolgte Darek überallhin, wie ein lästiger Hund, der sich nicht wegjagen ließ. Wie er es vermutet hatte, wartete sie schon auf ihn. Sobald er um die nächste Ecke bog, tauchte Ema vor ihm auf. Sie stand ans Geländer gelehnt und sprach mit ihrer Klassenlehrerin, Frau Paterova. Darek verspürte Erleichterung. Die Anwesenheit eines Erwachsenen schüchterte die Spötter meistens ein. Sie trieben ihren Spaß gerne ungestört. So wie Hugo. Auf seinen Auftritt heute Morgen hatte er sich bestimmt schon zu Hause vorbereitet. Mit einer Schere in der Jackentasche hatte er sich im morgendlichen Tumult am Grundschultor unauffällig Ema genähert. »Es ist höchste Zeit, dir die Hörner zu stutzen«, hatte er verkündet. Bevor Darek verstand, was geschah, hob Hugo die Hand, in der er die Schere hielt, und schnitt Ema eine dicke Haarsträhne ab. Er lächelte dabei und Ema lächelte zurück, denn sie konnte sich nicht so schnell zusammenreimen, was passierte. Sie ahnte nicht, dass auf ihrem Kopf ein hässliches Gestrüpp entstanden war, das sie zur Zielscheibe noch blöderer Sprüche machen würde. Sie lächelte, weil ein Lächeln ihr spontanster Ausdruck war. Auch jetzt lag es auf ihrem Gesicht. Sie hielt die Ranzengurte mit beiden Händen fest, schaute strahlend zur Lehrerin hoch und nickte immer wieder. Dabei bewegte sich ihr schief geschnittenes Haar auf und ab wie eine rote Bürste. »Hallo!«, rief sie, als sie Darek erblickte. Sie lief ihm entgegen und umarmte ihn. »Was hast du mir mitgebracht?« Jedes Mal fragte sie ihn, was er ihr mitbrachte. Sie dachte bestimmt, dass Darek nichts Besseres zu tun hatte, als sich nach Geschenken für sie umzusehen. »Guten Tag«, grüßte Darek zuerst die Lehrerin. (»Vergiss nicht, anständig zu grüßen«, war eine von Mutters häufigsten Anweisungen gewesen, verkörpert durch einen der ältesten Knoten, die Darek je gemacht und später wieder gelöst hatte, weil ihm sowohl das Grüßen als auch das Einkaufen für Herrn Havlik inzwischen zur festen Angewohnheit geworden war.) Er griff in seine Hosentasche. Vorhin hatte sich eine Praline von Mischa dort befunden, jetzt konnte Darek leider nur noch ein Stück Kiefernrinde ertasten. Die Praline war weg. Er hatte sie wahrscheinlich am Friedhof bei der Schlägerei verloren. Statt der Praline reichte er Ema die Rinde.
»Da, nimm!«
»Was ist das?« »Ein Boot.« Sie drehte die Rinde misstrauisch zwischen den Fingern.
»Wo denn?« »Drinnen.«
»Dann hol es raus.« »Erst zu Hause.«
»Warum?«
Darek wollte gerade antworten, dass er ein Messer brauchte, um das Boot aus der Rinde herauszuholen, als ihm Frau Paterova die Hand auf die Schulter legte. »Wir haben heute Morgen heftig geweint«, flüsterte sie voller Mitleid in sein Ohr. Wenn sie über Ema redete, hatte sie immer eine sanfte, leicht betrübte Stimme und verwendete die erste Person Plural. Beides war Darek höchst unangenehm. »Weswegen?«, fragte er gereizt. Die Lehrerin berührte flüchtig ihren Scheitel, zog aber die Hand sofort wieder zurück, um Ema nicht an das abgeschnittene Haar zu erinnern - denn das war die Ursache für das morgendliche Weinen gewesen.
»Das wächst ja bald nach«, versicherte Darek betont sorglos. Paterovas Mitleid ging ihm auf die Nerven. Sie war lieb, wenigstens hatte es die Mutter behauptet. Trotz Emas »Problem« hatte sie sie in ihre Klasse aufgenommen und Darek wusste, dass sie seiner Schwester viel mehr Zeit als anderen Kindern widmete. Dennoch störte ihn etwas im Verhalten der Lehrerin. Sie unterschätzte Ema. Sie verlangte Sachen von ihr, die auch ein Schimpanse schaffen würde. Sie dachte das, was jeder in Piosek dachte: dass Ema debil war. Die Lehrerin würde dieses Wort niemals in den Mund nehmen, weil sie es für beleidigend hielt, doch ihre übertriebene Nachsicht beleidigte genauso. »Heute haben wir im Unterricht ein Märchen gelesen«, erzählte sie Darek, schaute aber gleichzeitig Ema an.
