Ou Topos
Die Suche nach dem Ort, den es noch nicht gibt
Utopia, von griechisch Ou topos - der Ort, den es (noch) nicht gibt, den es aber geben müsste?
Das Glück auf der Erde zu finden ist der Wunsch der meisten Menschen. Aber was Einzelnen gelingt, nämlich ihr Glück zu finden in der Liebe oder durch...
Das Glück auf der Erde zu finden ist der Wunsch der meisten Menschen. Aber was Einzelnen gelingt, nämlich ihr Glück zu finden in der Liebe oder durch...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ou Topos “
Klappentext zu „Ou Topos “
Utopia, von griechisch Ou topos - der Ort, den es (noch) nicht gibt, den es aber geben müsste?Das Glück auf der Erde zu finden ist der Wunsch der meisten Menschen. Aber was Einzelnen gelingt, nämlich ihr Glück zu finden in der Liebe oder durch Entsagung, scheint für die ganze Menschheit unerreichbar zu sein.Alle Versuche sind gescheitert - von Spartakus über die römische Inquisition bis hin zu Kapitalismus und Kommunismus. Niemandem gelang es bisher, den immerwährenden Platz an der Sonne, das Elysium, zu garantieren, auch nicht Religionen, esoterischen Heilslehren und Ideologien. Viele haben daher das Paradies ins Jenseits verschoben; haben sie die Menschen in Glück und Unglück allein gelassen? In seinem faszinierenden Buch - gleichermaßen Essay wie Autobiographie - erweist sich Heiner Geißler als einer der aufregendsten Denker im heutigen Deutschland. Gestützt auf grundlegende Einsichten von Philosophie, Theologie und Geschichte und auf eigene Erfahrungen, beschreibt er die Wege und die Suche nach einer vollendeten Welt, auch in Wirtschaft und Politik, erzählt, wovon er und andere träumen, und schildert ihre Chancen für ein glücklicheres und besseres Leben.
Heiner Geißler über die Suche nach dem Glück: wonach sich Menschen sehnen, denn viele haben das Paradies ins Jenseits verschoben; haben sie die Menschen in Glück und Unglück allein gelassen? In seinem faszinierenden Buch - gleichermaßen Essay wie Autobiographie - erweist sich Heiner Geißler als einer der aufregendsten Denker im heutigen Deutschland.
Lese-Probe zu „Ou Topos “
Ou Topos von Heiner GeißlerEinleitung
Der Gedanke, über realisierbare Utopien in der heutigen Zeit nachzudenken und zu schreiben, kam mir bei der Erarbeitung eines Nachworts zu einer Neuedition des Buches »Utopia« von Thomas Morus (erschienen bei Weltbild).
Seit Sir Thomas More, lateinisch Thomas Morus, das Buch »Utopia«, in dem er das ideale Staatswesen einer Inselrepublik beschreibt, im Jahr 1516 veröffentlicht hat, ist das Wort »Utopie« zu einem der wichtigsten, aber auch umstrittensten Begriffe der Staatsphilosophie, ja, des intellektuellen Diskurses überhaupt geworden. Hergeleitet vom Griechischen »ou topos« – eigentlich: Ort, den es nicht gibt –, wird man »Utopia« wohl richtiger übersetzen als »Ort, den es noch nicht gibt«, sogar als »Ort, den es eigentlich geben müßte« – so leidenschaftlich und überzeugend wird in dem Buch die Frage beantwortet: Wie könnte und müßte ein friedliches, gerechtes, geordnetes, freiheitliches, korruptions- und privilegienfreies Gemeinwesen aussehen? Diese Frage ist auch heute noch aktuell.
Bei der Lektüre begegnen wir unglaublichen, geradezu phantastischen Vorstellungen, aber auch Ideen, die punktgenau in die heutige Zeit passen. Ernst Bloch glaubte, die Inselrepublik Utopia stelle ein Vorbild der christlichen Staatsräson dar. Das kann man bezweifeln, zumindest mit Blick auf den Katholizismus.
Zu den Tatsachen, die am meisten verwundern, gehört zunächst, daß Thomas Morus angesichts des Inhalts von »Utopia« nicht von der Inquisition behelligt wurde, also der Vorgängerinstitution der Kongregation für Glaubenslehre, deren Präfekt lange Jahre Kardinal Joseph Ratzinger war, wohingegen zum Beispiel ein ähnlich revolutionärer Geist der damaligen Zeit, Ignatius von
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Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, gleich achtmal in den Inquisitionskellern landete. Das mag damit zusammenhängen, daß Thomas Morus, der 1478 in London geboren wurde, als höchster Beamter des englischen Königreichs, als Richter, Parlamentarier und Diplomat für die Inquisition unerreichbar war, zumal sie im Norden Europas eine weitaus geringere Rolle spielte als in südlichen Ländern.
Thomas Morus war eher ein Rebell als ein botmäßiger Staatsdiener. Bereits 1504, mit 26 Jahren, wird er Mitglied des Unterhauses. Den Höhepunkt seiner Laufbahn erlebt er mit 51 Jahren als Lordkanzler und erster Staatsmann des englischen Reichs. Er wäre der Nachwelt vielleicht nur als bedeutender Staatsmann und vorausschauender Philosoph mit seinem Werk »Utopia« in Erinnerung geblieben, wäre es nicht zum entscheidenden Konflikt mit Heinrich VIII. gekommen, als der König von seinen Untertanen einen Eid auf die Anerkennung der königlichen Obergewalt über die Religion und damit über die Kirche Englands verlangte. Morus verweigert den Eid aus Gewissensgründen und wird des Hochverrats angeklagt.
