Orson Welles
Orson Welles von Bert Rebhandl
LESEPROBE
Vorwort
"Er stößt mich ab. Aber ich bete ihn an." Mit diesenWorten beschreibt ein neuseeländischer Teenager in den fünfziger Jahren ihreersten Eindrücke von Orson Welles. Pauline hat gerade "The Third Man"gesehen, den Schwarzweißfilm aus dem befreiten Wien, in dem Welles einenschattenhaften Schieber names Harry Lime spielte. Auf dem Heimweg gemeinsam mitJuliet, der besten Freundin, spukt dieser Mann noch nach. Er lauert hinterjeder Ecke und tritt plötzlich aus dem Schatten. Über Gebühr regt er diePhantasie der beiden Mädchen an, die in Peter Jacksons Thriller "HeavenlyCreatures"1 schließlich einen grausamen Mord begehen.
In der Rolle des Harry Lime wurde Orson Welles zu einem Weltstar.Zwar reichte seine Bekanntheit zurück in das Jahr 1938, als er mit demScience-Fiction-Hörspiel "The War of the Worlds" eine nationale Panikin den USA bewirkt hatte. Der Film "Citizen Kane", mit dem er 1941als Regisseur in Hollywood debütiert hatte, galt als genial, wurde aber erstspäter in seiner ganzen Bedeutung erkannt. Das Engagement als Schauspieler inder europäischen Produktion "The Third Man" (1949) bedeutete fürWelles - den Theatermacher, die Radiostimme, den Filmregisseur - bereits dievierte Karriere. Während die Öffentlichkeit ihn auf dem Höhepunkt wähnte, saher sich schon im Niedergang. 1949 war er 34 Jahre alt.
Das kleine Stück Rezeptionsgeschichte aus Neuseeland istaufschlußreich, weil es zeigt, daß Orson Welles als Schauspieler nicht einfachdurch Präsenz gefiel. Vielmehr entzog er sich, machte sich rätselhaft, triebein doppeltes Spiel. Er ist in "The Third Man" nur selten selbst imBild, die meiste Zeit wird über ihn gesprochen. Umso eindrucksvoller sind dieMomente, in denen das Licht auf sein weiches Jungengesicht fällt, bevor er sichwieder in die Unterwelt der Wiener Kanalisation zurückzieht. Die Mädchenreagieren darauf so wie später auch viele Biographen: Sie sind fasziniert,verspüren aber Widerstand. Sie wollen einen Schlußstrich ziehen, er sucht sieaber weiter heim. Sie hassen und genießen ihre Ambivalenz.
Das ist das Muster der Auseinandersetzung mit Welles. MarleneDietrich bleibt eine Ausnahme, wenn sie sagt, er "machte es einem leicht,ihn zu lieben". In Wahrheit ist es schwer, Welles einfach zu mögen. Es warimmer leichter, ihn zu bewundern. Seine Prominenz hat häufig seine Talenteüberschattet. Aber dieser Ruhm war selbst zwiespältig. Die Faszinationskraftvon Welles war gebrochen durch Hybris. Sein Selbstbewußtsein war manchmal einfachTrotz. Er hatte ein Bild von sich, dem er nachlebte, während es öffentlichzerfiel. "Ich bekam das Wort Genie in die Ohren geflüstert, als ich nochin der Wiege lag. Daß ich keines war, fiel mir deswegen erst in meinenmittleren Jahren auf", sagte er als alter Mann über sich selbst.
Stars leben immer im Imaginären. Ihre Affären, ihre Diäten, ihreSchulden sind Teil der öffentlichen Person. Orson Welles war mehr als ein Star.Er lebte dem 20. Jahrhundert eine paradigmatische Künstlerexistenz vor. Er warein Gesellschaftskritiker, der die Nähe der Macht suchte, und ein Manipulator,der seine Methoden immer offenlegte. Weil er auch ein Verführer war, gab ersich mit Vorliebe mysteriös. Deswegen gibt es Skandalbiographien über ihn, aberauch intellektuelle Annäherungen. Philosophen und Voyeure haben über OrsonWelles geschrieben, gute Freunde und unerwartete Feinde. Es existieren,vorwiegend in englischer und französischer Sprache, so viele Bücher über ihn,daß jedes weitere sein eigenes "Rosebud" braucht - einen vergessenenSchlüsselbegriff, einen neuen Forschungsansatz, einen übersehenen Zeitzeugen,ein rekonstruiertes Stück Film.