»Über eine Hexe, stimmt's? Kannst du dich erinnern, was sie gemacht hat?«
»Sie hat die Prinzessin verhext«, antwortete Ema nach kurzem Überlegen. »Und wie ging es weiter?«
»Nirgendwie.«
»Weil wir es nicht zu Ende gelesen haben. Weißt du noch, was ihr als Hausaufgabe aufbekommen habt?«
Die Lehrerin blickte Ema ermutigend an und Ema presste ihre Faust gegen die Stirn. Das machte sie immer, wenn sie sich bemühte, aus ihrem Gedächtnis etwas auszugraben. »Wir sollen uns selbst einen Schluss ausdenken!« Sie lächelte, glücklich darüber, dass sie sich erinnert hatte. Die Lehrerin nickte. »Ja, ihr sollt einen passenden Schluss schreiben. Wenige Sätze genügen«, fügte sie hinzu. »Und wenn es für dich zu schwierig ist, mal einfach ein hübsches Bild zu der Geschichte.« Sie hob den Korb mit den Heften zum Korrigieren auf, öffnete die Tür ihres Wagens und winkte zum Abschied. »Tschüs, und schönen Nachmittag noch!« »Auf Wiedersehen«, erwiderte Darek nur und packte Ema, die der Lehrerin nachlaufen wollte. Immer spielte sich das gleiche Drama ab: Ema weigerte sich, sich von den Menschen, die sie mochte, zu trennen. Sie fasste sie an der Hand, am Arm, um die Taille, hielt sich an Jackenzipfeln oder Ärmeln fest, quengelte und versuchte alles, um sie aufzuhalten. Auch jetzt zappelte sie so lange in Dareks Umklammerung, bis der Wagen mit der Lehrerin hinter der nächsten Kurve verschwunden war. Erst dann beruhigte sie sich und begann wieder das Stück Kiefernrinde in ihrer Hand nach dem darin versteckten Boot zu untersuchen.
»Wo ist es?«
»Da drin.«
Darek hatte keine Lust, mit Ema zu plaudern, er wollte weiter über seine eigenen Dinge nachdenken. Doch das gelang ihm in Anwesenheit seiner Schwester selten. Sie ließ sich nicht abwimmeln. »Wo genau?«, drängte sie.
»Zeig mal!«
»Hier ist der Bug«, sagte er und zeigte auf den spitzen Vorsprung der Rinde.
»Was ist ein Bug?«
»Das Vorderteil.«
»Und wo ist das Hinterteil?«
»Hier!«, sagte er und gab ihr einen Klaps auf den Po. Sie holte zum Gegenschlag aus, aber er rannte voraus. Sie lief auf ihre unbeholfene Art hinter ihm her. Der Schulranzen hüpfte auf ihrem Rücken und sie schlackerte mit den Armen hin und her. Nicht mal normal laufen kann sie! Sie hopst ja wie eine Krähe! Fehlt nur noch, dass sie krächzt, dachte er verdrossen und blieb stehen, um auf sie zu warten. Sie befanden sich ein Stück vom Laden entfernt, dem lebhaftesten Platz des Dorfes, und Darek wollte keine unnötige Aufmerksamkeit wecken. Er wusste, dass die umherstehenden Nachbarinnen am Ladeneingang die Hauptstraße und jeden, der dort entlangkam, im Visier hatten. Sie würden sowieso schon Emas neuen, struppigen Haarschnitt und Dareks zerrissenen Pullover bemerken und ihren Kommentar dazu abgeben. Am besten liefen sie schnell an ihnen vorbei, entschied er. Außerdem entdeckte er hinten auf dem Ringel- weg Hanka. Über den Lenker gebeugt, kam sie vom Bahnhof geradelt und näherte sich der Kreuzung. Sie sah Darek noch nicht. Dies gab ihm Gelegenheit, sich die Haare in die Augen zu streichen und die gelangweilte Miene aufzusetzten, die er zu Hause vor dem Spiegel eingeübt hatte. Er wusste, dass ihn das älter aussehen ließ. Vor Hanka wollte er möglichst erwachsen wirken. Ema blieb bei der Magnum-Werbung stehen. »Kaufst du mir ein Eis?«, fragte sie. Das Eis auf dem Werbefoto war auf die Maße eines Paddels vergrößert und der glänzende Schokoüberzug, auf dem Wassertropfen perlten, verführte zum Anbeißen. Es kam aber nicht infrage, dass man etwas derart Kostbares so einfach bekam. Noch dazu mitten in der Woche. Allerhöchstens als Belohnung für einen gut geschriebenen Abschlussaufsatz oder als Extraprämie vom Trainer für eine würdige Platzierung beim Jugendpokalkampf.