Er starb, weil er von der Glaubens- und Gewissensfreiheit Gebrauch machte. Modern gesagt, wurde Thomas Morus Opfer einer totalitären Politik, weil er seinem Gewissen mehr gehorchte als seinem König. Am 6. Juli 1535 wurde er vor dem Tower von London enthauptet. Erst 400 Jahre später, im Jahr 1935, als der Nationalsozialismus einem erschrockenen Europa sein wahres Gesicht enthüllte, hat die katholische Kirche ihn heiliggesprochen. Daß es so lange dauerte, hängt ganz sicher mit dem Inhalt seines Buches zusammen.
Ernst Bloch nennt Thomas Morus »einen der edelsten Vorläufer des Kommunismus«. Dies ist – den Kommunismus ideal gesehen – nicht ganz falsch. Aber sicher nicht in dem Sinn, daß Morus glaubte, die Menschheit sei besser als der Mensch und müsse deshalb auch gegen den Willen der Menschen gerettet werden. In »Utopia« gibt es diesen kollektivistischen Irrtum nicht. Die individuelle Entscheidung und Verantwortung waren für Thomas Morus im wahrsten Sinn des Wortes existentiell. Auch die Staatsbürger von Utopia anerkannten kein Jüngstes Gericht für Kollektive.
Das Buch »Utopia« ist ein für die damalige Zeit revolutionärer Gegenentwurf zu der Welt des 15. und 16. Jahrhunderts, aber wie man bei der Lektüre erkennt, schildert es in fast noch deutlicherer Weise die Gegenwelt zum von Geldgier, Leistungsstreß und Hektik deformierten modernen Leben. Die Inselbewohner haben eine bessere Welt, weil sie weitgehend von der Arbeitsfron befreit sind – was sich die Arbeiterbewegung erst 400 Jahre nach »Utopia« mühsam erkämpfen konnte und was vom heutigen Wirtschaftssystem wieder in Frage gestellt wird – nicht nur in den 900 »Zonas francas« von China bis Mittelamerika. Sechs Stunden Arbeit am Tag reichen aus, um alle notwendigen Bedürfnisse zu befriedigen und auch genügend Ressourcen für ein »angenehmes Leben« zu schaffen. Das sagen nicht nur ver.di und die IG Metall. »Ein angenehmes Leben« in der Familie, aber auch in einer im wesentlichen freien Gemeinschaft, in der alle Religionen Platz haben, auch die, »die die Sonne, den Mond oder die Planeten anbeten«, ist das Staatsziel in Utopia. »Das Eldorado der Glaubensfreiheit, um nicht zu sagen: das Pantheon aller guten Götter«, nennt Ernst Bloch diese Republik.
Utopia ist ein Staat der Toleranz. Das Projekt von Thomas Morus stellte sich damit in einen diametralen Gegensatz zur Lehre der katholischen Kirche und damals vor allem der Inquisition. In Utopia gehört es zu den ältesten Grundsätzen, daß keinem aus seiner religiösen Überzeugung ein Vorwurf gemacht werden darf. Jeder kann die ihm einleuchtende Religion haben. Er darf aber nur soweit versuchen, andere zu ihr zu bekehren, wie er sie ruhig und sachlich mit vernünftigen Gründen empfiehlt, aber nicht durch Verunglimpfung anderer Religionen oder Gewalt. Der Utopier hält es für eine Anmaßung und auch für eine Dummheit, mit Gewalt oder Drohungen zu verlangen, daß das, was einer für wahr hält, auch alle anderen für wahr halten müssen. Wenn aber tatsächlich nur eine Ansicht wahr und jede andere falsch sein sollte, so erwartet er, daß die Macht der Wahrheit sich von selbst durchsetzt. Mit Waffen und Gewalt kommt nur der einfältigste Aberglaube nach oben.
Die Magna Charta des Grundgesetzes ist in Utopia vorweggenommen: Verboten ist »mit aller Strenge, die Würde des Menschen preiszugeben«. Auch die Atheisten haben in Utopia nichts zu befürchten. Allerdings ist es ihnen nicht erlaubt, zugunsten des Atheismus zu disputieren und zu werben, denn ohne die Aussicht auf ein Jenseits und die Existenz Gottes sei die Ordnung unter den Menschen nicht zu garantieren.
Bei der Ausübung der Religion sind die Frauen nicht benachteiligt. Ihre Priester sind verheiratet und haben Kinder. Und es gibt – in den Begriffen des katholischen Kirchenrechts – die Frauenordination, also auch Priesterinnen. Die Priester sind vor allem für das Beten und das Durchsetzen des Friedens da. Sie bitten nicht um den Sieg der eigenen Leute, sondern um einen für Freund und Feind unblutigen Frieden. Sie weihen keine Waffen.
In den Konzentrationslagern, Folterkammern und Gefängnissen unseres Jahrhunderts hat sich Morus‘ Schicksal unzählige Male wiederholt. Was hat Morus, einen Weltmann, dazu bewogen, alles aufzugeben im Kampf zwischen Gewissen und totalitärem Herrschaftsanspruch und zu einem Blutzeugen für die Gewissensfreiheit zu werden? Was hat ihn dazu bewogen, sich nicht den Dingen dieser Welt hinzugeben, obwohl er sie hatte, sondern seine innere Distanz und Freiheit zu bewahren?