Dieses Buch ist keine Forschungsarbeit. Es beruht nicht aufAusgrabungen in den Archiven, sondern auf dem Material, das von und über OrsonWelles zugänglich ist: seinen Filmen, seinen Fernseharbeiten, seinen Texten,seinen Fragmenten, seinen Kuriosa. Die Biographie ist eher eine Spur. Sie läßtsich aus dem Werk nur bedingt erschließen, umgekehrt läßt sich die Kunst vonWelles nicht einfach auf das Drama eines begabten Kindes reduzieren. Er warvielleicht ein Genie, aber er arbeitete in einer Industrie; er war tatsächlichein Renaissancemensch, aber seine Epoche war ein technisches Zeitalter. DieseWidersprüche versuchte er zu vermitteln, und er geriet dabei immer stärker insAbseits. Die Geschichten, die er selbst über sein Leben erzählte, wurden imfortgeschrittenen Alter zu anekdotischen Rechtfertigungen für ein Werk, daswährend seiner europäischen Jahre zunehmend in Projekte zerfiel. Das späteMeisterwerk ist nicht zustandegekommen. Über diese Tatsache wurde vielspekuliert, und Welles hat selbst vielfache Gründe für seine"Zerstörung" geltend gemacht. Die Biographen haben ihm dabei entwederzu viel oder zu wenig geglaubt. Sie haben manchmal auch ganz einfach versäumt,genau hinzuhören: Welles war ein aufschlußreicher Sprecher. Seine Sätze sindnicht einfach Aussagen, sie sind selbst Material und enthalten viel Unbewußtes.
Drei Linien durchziehen dieses Buch: eine kulturkritische, die vonder Frage ausgeht, wie sich eine künstlerische Subjektivität in medialenZusammenhängen behaupten kann, deren Produktionszwänge häufig übermächtig sind;eine medienhistorische, die Orson Welles bei seiner Passage durch verschiedene(überwiegend technische) Ausdrucksformen des 20. Jahrhunderts beobachtet:Theater, Radio, Kino, Fernsehen, Show, Zauberei, Alleinunterhaltung, Werbung;und schließlich eine autobiographische Spur, die in nahezu allen Werken undÄußerungen von Orson Welles eine Auseinandersetzung mit seinerFamiliengeschichte und einer ihm eigenen multiplen Persönlichkeit findet. Ausdiesen drei Linien wird sich ein Bild von Orson Welles ergeben, das nicht aufWahrheit zielt, sondern auf Interpretation. Die Fragen nach dem Genie oder den Neurosen,wie sie von Anhängern und Gegnern immer rhetorisch gestellt werden, umentsprechende Vorurteile als Antworten ausgeben zu können, spielen nur am Randeeine Rolle. Das Buch ist aus den Quellen gearbeitet, das heißt heute in ersterLinie: aus den Speichermedien, auf denen das Werk kursiert; und aus der enormenLiteratur, deren häufig widersprüchliche Darstellungen in faktischenAngelegenheiten nicht an Dokumenten überprüft werden konnten (dies würde einemehrjährige Weltreise durch Archive von München bis Indiana erfordern), sondernnach dem Prinzip der größeren Plausibilität verwendet werden. Die Werke und dieLiteratur über Welles werden, vor allem bei den im engeren Sinn biographischenFragen, nach Möglichkeit so dargestellt, daß verschiedene Lesarten denkbarbleiben. Welles, der Zauderer aus dem Geist Hamlets, und Welles, das Opfer derUnterhaltungsindustrie, sind Facetten derselben Persönlichkeit. Die Darstellungist ein Ansatz. Sie gewinnt ihre Plausibilität - so hoffe ich - während derLektüre.
© Zsolnay Verlag
Bert Rebhandl, geboren 1964 in Oberösterreich, ist einer der profiliertesten deutschsprachigen Filmkritiker. Er schreibt vor allem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Standard. Bücher über Orson Welles, den Western (als Herausgeber), die Fernsehserie Seinfeld und Der dritte Mann. Die Neuentdeckung eines Filmklassikers. Er lebt in Berlin.
- Autor: Bert Rebhandl
- 2005, 190 Seiten, Maße: 14,6 x 22,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Paul Zsolnay Verlag
- ISBN-10: 3552053417
- ISBN-13: 9783552053410
- Erscheinungsdatum: 27.05.2005
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Orson Welles".
Kommentar verfassen