»Weißt du, was das kostet?«, antwortete Darek mit einer Gegenfrage.
»Wie viel denn?«
»Eine Stange Geld. Komm, wir gehen!«
Er fasste die Schwester an der Hand, doch sie riss sich los, stützte sich mit beiden Händen an der Werbetafel ab und öffnete den Mund. Es sah so aus, als wollte sie das Eis vom Foto weglecken.
»M - a - g - u - m«, buchstabierte sie langsam. »Kaufst du mir ein Magum?«
»Du hast das N ausgelassen. Es heißt nicht Magum, sondern Magnum «, verbesserte er sie und fügte mit einem erzieherischen Ton hinzu: »Wir haben noch nicht zu Mittag gegessen. Verkneif dir also das Eis.«
»Ich will kein Mittagessen, ich will ein Eis«, erwiderte Ema. »Dieses da!«
»Was ›ich‹ nicht alles will!«, schnauzte er sie an. Und um endlich weiterzukommen, schubste er sie leicht. Sie klammerte sich an der Werbetafel fest. Darek spürte, wie das Blut in seinen Kopf schoss. Er war drauf und dran, die Schwester anzuschreien, sie zu schütteln und mit Gewalt wegzuschleppen. Aber gerade das durfte er auf keinen Fall tun. Das wäre das Schlimmste überhaupt. Er musste einen anderen Weg finden. Am besten war es, sie zu beschummeln. Sie abzulenken, damit sie das Eis vergaß.
»Guck mal!«, rief er plötzlich »Hast du's gesehen?«
»Was?«
»Da drüben!«
Ema wandte sich um und heftete ihren Blick auf den Punkt, auf den er zeigte. Es war aber nichts zu sehen.
»Siehst du?«, fragte er und nahm sie bei der Hand. Diesmal riss sie sich nicht los.
»Was denn?«, hauchte sie mit einem angespanntem Gesichtsausdruck. »Wir müssen näher hingehen«, sagte er und fühlte sich mies, wie immer, wenn er die Schwester betrog. Es war so einfach, sie an der Nase herumzuführen... Gerade das machte ihm ein schlechtes Gewissen. Aber es war die sicherste Methode, ihr Weinen und Schreien zu beenden.
»Siehst du sie?«
»Wen? Wo? Was?«, wiederholte Ema und ließ sich Schritt für Schritt vom Rieseneis wegführen.
»Wer ist dort?«
»Sie hat sich eben hinter dem Baum versteckt«, fuhr Darek fort, ohne die leiseste Ahnung zu haben, wovon er eigentlich sprach. »Eine Katze?«
Er nickte erleichtert. Eine Katze war gut.
»Welche Farbe hat sie?«
»Lauf doch und sieh nach!« Nun brauchte er Ema nicht mehr hinter sich herzuziehen, sie rannte von allein zur großen Pappel am oberen Ende der Hauptstraße. Dahinter war nur noch die Kneipe. Sie lag an der Kreuzung, von der rechts ein Weg hinunter zum Bahnhof und eine schmale Straße durch die Wiesen zu ihrem Bauernhof hinaufführte. Man nannte den Hof immer noch die Genossenschaft, auch wenn an die kollektive Landwirtschaft nur noch die Aufschrift LPG FORTSCHRITT über dem herausgefallenen Tor des Kuhstalls erinnerte. Jeden Tag blickte Darek darauf, aus dem Fenster seines Dachzimmers. Die Buchstaben waren durch Sonne und Regen verblichen und fast nicht mehr zu entziffern. Man konnte stattdessen auch MORDSCHNITT, FURZSCHLIFF, BORDCHRIST oder sogar HORTZUDRITT lesen. Es klang verwirrend und geheimnisvoll, wie die Sprache einer vergangenen Zivilisation.
»Hi, Darek!« Hankas Stimme ertönte in unmittelbarer Nähe und verursachte ein leichtes, angenehmes Frösteln bei ihm. Er drehte sich um.
»Hallo, Hanka.« Seine vorbereitete gleichgültige Miene zerfiel schnell unter der Wirkung ihres Blickes. Die schwärzesten Augen weit und breit, Erbgut der Familie Bulis. Die Augen ihres Bruders Mischa waren auch sehr dunkel, aber ziemlich klein, sodass die Farbe nicht wirklich auffiel. Hankas Pupillen waren groß und uferlos. Man konnte sie nicht im Ganzen erfassen, denn früher oder später musste man ihrem Blick ausweichen, sonst würde etwas passieren. Darek war nicht klar, was passieren würde, er hatte es noch nicht ausprobiert.
»Bist du heute Nachmittag zu Hause?«, fragte sie und nahm den Fuß vom Fahrradpedal herunter.