So, wie Thomas Morus Auffassungen anderer tolerierte, so forderte er Toleranz für sich. Es mochten, so sagte er, andere Männer des Reiches in den strittigen Fragen zu anderen Auffassungen kommen, doch entscheidend für das Heil der Seele sei, daß Entscheidungen nicht der Obrigkeit, sondern dem Gewissen folgten: »Ich will Gott danken für die Klarheit und das Vertrauen, das er mir über mein Gewissen gab. Aber ich bete auch für alle, die nicht meiner Meinung sind.« Noch auf dem Schafott rief Morus aus: »Ich bin des Königs treuer Diener, aber zuerst Diener Gottes.« (Auf dem Höhepunkt des wilhelminischen Nationalismus 1912 sagte Hermann Hesse, sozusagen eine philosophische Stufe niedriger: »Ich bin gerne Patriot, aber vorher Mensch, und wo beides nicht zusammengeht, gebe ich immer dem Menschen recht.«)
In Utopia sind die wichtigsten Fragen des Staats geregelt: die Erziehung der Kinder, das Zusammenleben, einschließlich des gemeinsamen Essens, was jedoch privates Essen nicht verbietet, das Gesundheitswesen, in dessen Mittelpunkt der Kranke steht, das sorgenfreie Leben der Alten. Für die damalige Zeit völlig ungewöhnlich sind Vorschriften des Umweltschutzes. Es gibt ökologische Regeln, zum Beispiel daß Schlachthäuser vor der Stadt gebaut und Blut und Kot im fließenden Wasser weggespült werden müssen. Nur die sauberen und ausgenommenen Tiere gelangen in die Innenstädte; nicht nur wegen der Gefahr, daß »die Menschen das Erbarmen mit der Kreatur und das Gefühl unserer Natur verlieren«, sondern »außerdem wollen die Utopier nichts Unsauberes und Unreines in die Stadt einführen lassen, weil faulende Stoffe die Luft verpesten und dadurch Krankheiten verursachen könnten«. Schwerkranken ist die Möglichkeit der Euthanasie gegeben, wenn die Schmerzen so groß sind, daß die Menschen sie nicht mehr aushalten können. Es gibt in Utopia eine kontinuierliche Diskussion über die geistigen Güter, die äußeren und inneren Werte. Die Utopier reden von der Tugend und von der Lust und liefern glänzende Plädoyers gegen die Todesstrafe. Sie definieren die Lust als ausschlaggebenden Faktor des menschlichen Glücks. Das Leben soll nicht freudlos oder jammervoll verbracht werden. Tugend ist die Lust auf das naturgemäße Leben, für das die Menschen von Gott angelegt sind. Derjenige lebt nach den Weisungen der Natur, der in allem, was er anstrebt oder zu vermeiden sucht, dem Rat der Vernunft folgt. Vernunft führt zur Religion und zur Anerkennung einer göttlichen Majestät. Ein angenehmes Leben, so sagen die Utopier, die Lust schreibt uns als den Zweck aller Handlungen die Natur selbst vor. Und wenn die Natur die Menschen einlädt, einander zu einem fröhlicheren Leben zu verhelfen, »heißt dich dieselbe Natur, darauf zu sehen, daß du nicht dadurch einen Vorteil wahrst, daß du einem anderen einen Nachteil zufügst«.
Lust nennt Utopia also jeden Zustand des Körpers oder der Seele, in dem zu leben ein Genuß ist und zu dem die Natur den Weg weist. Unechte Lust sind Eitelkeiten, die Einbildung, zum Adel zu gehören, weil man mehr Landgüter hat, die Sucht nach Juwelen und Edelsteinen und nach überflüssigem Besitz. Würfelspielen gehört zu den einfältigen Freuden so wie die Jagd, deren Ausübung die Utopier »als für die Freien entwürdigend« den Metzgern zuweisen. »Das Schauspiel, wie das Opfer vor den eigenen Augen zerfleischt wird, tut im Innersten weh. Man sieht, daß ein Hund ein Häslein, der Starke den Schwachen, der Brutale den Scheuen und Furchtsamen, der Grausame den Harmlosen zerreißt.« Sie betrachten die Jagd als die unterste Stufe der Metzgerei. »Im Schlachthaus werden die Tiere getötet, weil es nicht anders geht, der Jäger dagegen mordet und metzget sein armes Tierchen bloß um des Amüsements willen.«
Man ahnt, in welchen Wertekategorien »Big Brother« und die Horrorfilme unserer Fernsehanstalten landen würden. Die Aversionen gegen die Jäger sieht Erasmus von Rotterdam in seinem Brief an Ulrich von Hutten in dem Studium der »Formen, Gaben und Instinkte der verschiedenen Lebewesen« begründet. Erasmus über Morus: »Der hält sich daheim fast alle Arten von Vögeln und außerdem das, was es an weniger häufigen Tieren gibt, die Affen, Füchse, Marder, Wiesel und ähnliche; und taucht erst noch etwas Exotisches auf oder sonst etwas Seltsames, so kauft er es ohne Besinnen. Nun hat er von solchem Getier das Haus voll von oben bis unten.«
Ins Schleudern geraten die Utopier ein bißchen, wenn es um die Freuden des Körpers geht. Der Seele gehören die Freuden der Erkenntnis und der Betrachtung des Wahren und die feste Hoffnung auf das Glück im Jenseits. Die Vergnügen des Körpers teilen sich in zwei Arten. Die erste ist die, welche uns mit einem starken Wonnegefühl überrieselt. Dies stellt sich beim Essen und Trinken ein. Diese Lust verspürt man auch, wenn man den Darm entleert oder ein Kind zeugt oder einen juckenden Körperteil kratzt. Dies ist nun nicht gerade eine theologische Sublimierung des Sexuellen, sondern weist eher darauf hin, daß dieser Heilige der katholischen Kirche ein unverkrampftes Verhältnis zur Sexualität besaß.
In früher Jugend hatte er den Wunsch, Mönch zu werden. Es wurde nichts daraus. Erasmus von Rotterdam informiert Ulrich von Hutten in schöner Offenheit: »Thomas Morus konnte von der Sehnsucht nach einer Gattin nicht loskommen. Deswegen heiratete er eine blutjunge Tochter aus vornehmen Hause, die ein früher Tod hinwegraffte«, und fährt dann fort: »Ohne Frau aber hielt es Morus nicht lange aus. Er heiratete später eine Witwe.« Und: »Er lebte mit ihr in einer zärtlichen und vergnügten Ehe.«
Schönheit, Kraft, Lebendigkeit: diese erfreulichen Gaben der Natur finden bei den Utopiern begeisterte Verehrer. Und ihnen sind auch diejenigen Freuden willkommen, »welche sie durch Ohr, Auge, Nase einlassen und welch die Natur eigens dem Menschen vorbehalten hat«.