»Keine Ahnung.« Er bemühte sich um die Wiederherstellung des gelangweilten Gesichtsausdrucks.
»Warum?«
»Ich soll einen Stromkreis bauen. Für den Physikunterricht.«
»Herzlichen Glückwunsch!«
»Allein schaffe ich es nicht.«
© S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Darek holte Luft und spuckte mit voller Kraft. Die Spucke landete auf Hugos Kinn und lief langsam an seinem Hals hinunter. Hugo wischte sie mit dem Arm ab.
»Du bist tot!«, brüllte er. »Erst nach dir«, gab Darek zurück und sprang zur Seite, weil Hugo mit einem Knüppel in der Hand auf ihn losstürzte.
Darek gelang es zwar, dem Schlag auszuweichen, aber Hugos Gewicht drückte ihn gegen die Friedhofsmauer. Sein Pullover zerriss beim Aufprall an einem scharfen, hervorspringenden Stein, der sich zwischen seine Schulterblätter bohrte. Darek zog zischend vor Schmerz die Luft ein und holte mit der Faust Richtung Hugos Kiefer aus. Bedauerlicherweise streifte er nur sein Ohr, weil Hugo im letzten Augenblick den Kopf weggedreht hatte.
»Hahaha!« Hugo täuschte einen krampfhaften Lachanfall vor.
»Es kitzelt, du Trottel!«
»Ich werde dich noch mehr kitzeln, willst du?«
Anstatt zu antworten, holte Hugo wieder mit seinem Knüppel aus. Darek versteckte den Kopf hinter den Armen. Unmittelbar darauf verspürte er einen heftigen Schlag am linken Unterarm. Der Schmerz schoss ihm bis in die Fingerspitzen. Intuitiv stieß er Hugo sein rechtes Knie in den Schritt. Hugos Beine gaben nach, er knickte in der Taille ein. Darek sprang zurück, blieb jedoch aufmerksam in Kampfstellung. Denn es hätte auch bloß ein Trick von Hugo sein können, um dann umso kräftiger loszuschlagen. Doch als ihm der Knüppel aus der Hand fiel und sein Gesicht sich zu einer schmerzhaften Grimasse verzog, ließ Dareks Anspannung nach.
Er begriff, dass der heutige Kampf zu Ende war. Schnell sammelte er die herumliegenden Hefte und Lehrbücher auf, stopfte sie zurück in den Schulranzen und begann rückwärts auf der Mauer entlangzulaufen, den Blick stets auf Hugo geheftet.
»Das hast du verdient, du Miststück!«, schrie er. Seine Stimme hörte sich unsicher, fast schuldbewusst an und das ärgerte ihn. Als ob nicht Hugo die Schlägerei provoziert hätte!
»Leck mich«, murmelte Hugo schwach durch die zusammengebissenen Zähne.
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst meine Schwester in Ruhe lassen! Wenn du sie noch ein Mal anfasst, tret ich dir mit Anlauf in die Eier! Das nächste Mal richte ich dich so zu, dass du da drüben landest.«
Er deutete zum Friedhof, wo sich die Gräberlandschaft erstreckte, die jetzt, im Frühjahr, mit frischen Blumen geschmückt war. Einen der Blumensträuße hatten Darek und Ema vor zwei Tagen dort hingebracht. Ema hatte die gelben Tulpen mit Glitzerband umwickelt und noch eine große Schleife daraus gebunden. Darek gefiel diese grelle Dekoration nicht und er vermutete, dass sie auch der Mutter nicht gefiel, aber das war letztendlich egal.
»Verpiss dich, Arschgesicht!«, ertönte Hugos nicht mehr so geschwächte Stimme. Darek legte einen Schritt zu. Er kannte die Verbissenheit und die sich schnell wieder aufladenden Batterien von Hugo nur zu gut. Einmal, als sie sich hinter der Eisenbahnstrecke geprügelt hatten, war Hugo im Finale, kurz vor Dareks Sieg, mit solcher Wucht auf ihn gesprungen, dass sie beide auf den Kies des Bahndamms rollten. Hugo brach sich dabei den kleinen Finger und Dareks Handy war platt gedrückt. Nein, nach einer weiteren Kampfrunde sehnte er sich definitiv nicht. Außerdem war es höchste Zeit, Ema abzuholen. In ein paar Minuten würde sie vor der Schule stehen, den Hals recken und abwechselnd nach rechts und links schauen - wie ein Huhn, das nach Körnern Ausschau hält. Sie war Hugo und anderen Kindern eine Quelle unerschöpflicher Belustigung.
»Put ... put ... put ... put!«, riefen sie ihr zu und äfften ihre ruckartigen Bewegungen nach. »Sieh da, ein Regenwurm, pick ihn, schnell!« Jedes Mal, wenn Darek das Hohngelächter hörte, stritten zwei Gefühle in ihm. Mach sie platt! Vermöbel sie! Polier ihnen die Fresse!, empfahl die erste wilde Regung. Das andere Gefühl kam langsamer. Es bestand aus Müdigkeit und Missmut und enthielt auch Zorn auf Ema. Als ob sie nicht imstande wäre, einfach ruhig dort zu stehen und auf ihn zu warten! Oder den Weg nach Hause allein zu meistern! Als Darek acht Jahre alt war, ging er überall allein hin und niemand wunderte sich darüber. Doch Ema war nicht wie er, sie ähnelte keinem Menschen, den er kannte. Sie war anders und er musste sich damit abfinden. Er musste sie lieb haben, wie sie war - hatte die Mutter gesagt. Nie hatte Darek mit ihr darüber diskutiert, aber oft überlegte er, ob man Liebhaben anordnen konnte. »Lauf doch zu deiner bescheuerten Schwester, damit sie nicht von einem Dreirad überfahren wird!«, grölte Hugo hinter ihm her. Dann kam ein Stein geflogen, er verfehlte jedoch sein Ziel. Hugo war ein schwerer Brocken, aber zielen konnte er nicht, deswegen wurde er beim Fußball immer ins Tor gestellt. Darek hörte auf, sich umzublicken, und rannte Richtung Grafenschule los, deren abgeblätterter Schornstein hinter dem Hügel hervorschaute. Die Dachrinne war angerostet, der Putz bröcklig und auch sonst strahlte das Gebäude nur wenig Aristokratisches aus, aber es befand sich an der Stelle des ehemaligen Grafenhofs. Obwohl kaum jemand in Piosek sagen konnte, um welchen Grafen es sich eigentlich handelte und wo er sein Ende gefunden hatte, bemühte sich niemand um einen aktuelleren Namen für die Schule. Es war eine Grundschule; die älteren Schüler gingen in ein anderes Gebäude am Rand des Dorfes. Darek war diese Aufteilung nur recht. So war er wenigstens vormittags Ema los, musste ihr nicht in den Gängen begegnen und mit ihr die Pausen auf demselben Schulhof verbringen. Manchmal gelang es ihm, sie ganz zu vergessen. In solchen Momenten fühlte er sich leicht und sorglos. Er kickte oder schwang sich übers Klettergerüst und wetteiferte mit den anderen, wer die Hängebrücke kräftiger zum Schaukeln brachte. Aber wenn er sich mitten im Spiel an seine Schwester erinnerte, blieb ihm das Lachen im Hals stecken und er schaute sofort auf die Uhr, getrieben von der Furcht, zu spät zu kommen und dass Ema seinetwegen etwas zustoßen könnte.
Diese Furcht verfolgte Darek überallhin, wie ein lästiger Hund, der sich nicht wegjagen ließ. Wie er es vermutet hatte, wartete sie schon auf ihn. Sobald er um die nächste Ecke bog, tauchte Ema vor ihm auf. Sie stand ans Geländer gelehnt und sprach mit ihrer Klassenlehrerin, Frau Paterova. Darek verspürte Erleichterung. Die Anwesenheit eines Erwachsenen schüchterte die Spötter meistens ein. Sie trieben ihren Spaß gerne ungestört. So wie Hugo. Auf seinen Auftritt heute Morgen hatte er sich bestimmt schon zu Hause vorbereitet. Mit einer Schere in der Jackentasche hatte er sich im morgendlichen Tumult am Grundschultor unauffällig Ema genähert. »Es ist höchste Zeit, dir die Hörner zu stutzen«, hatte er verkündet. Bevor Darek verstand, was geschah, hob Hugo die Hand, in der er die Schere hielt, und schnitt Ema eine dicke Haarsträhne ab. Er lächelte dabei und Ema lächelte zurück, denn sie konnte sich nicht so schnell zusammenreimen, was passierte. Sie ahnte nicht, dass auf ihrem Kopf ein hässliches Gestrüpp entstanden war, das sie zur Zielscheibe noch blöderer Sprüche machen würde. Sie lächelte, weil ein Lächeln ihr spontanster Ausdruck war. Auch jetzt lag es auf ihrem Gesicht. Sie hielt die Ranzengurte mit beiden Händen fest, schaute strahlend zur Lehrerin hoch und nickte immer wieder. Dabei bewegte sich ihr schief geschnittenes Haar auf und ab wie eine rote Bürste. »Hallo!«, rief sie, als sie Darek erblickte. Sie lief ihm entgegen und umarmte ihn. »Was hast du mir mitgebracht?« Jedes Mal fragte sie ihn, was er ihr mitbrachte. Sie dachte bestimmt, dass Darek nichts Besseres zu tun hatte, als sich nach Geschenken für sie umzusehen. »Guten Tag«, grüßte Darek zuerst die Lehrerin. (»Vergiss nicht, anständig zu grüßen«, war eine von Mutters häufigsten Anweisungen gewesen, verkörpert durch einen der ältesten Knoten, die Darek je gemacht und später wieder gelöst hatte, weil ihm sowohl das Grüßen als auch das Einkaufen für Herrn Havlik inzwischen zur festen Angewohnheit geworden war.) Er griff in seine Hosentasche. Vorhin hatte sich eine Praline von Mischa dort befunden, jetzt konnte Darek leider nur noch ein Stück Kiefernrinde ertasten. Die Praline war weg. Er hatte sie wahrscheinlich am Friedhof bei der Schlägerei verloren. Statt der Praline reichte er Ema die Rinde.