In anderen Gesellschaften außerhalb von Utopia gibt es nach Auffassung der Utopier keine Spur von Gerechtigkeit und Billigkeit. Denn wo bleibt die Gerechtigkeit, so fragen sie, wenn ein Adliger, ein Goldschmied, ein Wucherer oder sonst einer von denen, die entweder nichts oder nichts für das Gemeinwesen Nötige tun, herrlich leben und in Freuden in ihrer Untätigkeit oder unnützen Tätigkeit verharren, der Knecht aber, der Fuhrmann, der Bauarbeiter, der Bauer eine so schwere und so andauernde Arbeit leisten, wie sie kaum ein Zugtier aushält? »Die Gerechtigkeit ist so notwendig, weil ohne sie kein Staat auch nur ein Jahr lang bestehen könnte. Sie haben nur kümmerlich zu essen und führen ein so jämmerliches Leben, daß das Los der Arbeitstiere viel besser scheinen möchte. Tiere machen sich keine Sorgen um die Zukunft. Die Menschen aber seufzen unter der unergiebigen, unerträglichen Fron des Heute, und dazu quält sie jetzt noch der Gedanke an das kommende hilf- und mittellose Alter. Der tägliche Lohn ist ja zu gering, um für den gleichen Tag zu genügen, geschweige denn, daß etwas herausschaute und sich erübrigen ließe, was Tag um Tag zur Verwendung im Alter beiseite gelegt werden könnte.«
Die heutige Privatisierung der Grundrisiken des menschlichen Lebens liegt auf der gleichen Linie, und ihre Vertreter haben keine Lösung für diejenigen, die einen Kapitalstock gar nicht bilden können oder deren Kapitalstock pleite geht. Morus nennt das ein ungerechtes und undankbares Gemeinwesen, das Edelleuten und Goldschmieden – wir könnten heute sagen Börsenspekulanten – und ihren Schmeichlern und Handlangern – heute zum Beispiel manchen Wirtschaftsredakteuren und wirtschaftswissenschaftlichen Instituten – Einfluß verschafft, für Bauern aber, für Kohlenbrenner, Knechte, Fuhrleute, Bauarbeiter, ohne die es gar kein Gemeinwesen gäbe, »keinerlei freundliche Vorsorge trifft, sondern die Arbeitskraft ihrer besten Jahre ausnützt und, wenn diese alt und krank sind und völlig mittellos, kein Gedächtnis mehr hat für so viele Menschen und ihnen nichts bietet als den Tod im Elend«.
2,6 Milliarden Menschen haben heute pro Tag weniger zum Leben als den Gegenwert von zwei US-Dollar, das ist weniger, als die Amerikaner und Europäer für Hundefutter ausgeben. »Vom Taglohn der Armen«, so Morus, »zwacken die Reichen täglich noch etwas ab – nicht nur durch private betrügerische Manipulationen, sondern auch aufgrund staatlicher Gesetze.« Er nennt die Gemeinwesen außerhalb Utopias die reinste Verschwörung der Reichen, die unter dem Namen und Titel des Staats den eigenen Vorteil verfolgen.
Das Buch »Utopia« unterzieht die sozialen und ökonomischen Verhältnisse der damaligen Zeit einer unnachsichtigen Kritik. Die Edelleute werden als Faulenzer bezeichnet, die »wie die Drohnen von der Arbeit anderer leben«, indem sie »die Pächter auf ihren Gütern um der Steigerung ihrer Einkünfte willen bis aufs lebendige Fleisch schinden«. Muß man nicht sofort an die Oligopole und Monopole der heutigen Zeit denken, die, aus Marktbereinigungsgründen oder um die Kapitalrendite zu erhöhen, Zehntausende von Menschen auf die Straße setzen, wenn Thomas Morus schildert, wie wegen der Produktion der immer feineren und teureren Schafswolle immer mehr Land in Weiden verwandelt wird und den Bauern dazu ihre Äcker genommen werden? Alles Land wird zu Wiese und Weide gemacht, Gehöfte abgetragen und Dörfer zerstört, nur die Kirche darf als Stall für die Schafe stehenbleiben. Bauern ziehen von dannen, Männer, Frauen, Eheleute, Alleinstehende, Witwen, Eltern mit kleinen Kindern ziehen aus ihren vertrauten Heimstätten weg und finden nirgends Arbeit. Was sie sich ihr Leben lang erarbeitet haben, müssen sie – wie bei Hartz IV – für einen Spottpreis losschlagen. Vielen bleibt schließlich nichts anderes übrig als zu stehlen und zu rauben, um dann am Galgen zu enden. Die Bauern haben nichts mehr zu bestellen. Ein einziger Schafhirte, ein einziger Kuhhirte genügt ja, um das Vieh eine Fläche abweiden zu lassen, deren Bebauung und Bereitstellung für die Aussaat sonst immer viele Hände erfordert hatten.
Die Gesetze des Kapitalismus sind offensichtlich zeitlos. Morus spricht schon damals von Monopolen und Oligopolen. Gewerbe und Handel sind in der Regel in die Hände einiger weniger gefallen. Die Verteuerung des Lebens ist daran schuld, daß jeder möglichst viele Knechte entläßt – wohin, so fragt Morus, außer auf die Straße als Bettler oder, was einem unabhängigen Charakter eher zusagt, als Räuber?
Dem Entwurf von »Utopia« liegt die Erkenntnis zugrunde, »daß überall, wo es Privateigentum gibt und wo gleichzeitig jedermann alles nach dem Geldwert bemißt«, es in einem Staatswesen kaum gerecht zugehen und das Glück herrschen kann, es sei denn, man wäre der Ansicht, »dort gehe es gerecht zu, wo das Beste an die Schlechtesten kommt, oder dort herrsche das Glück, wo alles unter wenige verteilt wird und auch diese wenigen nicht in jeder Beziehung gut daran sind, die übrigen aber ganz schlecht«.
So wie damals Tausende von Bauern ihr Eigentum verloren und von ihren Feldern gejagt wurden, warten heute Hunderte Millionen von Menschen in Europa und in den Vereinigten Staaten auf den nächsten Schlag aus den Konzernzentralen der Finanz- und Großindustrie, der sie in die Arbeitslosigkeit und schließlich mit Hilfe der Politik auf die unterste Sprosse der sozialen Stufenleiter befördert.
Die Frage ist: Wo bleibt der Aufschrei der Kirchen, deren Heiliger Thomas Morus ist, und der politischen Parteien, und warum überlassen sie den notwendigen massiven Protest gegen diese neue Form der Ausbeutung Organisationen wie Attac oder Amnesty International und setzen sich nicht selbst an dessen Spitze?
Thomas Morus hätte nicht geschwiegen – der Mann, über den Erasmus noch zu dessen Lebzeiten sagte: »Es ist kaum leichter, Morus zu malen, als Alexander oder Achill; beide verdienen die Unsterblichkeit nicht mehr als unser Morus.«
© Kiepenheuer & Witsch
Thomas Morus war eher ein Rebell als ein botmäßiger Staatsdiener. Bereits 1504, mit 26 Jahren, wird er Mitglied des Unterhauses. Den Höhepunkt seiner Laufbahn erlebt er mit 51 Jahren als Lordkanzler und erster Staatsmann des englischen Reichs. Er wäre der Nachwelt vielleicht nur als bedeutender Staatsmann und vorausschauender Philosoph mit seinem Werk »Utopia« in Erinnerung geblieben, wäre es nicht zum entscheidenden Konflikt mit Heinrich VIII. gekommen, als der König von seinen Untertanen einen Eid auf die Anerkennung der königlichen Obergewalt über die Religion und damit über die Kirche Englands verlangte. Morus verweigert den Eid aus Gewissensgründen und wird des Hochverrats angeklagt.
Er starb, weil er von der Glaubens- und Gewissensfreiheit Gebrauch machte. Modern gesagt, wurde Thomas Morus Opfer einer totalitären Politik, weil er seinem Gewissen mehr gehorchte als seinem König. Am 6. Juli 1535 wurde er vor dem Tower von London enthauptet. Erst 400 Jahre später, im Jahr 1935, als der Nationalsozialismus einem erschrockenen Europa sein wahres Gesicht enthüllte, hat die katholische Kirche ihn heiliggesprochen. Daß es so lange dauerte, hängt ganz sicher mit dem Inhalt seines Buches zusammen.
Ernst Bloch nennt Thomas Morus »einen der edelsten Vorläufer des Kommunismus«. Dies ist – den Kommunismus ideal gesehen – nicht ganz falsch. Aber sicher nicht in dem Sinn, daß Morus glaubte, die Menschheit sei besser als der Mensch und müsse deshalb auch gegen den Willen der Menschen gerettet werden. In »Utopia« gibt es diesen kollektivistischen Irrtum nicht. Die individuelle Entscheidung und Verantwortung waren für Thomas Morus im wahrsten Sinn des Wortes existentiell. Auch die Staatsbürger von Utopia anerkannten kein Jüngstes Gericht für Kollektive.
Das Buch »Utopia« ist ein für die damalige Zeit revolutionärer Gegenentwurf zu der Welt des 15. und 16. Jahrhunderts, aber wie man bei der Lektüre erkennt, schildert es in fast noch deutlicherer Weise die Gegenwelt zum von Geldgier, Leistungsstreß und Hektik deformierten modernen Leben. Die Inselbewohner haben eine bessere Welt, weil sie weitgehend von der Arbeitsfron befreit sind – was sich die Arbeiterbewegung erst 400 Jahre nach »Utopia« mühsam erkämpfen konnte und was vom heutigen Wirtschaftssystem wieder in Frage gestellt wird – nicht nur in den 900 »Zonas francas« von China bis Mittelamerika. Sechs Stunden Arbeit am Tag reichen aus, um alle notwendigen Bedürfnisse zu befriedigen und auch genügend Ressourcen für ein »angenehmes Leben« zu schaffen. Das sagen nicht nur ver.di und die IG Metall. »Ein angenehmes Leben« in der Familie, aber auch in einer im wesentlichen freien Gemeinschaft, in der alle Religionen Platz haben, auch die, »die die Sonne, den Mond oder die Planeten anbeten«, ist das Staatsziel in Utopia. »Das Eldorado der Glaubensfreiheit, um nicht zu sagen: das Pantheon aller guten Götter«, nennt Ernst Bloch diese Republik.
Utopia ist ein Staat der Toleranz. Das Projekt von Thomas Morus stellte sich damit in einen diametralen Gegensatz zur Lehre der katholischen Kirche und damals vor allem der Inquisition. In Utopia gehört es zu den ältesten Grundsätzen, daß keinem aus seiner religiösen Überzeugung ein Vorwurf gemacht werden darf. Jeder kann die ihm einleuchtende Religion haben. Er darf aber nur soweit versuchen, andere zu ihr zu bekehren, wie er sie ruhig und sachlich mit vernünftigen Gründen empfiehlt, aber nicht durch Verunglimpfung anderer Religionen oder Gewalt. Der Utopier hält es für eine Anmaßung und auch für eine Dummheit, mit Gewalt oder Drohungen zu verlangen, daß das, was einer für wahr hält, auch alle anderen für wahr halten müssen. Wenn aber tatsächlich nur eine Ansicht wahr und jede andere falsch sein sollte, so erwartet er, daß die Macht der Wahrheit sich von selbst durchsetzt. Mit Waffen und Gewalt kommt nur der einfältigste Aberglaube nach oben.