»Da, nimm!«
»Was ist das?« »Ein Boot.« Sie drehte die Rinde misstrauisch zwischen den Fingern.
»Wo denn?« »Drinnen.«
»Dann hol es raus.« »Erst zu Hause.«
»Warum?«
Darek wollte gerade antworten, dass er ein Messer brauchte, um das Boot aus der Rinde herauszuholen, als ihm Frau Paterova die Hand auf die Schulter legte. »Wir haben heute Morgen heftig geweint«, flüsterte sie voller Mitleid in sein Ohr. Wenn sie über Ema redete, hatte sie immer eine sanfte, leicht betrübte Stimme und verwendete die erste Person Plural. Beides war Darek höchst unangenehm. »Weswegen?«, fragte er gereizt. Die Lehrerin berührte flüchtig ihren Scheitel, zog aber die Hand sofort wieder zurück, um Ema nicht an das abgeschnittene Haar zu erinnern - denn das war die Ursache für das morgendliche Weinen gewesen.
»Das wächst ja bald nach«, versicherte Darek betont sorglos. Paterovas Mitleid ging ihm auf die Nerven. Sie war lieb, wenigstens hatte es die Mutter behauptet. Trotz Emas »Problem« hatte sie sie in ihre Klasse aufgenommen und Darek wusste, dass sie seiner Schwester viel mehr Zeit als anderen Kindern widmete. Dennoch störte ihn etwas im Verhalten der Lehrerin. Sie unterschätzte Ema. Sie verlangte Sachen von ihr, die auch ein Schimpanse schaffen würde. Sie dachte das, was jeder in Piosek dachte: dass Ema debil war. Die Lehrerin würde dieses Wort niemals in den Mund nehmen, weil sie es für beleidigend hielt, doch ihre übertriebene Nachsicht beleidigte genauso. »Heute haben wir im Unterricht ein Märchen gelesen«, erzählte sie Darek, schaute aber gleichzeitig Ema an.
»Über eine Hexe, stimmt's? Kannst du dich erinnern, was sie gemacht hat?«
»Sie hat die Prinzessin verhext«, antwortete Ema nach kurzem Überlegen. »Und wie ging es weiter?«
»Nirgendwie.«
»Weil wir es nicht zu Ende gelesen haben. Weißt du noch, was ihr als Hausaufgabe aufbekommen habt?«
Die Lehrerin blickte Ema ermutigend an und Ema presste ihre Faust gegen die Stirn. Das machte sie immer, wenn sie sich bemühte, aus ihrem Gedächtnis etwas auszugraben. »Wir sollen uns selbst einen Schluss ausdenken!« Sie lächelte, glücklich darüber, dass sie sich erinnert hatte. Die Lehrerin nickte. »Ja, ihr sollt einen passenden Schluss schreiben. Wenige Sätze genügen«, fügte sie hinzu. »Und wenn es für dich zu schwierig ist, mal einfach ein hübsches Bild zu der Geschichte.« Sie hob den Korb mit den Heften zum Korrigieren auf, öffnete die Tür ihres Wagens und winkte zum Abschied. »Tschüs, und schönen Nachmittag noch!« »Auf Wiedersehen«, erwiderte Darek nur und packte Ema, die der Lehrerin nachlaufen wollte. Immer spielte sich das gleiche Drama ab: Ema weigerte sich, sich von den Menschen, die sie mochte, zu trennen. Sie fasste sie an der Hand, am Arm, um die Taille, hielt sich an Jackenzipfeln oder Ärmeln fest, quengelte und versuchte alles, um sie aufzuhalten. Auch jetzt zappelte sie so lange in Dareks Umklammerung, bis der Wagen mit der Lehrerin hinter der nächsten Kurve verschwunden war. Erst dann beruhigte sie sich und begann wieder das Stück Kiefernrinde in ihrer Hand nach dem darin versteckten Boot zu untersuchen.