Die Magna Charta des Grundgesetzes ist in Utopia vorweggenommen: Verboten ist »mit aller Strenge, die Würde des Menschen preiszugeben«. Auch die Atheisten haben in Utopia nichts zu befürchten. Allerdings ist es ihnen nicht erlaubt, zugunsten des Atheismus zu disputieren und zu werben, denn ohne die Aussicht auf ein Jenseits und die Existenz Gottes sei die Ordnung unter den Menschen nicht zu garantieren.
Bei der Ausübung der Religion sind die Frauen nicht benachteiligt. Ihre Priester sind verheiratet und haben Kinder. Und es gibt – in den Begriffen des katholischen Kirchenrechts – die Frauenordination, also auch Priesterinnen. Die Priester sind vor allem für das Beten und das Durchsetzen des Friedens da. Sie bitten nicht um den Sieg der eigenen Leute, sondern um einen für Freund und Feind unblutigen Frieden. Sie weihen keine Waffen.
In den Konzentrationslagern, Folterkammern und Gefängnissen unseres Jahrhunderts hat sich Morus‘ Schicksal unzählige Male wiederholt. Was hat Morus, einen Weltmann, dazu bewogen, alles aufzugeben im Kampf zwischen Gewissen und totalitärem Herrschaftsanspruch und zu einem Blutzeugen für die Gewissensfreiheit zu werden? Was hat ihn dazu bewogen, sich nicht den Dingen dieser Welt hinzugeben, obwohl er sie hatte, sondern seine innere Distanz und Freiheit zu bewahren?
So, wie Thomas Morus Auffassungen anderer tolerierte, so forderte er Toleranz für sich. Es mochten, so sagte er, andere Männer des Reiches in den strittigen Fragen zu anderen Auffassungen kommen, doch entscheidend für das Heil der Seele sei, daß Entscheidungen nicht der Obrigkeit, sondern dem Gewissen folgten: »Ich will Gott danken für die Klarheit und das Vertrauen, das er mir über mein Gewissen gab. Aber ich bete auch für alle, die nicht meiner Meinung sind.« Noch auf dem Schafott rief Morus aus: »Ich bin des Königs treuer Diener, aber zuerst Diener Gottes.« (Auf dem Höhepunkt des wilhelminischen Nationalismus 1912 sagte Hermann Hesse, sozusagen eine philosophische Stufe niedriger: »Ich bin gerne Patriot, aber vorher Mensch, und wo beides nicht zusammengeht, gebe ich immer dem Menschen recht.«)
In Utopia sind die wichtigsten Fragen des Staats geregelt: die Erziehung der Kinder, das Zusammenleben, einschließlich des gemeinsamen Essens, was jedoch privates Essen nicht verbietet, das Gesundheitswesen, in dessen Mittelpunkt der Kranke steht, das sorgenfreie Leben der Alten. Für die damalige Zeit völlig ungewöhnlich sind Vorschriften des Umweltschutzes. Es gibt ökologische Regeln, zum Beispiel daß Schlachthäuser vor der Stadt gebaut und Blut und Kot im fließenden Wasser weggespült werden müssen. Nur die sauberen und ausgenommenen Tiere gelangen in die Innenstädte; nicht nur wegen der Gefahr, daß »die Menschen das Erbarmen mit der Kreatur und das Gefühl unserer Natur verlieren«, sondern »außerdem wollen die Utopier nichts Unsauberes und Unreines in die Stadt einführen lassen, weil faulende Stoffe die Luft verpesten und dadurch Krankheiten verursachen könnten«. Schwerkranken ist die Möglichkeit der Euthanasie gegeben, wenn die Schmerzen so groß sind, daß die Menschen sie nicht mehr aushalten können. Es gibt in Utopia eine kontinuierliche Diskussion über die geistigen Güter, die äußeren und inneren Werte. Die Utopier reden von der Tugend und von der Lust und liefern glänzende Plädoyers gegen die Todesstrafe. Sie definieren die Lust als ausschlaggebenden Faktor des menschlichen Glücks. Das Leben soll nicht freudlos oder jammervoll verbracht werden. Tugend ist die Lust auf das naturgemäße Leben, für das die Menschen von Gott angelegt sind. Derjenige lebt nach den Weisungen der Natur, der in allem, was er anstrebt oder zu vermeiden sucht, dem Rat der Vernunft folgt. Vernunft führt zur Religion und zur Anerkennung einer göttlichen Majestät. Ein angenehmes Leben, so sagen die Utopier, die Lust schreibt uns als den Zweck aller Handlungen die Natur selbst vor. Und wenn die Natur die Menschen einlädt, einander zu einem fröhlicheren Leben zu verhelfen, »heißt dich dieselbe Natur, darauf zu sehen, daß du nicht dadurch einen Vorteil wahrst, daß du einem anderen einen Nachteil zufügst«.
Lust nennt Utopia also jeden Zustand des Körpers oder der Seele, in dem zu leben ein Genuß ist und zu dem die Natur den Weg weist. Unechte Lust sind Eitelkeiten, die Einbildung, zum Adel zu gehören, weil man mehr Landgüter hat, die Sucht nach Juwelen und Edelsteinen und nach überflüssigem Besitz. Würfelspielen gehört zu den einfältigen Freuden so wie die Jagd, deren Ausübung die Utopier »als für die Freien entwürdigend« den Metzgern zuweisen. »Das Schauspiel, wie das Opfer vor den eigenen Augen zerfleischt wird, tut im Innersten weh. Man sieht, daß ein Hund ein Häslein, der Starke den Schwachen, der Brutale den Scheuen und Furchtsamen, der Grausame den Harmlosen zerreißt.« Sie betrachten die Jagd als die unterste Stufe der Metzgerei. »Im Schlachthaus werden die Tiere getötet, weil es nicht anders geht, der Jäger dagegen mordet und metzget sein armes Tierchen bloß um des Amüsements willen.«
Man ahnt, in welchen Wertekategorien »Big Brother« und die Horrorfilme unserer Fernsehanstalten landen würden. Die Aversionen gegen die Jäger sieht Erasmus von Rotterdam in seinem Brief an Ulrich von Hutten in dem Studium der »Formen, Gaben und Instinkte der verschiedenen Lebewesen« begründet. Erasmus über Morus: »Der hält sich daheim fast alle Arten von Vögeln und außerdem das, was es an weniger häufigen Tieren gibt, die Affen, Füchse, Marder, Wiesel und ähnliche; und taucht erst noch etwas Exotisches auf oder sonst etwas Seltsames, so kauft er es ohne Besinnen. Nun hat er von solchem Getier das Haus voll von oben bis unten.«
Ins Schleudern geraten die Utopier ein bißchen, wenn es um die Freuden des Körpers geht. Der Seele gehören die Freuden der Erkenntnis und der Betrachtung des Wahren und die feste Hoffnung auf das Glück im Jenseits. Die Vergnügen des Körpers teilen sich in zwei Arten. Die erste ist die, welche uns mit einem starken Wonnegefühl überrieselt. Dies stellt sich beim Essen und Trinken ein. Diese Lust verspürt man auch, wenn man den Darm entleert oder ein Kind zeugt oder einen juckenden Körperteil kratzt. Dies ist nun nicht gerade eine theologische Sublimierung des Sexuellen, sondern weist eher darauf hin, daß dieser Heilige der katholischen Kirche ein unverkrampftes Verhältnis zur Sexualität besaß.
In früher Jugend hatte er den Wunsch, Mönch zu werden. Es wurde nichts daraus. Erasmus von Rotterdam informiert Ulrich von Hutten in schöner Offenheit: »Thomas Morus konnte von der Sehnsucht nach einer Gattin nicht loskommen. Deswegen heiratete er eine blutjunge Tochter aus vornehmen Hause, die ein früher Tod hinwegraffte«, und fährt dann fort: »Ohne Frau aber hielt es Morus nicht lange aus. Er heiratete später eine Witwe.« Und: »Er lebte mit ihr in einer zärtlichen und vergnügten Ehe.«
Schönheit, Kraft, Lebendigkeit: diese erfreulichen Gaben der Natur finden bei den Utopiern begeisterte Verehrer. Und ihnen sind auch diejenigen Freuden willkommen, »welche sie durch Ohr, Auge, Nase einlassen und welch die Natur eigens dem Menschen vorbehalten hat«.
In anderen Gesellschaften außerhalb von Utopia gibt es nach Auffassung der Utopier keine Spur von Gerechtigkeit und Billigkeit. Denn wo bleibt die Gerechtigkeit, so fragen sie, wenn ein Adliger, ein Goldschmied, ein Wucherer oder sonst einer von denen, die entweder nichts oder nichts für das Gemeinwesen Nötige tun, herrlich leben und in Freuden in ihrer Untätigkeit oder unnützen Tätigkeit verharren, der Knecht aber, der Fuhrmann, der Bauarbeiter, der Bauer eine so schwere und so andauernde Arbeit leisten, wie sie kaum ein Zugtier aushält? »Die Gerechtigkeit ist so notwendig, weil ohne sie kein Staat auch nur ein Jahr lang bestehen könnte. Sie haben nur kümmerlich zu essen und führen ein so jämmerliches Leben, daß das Los der Arbeitstiere viel besser scheinen möchte. Tiere machen sich keine Sorgen um die Zukunft. Die Menschen aber seufzen unter der unergiebigen, unerträglichen Fron des Heute, und dazu quält sie jetzt noch der Gedanke an das kommende hilf- und mittellose Alter. Der tägliche Lohn ist ja zu gering, um für den gleichen Tag zu genügen, geschweige denn, daß etwas herausschaute und sich erübrigen ließe, was Tag um Tag zur Verwendung im Alter beiseite gelegt werden könnte.«
Die heutige Privatisierung der Grundrisiken des menschlichen Lebens liegt auf der gleichen Linie, und ihre Vertreter haben keine Lösung für diejenigen, die einen Kapitalstock gar nicht bilden können oder deren Kapitalstock pleite geht. Morus nennt das ein ungerechtes und undankbares Gemeinwesen, das Edelleuten und Goldschmieden – wir könnten heute sagen Börsenspekulanten – und ihren Schmeichlern und Handlangern – heute zum Beispiel manchen Wirtschaftsredakteuren und wirtschaftswissenschaftlichen Instituten – Einfluß verschafft, für Bauern aber, für Kohlenbrenner, Knechte, Fuhrleute, Bauarbeiter, ohne die es gar kein Gemeinwesen gäbe, »keinerlei freundliche Vorsorge trifft, sondern die Arbeitskraft ihrer besten Jahre ausnützt und, wenn diese alt und krank sind und völlig mittellos, kein Gedächtnis mehr hat für so viele Menschen und ihnen nichts bietet als den Tod im Elend«.