»Wo ist es?«
»Da drin.«
Darek hatte keine Lust, mit Ema zu plaudern, er wollte weiter über seine eigenen Dinge nachdenken. Doch das gelang ihm in Anwesenheit seiner Schwester selten. Sie ließ sich nicht abwimmeln. »Wo genau?«, drängte sie.
»Zeig mal!«
»Hier ist der Bug«, sagte er und zeigte auf den spitzen Vorsprung der Rinde.
»Was ist ein Bug?«
»Das Vorderteil.«
»Und wo ist das Hinterteil?«
»Hier!«, sagte er und gab ihr einen Klaps auf den Po. Sie holte zum Gegenschlag aus, aber er rannte voraus. Sie lief auf ihre unbeholfene Art hinter ihm her. Der Schulranzen hüpfte auf ihrem Rücken und sie schlackerte mit den Armen hin und her. Nicht mal normal laufen kann sie! Sie hopst ja wie eine Krähe! Fehlt nur noch, dass sie krächzt, dachte er verdrossen und blieb stehen, um auf sie zu warten. Sie befanden sich ein Stück vom Laden entfernt, dem lebhaftesten Platz des Dorfes, und Darek wollte keine unnötige Aufmerksamkeit wecken. Er wusste, dass die umherstehenden Nachbarinnen am Ladeneingang die Hauptstraße und jeden, der dort entlangkam, im Visier hatten. Sie würden sowieso schon Emas neuen, struppigen Haarschnitt und Dareks zerrissenen Pullover bemerken und ihren Kommentar dazu abgeben. Am besten liefen sie schnell an ihnen vorbei, entschied er. Außerdem entdeckte er hinten auf dem Ringel- weg Hanka. Über den Lenker gebeugt, kam sie vom Bahnhof geradelt und näherte sich der Kreuzung. Sie sah Darek noch nicht. Dies gab ihm Gelegenheit, sich die Haare in die Augen zu streichen und die gelangweilte Miene aufzusetzten, die er zu Hause vor dem Spiegel eingeübt hatte. Er wusste, dass ihn das älter aussehen ließ. Vor Hanka wollte er möglichst erwachsen wirken. Ema blieb bei der Magnum-Werbung stehen. »Kaufst du mir ein Eis?«, fragte sie. Das Eis auf dem Werbefoto war auf die Maße eines Paddels vergrößert und der glänzende Schokoüberzug, auf dem Wassertropfen perlten, verführte zum Anbeißen. Es kam aber nicht infrage, dass man etwas derart Kostbares so einfach bekam. Noch dazu mitten in der Woche. Allerhöchstens als Belohnung für einen gut geschriebenen Abschlussaufsatz oder als Extraprämie vom Trainer für eine würdige Platzierung beim Jugendpokalkampf.
»Weißt du, was das kostet?«, antwortete Darek mit einer Gegenfrage.
»Wie viel denn?«
»Eine Stange Geld. Komm, wir gehen!«
Er fasste die Schwester an der Hand, doch sie riss sich los, stützte sich mit beiden Händen an der Werbetafel ab und öffnete den Mund. Es sah so aus, als wollte sie das Eis vom Foto weglecken.
»M - a - g - u - m«, buchstabierte sie langsam. »Kaufst du mir ein Magum?«
»Du hast das N ausgelassen. Es heißt nicht Magum, sondern Magnum «, verbesserte er sie und fügte mit einem erzieherischen Ton hinzu: »Wir haben noch nicht zu Mittag gegessen. Verkneif dir also das Eis.«
»Ich will kein Mittagessen, ich will ein Eis«, erwiderte Ema. »Dieses da!«
»Was ›ich‹ nicht alles will!«, schnauzte er sie an. Und um endlich weiterzukommen, schubste er sie leicht. Sie klammerte sich an der Werbetafel fest. Darek spürte, wie das Blut in seinen Kopf schoss. Er war drauf und dran, die Schwester anzuschreien, sie zu schütteln und mit Gewalt wegzuschleppen. Aber gerade das durfte er auf keinen Fall tun. Das wäre das Schlimmste überhaupt. Er musste einen anderen Weg finden. Am besten war es, sie zu beschummeln. Sie abzulenken, damit sie das Eis vergaß.
»Guck mal!«, rief er plötzlich »Hast du's gesehen?«
»Was?«
»Da drüben!«
Ema wandte sich um und heftete ihren Blick auf den Punkt, auf den er zeigte. Es war aber nichts zu sehen.
»Siehst du?«, fragte er und nahm sie bei der Hand. Diesmal riss sie sich nicht los.