2,6 Milliarden Menschen haben heute pro Tag weniger zum Leben als den Gegenwert von zwei US-Dollar, das ist weniger, als die Amerikaner und Europäer für Hundefutter ausgeben. »Vom Taglohn der Armen«, so Morus, »zwacken die Reichen täglich noch etwas ab – nicht nur durch private betrügerische Manipulationen, sondern auch aufgrund staatlicher Gesetze.« Er nennt die Gemeinwesen außerhalb Utopias die reinste Verschwörung der Reichen, die unter dem Namen und Titel des Staats den eigenen Vorteil verfolgen.
Das Buch »Utopia« unterzieht die sozialen und ökonomischen Verhältnisse der damaligen Zeit einer unnachsichtigen Kritik. Die Edelleute werden als Faulenzer bezeichnet, die »wie die Drohnen von der Arbeit anderer leben«, indem sie »die Pächter auf ihren Gütern um der Steigerung ihrer Einkünfte willen bis aufs lebendige Fleisch schinden«. Muß man nicht sofort an die Oligopole und Monopole der heutigen Zeit denken, die, aus Marktbereinigungsgründen oder um die Kapitalrendite zu erhöhen, Zehntausende von Menschen auf die Straße setzen, wenn Thomas Morus schildert, wie wegen der Produktion der immer feineren und teureren Schafswolle immer mehr Land in Weiden verwandelt wird und den Bauern dazu ihre Äcker genommen werden? Alles Land wird zu Wiese und Weide gemacht, Gehöfte abgetragen und Dörfer zerstört, nur die Kirche darf als Stall für die Schafe stehenbleiben. Bauern ziehen von dannen, Männer, Frauen, Eheleute, Alleinstehende, Witwen, Eltern mit kleinen Kindern ziehen aus ihren vertrauten Heimstätten weg und finden nirgends Arbeit. Was sie sich ihr Leben lang erarbeitet haben, müssen sie – wie bei Hartz IV – für einen Spottpreis losschlagen. Vielen bleibt schließlich nichts anderes übrig als zu stehlen und zu rauben, um dann am Galgen zu enden. Die Bauern haben nichts mehr zu bestellen. Ein einziger Schafhirte, ein einziger Kuhhirte genügt ja, um das Vieh eine Fläche abweiden zu lassen, deren Bebauung und Bereitstellung für die Aussaat sonst immer viele Hände erfordert hatten.
Die Gesetze des Kapitalismus sind offensichtlich zeitlos. Morus spricht schon damals von Monopolen und Oligopolen. Gewerbe und Handel sind in der Regel in die Hände einiger weniger gefallen. Die Verteuerung des Lebens ist daran schuld, daß jeder möglichst viele Knechte entläßt – wohin, so fragt Morus, außer auf die Straße als Bettler oder, was einem unabhängigen Charakter eher zusagt, als Räuber?
Dem Entwurf von »Utopia« liegt die Erkenntnis zugrunde, »daß überall, wo es Privateigentum gibt und wo gleichzeitig jedermann alles nach dem Geldwert bemißt«, es in einem Staatswesen kaum gerecht zugehen und das Glück herrschen kann, es sei denn, man wäre der Ansicht, »dort gehe es gerecht zu, wo das Beste an die Schlechtesten kommt, oder dort herrsche das Glück, wo alles unter wenige verteilt wird und auch diese wenigen nicht in jeder Beziehung gut daran sind, die übrigen aber ganz schlecht«.
So wie damals Tausende von Bauern ihr Eigentum verloren und von ihren Feldern gejagt wurden, warten heute Hunderte Millionen von Menschen in Europa und in den Vereinigten Staaten auf den nächsten Schlag aus den Konzernzentralen der Finanz- und Großindustrie, der sie in die Arbeitslosigkeit und schließlich mit Hilfe der Politik auf die unterste Sprosse der sozialen Stufenleiter befördert.
Die Frage ist: Wo bleibt der Aufschrei der Kirchen, deren Heiliger Thomas Morus ist, und der politischen Parteien, und warum überlassen sie den notwendigen massiven Protest gegen diese neue Form der Ausbeutung Organisationen wie Attac oder Amnesty International und setzen sich nicht selbst an dessen Spitze?
Thomas Morus hätte nicht geschwiegen – der Mann, über den Erasmus noch zu dessen Lebzeiten sagte: »Es ist kaum leichter, Morus zu malen, als Alexander oder Achill; beide verdienen die Unsterblichkeit nicht mehr als unser Morus.«
© Kiepenheuer & Witsch
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Autoren-Porträt von Heiner Geißler
Geißler, HeinerHeiner Geißler, Jahrgang 1930, ist examinierter Philosoph und promovierter Jurist. Er war 13 Jahre Landes- und Bundesminister. 12 Jahre prägte er als Generalsekretär die Politik der CDU wie kaum ein anderer. Er benannte die Neue Soziale Frage und verwandelte die CDU in eine moderne Volkspartei. 25 Jahre gehörte er dem Deutschen Bundestag an und war einer der rhetorisch und inhaltlich besten Debattenredner. Heute gilt sein Einsatz der Humanisierung des Globalisierungsprozesses und dem Projekt einer Internationalen Öko-Sozialen Marktwirtschaft. Er arbeitet als Publizist, ist ein gefragter Redner und Autor zahlreicher Veröffentlichungen, u.a. der Bestseller Was würde Jesus heute sagen? Die politische Dimension des Evangeliums und Intoleranz. Vom Unglück unserer Zeit, und bekannt als Gleitschirmflieger, Bergsteiger und Kletterer.
Bibliographische Angaben
- Autor: Heiner Geißler
- 2009, 7. Aufl., 224 Seiten, Maße: 12 x 19,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462036831
- ISBN-13: 9783462036831
- Erscheinungsdatum: 25.05.2009
Rezension zu „Ou Topos “
"In seinem faszinierenden Buch [...] erweist sich Heiner Geißler als einer der aufregendsten Denker im heutigen Deutschland." Köln-Süd Stadt-Magazin
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