»Was denn?«, hauchte sie mit einem angespanntem Gesichtsausdruck. »Wir müssen näher hingehen«, sagte er und fühlte sich mies, wie immer, wenn er die Schwester betrog. Es war so einfach, sie an der Nase herumzuführen... Gerade das machte ihm ein schlechtes Gewissen. Aber es war die sicherste Methode, ihr Weinen und Schreien zu beenden.
»Siehst du sie?«
»Wen? Wo? Was?«, wiederholte Ema und ließ sich Schritt für Schritt vom Rieseneis wegführen.
»Wer ist dort?«
»Sie hat sich eben hinter dem Baum versteckt«, fuhr Darek fort, ohne die leiseste Ahnung zu haben, wovon er eigentlich sprach. »Eine Katze?«
Er nickte erleichtert. Eine Katze war gut.
»Welche Farbe hat sie?«
»Lauf doch und sieh nach!« Nun brauchte er Ema nicht mehr hinter sich herzuziehen, sie rannte von allein zur großen Pappel am oberen Ende der Hauptstraße. Dahinter war nur noch die Kneipe. Sie lag an der Kreuzung, von der rechts ein Weg hinunter zum Bahnhof und eine schmale Straße durch die Wiesen zu ihrem Bauernhof hinaufführte. Man nannte den Hof immer noch die Genossenschaft, auch wenn an die kollektive Landwirtschaft nur noch die Aufschrift LPG FORTSCHRITT über dem herausgefallenen Tor des Kuhstalls erinnerte. Jeden Tag blickte Darek darauf, aus dem Fenster seines Dachzimmers. Die Buchstaben waren durch Sonne und Regen verblichen und fast nicht mehr zu entziffern. Man konnte stattdessen auch MORDSCHNITT, FURZSCHLIFF, BORDCHRIST oder sogar HORTZUDRITT lesen. Es klang verwirrend und geheimnisvoll, wie die Sprache einer vergangenen Zivilisation.
»Hi, Darek!« Hankas Stimme ertönte in unmittelbarer Nähe und verursachte ein leichtes, angenehmes Frösteln bei ihm. Er drehte sich um.
»Hallo, Hanka.« Seine vorbereitete gleichgültige Miene zerfiel schnell unter der Wirkung ihres Blickes. Die schwärzesten Augen weit und breit, Erbgut der Familie Bulis. Die Augen ihres Bruders Mischa waren auch sehr dunkel, aber ziemlich klein, sodass die Farbe nicht wirklich auffiel. Hankas Pupillen waren groß und uferlos. Man konnte sie nicht im Ganzen erfassen, denn früher oder später musste man ihrem Blick ausweichen, sonst würde etwas passieren. Darek war nicht klar, was passieren würde, er hatte es noch nicht ausprobiert.
»Bist du heute Nachmittag zu Hause?«, fragte sie und nahm den Fuß vom Fahrradpedal herunter.
»Keine Ahnung.« Er bemühte sich um die Wiederherstellung des gelangweilten Gesichtsausdrucks.
»Warum?«
»Ich soll einen Stromkreis bauen. Für den Physikunterricht.«
»Herzlichen Glückwunsch!«
»Allein schaffe ich es nicht.«
© S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Iva Procházková
Procházková, IvaIva Procházková, geboren 1953 in Tschechien, lebte zehn Jahre lang mit ihrer Familie in Deutschland und kehrte danach wieder nach Prag zurück. Seit vielen Jahren schreibt sie für Kinder und Jugendliche. Ihre Romane wurden für die Hans-Christian-Andersen-Medaille und den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis nominiert und mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, dem Evangelischen Buchpreis sowie dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.Literaturpreise:'Wir treffen uns ...': Empfehlungsliste des Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises 2008 'Die Nackten': Empfehlungsliste des Evangelischen Buchpreises 2010 Orangentage<: LUCHS (ZEIT und Radio Bremen), April
Bibliographische Angaben
- Autor: Iva Procházková
- Altersempfehlung: Ab 12 Jahre
- 2014, 240 Seiten, Maße: 12,6 x 19,3 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Fischer Sauerländer Verlag
- ISBN-10: 3733500024
- ISBN-13: 9783733500023
- Erscheinungsdatum: 21.05.2014
Rezension zu „Orangentage “
Der Autorin ist damit ein wunderbares Buch über das Erwachsenwerden und Über-sich-Hinauswachsen gelungen. Sofatutor-Magazin Eltern, 25. Juli 2015
Pressezitat
Der Autorin ist damit ein wunderbares Buch über das Erwachsenwerden und Über-sich-Hinauswachsen gelungen. Sofatutor-Magazin Eltern, 25. Juli 2015
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