Postmann
''Brillant geschriebene...
''Brillant geschriebene Mischung aus schwarzem Humor und bewegender Tragik.''
Marie Claire
Postmann von J. Robert Lennon
LESEPROBE
Ein amerikanischer Postmann
Also schuf Gott die Erde, wie es so schön heißt. Am Anfang war nicht viel dran an ihr: ein dunstig graues Firmament und dazu vielleicht ein schmieriger Fleck auf den gesichtslosen Konturen. Eine leere Leinwand. Gott sah sich das Ganze an, fand es annehmbar und machte sich an die Detailarbeit. Er packte die Leinwand mit einer Hand - mit seinen riesigen Schweißfingern -, während die andere wischte und tupfte. Und während die zweite Hand dem Amazonas, dem Himalaja, den großen Wäldern und Meeren, den Prärien und Steppen, den flachen Landstrichen und den Schneegipfeln den letzten Schliff gab, grub sich die erste gedankenlos in die Erde, knetete das weiche Gestein zu buckligen Lehmhügeln und riss feuchte Gräben auf. Nachdem der Schöpfer Sein Werk ausgiebig bewundert hatte, klappte Er die jungfräuliche Welt um und bemerkte, was Seine Riesenpranke angerichtet hatte. Da dachte Er sich: Wenn ich es mit Wasser auffülle, könnte es noch ganz brauchbar aussehen. Auf diese Weise entstanden die Finger Lakes.
Doch wenn die Finger Lakes der Handabdruck des Schöpfers sind (lassen wir mal die Vorstellung eines siebenfingrigen Gottes beiseite), dann ist der hier, der Onteo Lake, als längster und tiefster See der Mittelfinger und ein unbewusstes Signal der Erdbewohner an alle intelligenten Lebewesen da draußen: der größte Stinkefinger im gesamten Weltall. Oder vielleicht auch Gottes Botschaft an uns, mit der Er uns zu verstehen gibt, dass Er zu neuen Ufern aufgebrochen ist. Womöglich hat Er nur geübt und die hastig ausgeführte Welt dann wie eine tot geglaubte Zimmerpflanze auf den Müllhaufen des Universums geworfen. Vielleicht sollte sie gar nicht Wurzeln schlagen und auf dem Dreck gedeihen. Und eines Tages, wenn im Kosmos der Frühling ausbricht, wird sie vom Schöpfer mit einem leisen Lachen von ihrem Elend erlöst.
Jedenfalls ist, wenn die man die Seen als Gottes Finger versteht, diese Stadt hier - Nestor im Staat New York - der Abdruck seiner großen, dampfenden Handfläche, die kreuz und quer verlaufenden Straßen sind die Kringel und Wirbel darauf, und dieser Highway - Route 13 - ist die Herzlinie, die so stark und klar und breit erscheint, aber dann ein paar Ortschaften weiter jäh abbricht, als wäre in Nestor die äußerste Grenze Seiner Liebe erreicht und die Stadt nur ein schäbiger Außenposten göttlicher Aufsicht.
Falls ja, überlegt Postmann, ist es ein passender Mythos für die Stadt Nestor, die sich zugleich für den Nabel und den Arsch der Welt hält, je nachdem, mit wem man redet und wann. Eine Stadt voller Arroganz und Selbsthass, Elend und Herrlichkeit. Eine Collegestadt, eine Arbeiterstadt. Die Finger Gottes, genau. Wenigstens hat der Täter seine Abdrücke hinterlassen.
Es ist Morgen, der erste Freitag im Juni des Jahres 2000. »Das Jahr 2000« sagen sie alle und statten die Zahlen mit der grammatischen Würde eines Artikels aus, als wäre das Jahr ein Mörder oder Tyrann wie in »Der Schlächter« oder »Der Schreckliche«. Postmann fährt auf der Route 13, dieser zum Absterben verurteilten Arterie, in Richtung Norden. Links von ihm breitet sich träge der See aus, rechts ragt ein bewaldeter Fels aus bröckelndem Schiefer auf. Er fährt ein kleines Auto, einen Ford Escort mit Hecktür aus einer Ära, als Ford nur noch ein Witz war und vielleicht die schlechtesten Autos aller Zeiten baute. Die kleine blaue Karre besteht zur Hälfte aus Plastik, und der Motor keucht und wimmert, weil es bergauf geht. Aber das ist nicht sein echtes Auto: Sein echtes Auto ist sein Postwagen, der sechs Kilometer von hier am Stadtrand vor dem neuen Postamt abgestellt ist. Ein kurzer Schauer jagt ihm über den Rücken, als er an den Lieferwagen denkt, wie er es sich auf dem mit Isolierband ausgebesserten Schalensitz aus Leder bequem macht und die Hände auf das übergroße Lenkrad gleiten lässt. Er stellt sich die Briefe vor, die er in den Wagen packen wird, und die verborgenen Geheimnisse darin. Seine Stimmung steigt.
Der Escort wird es schaffen, auch wenn er nur mit der Hälfte der Höchstgeschwindigkeit dahinkriecht. Unförmige Jeeps und Pickups mit nur einem einsamen, winzig erscheinenden Insassen rasen vorbei - Männer mit Krawatten, die nach Syracuse oder hinaus über die Stadtgrenzen unterwegs sind zu ihren Tretmühlenjobs in der Hightechindustrie. Wozu braucht ein einzelner Mensch solch eine Riesenmaschine? Der Escort ist zwar lahm, aber für einen Menschen wenigstens korrekt proportioniert. Ich beherrsche mein Auto, denkt Postmann, und nicht umgekehrt. Wie um ihm beizupflichten, schaltet der Wagen bebend herunter, und der Haufen kaputter Büroartikel auf dem Rücksitz ändert mit liebenswürdigem Geschepper seine Gestalt. Um den Lärm zu übertönen, schaltet er das Radio ein. Börsennachrichten: Nikkei, Hang Seng, Aktienindex der Financial Times. Was für eine Rolle spielt es schon, wenn ein Geldsack in Yokohama Lachs-Futures abstößt? Überhaupt keine, außer es wird im Radio gebracht. Die Leute kümmern sich nur um das, was ihnen vorgekaut wird.
Jetzt kommt eine muntere Ansage: Hol dir den Anstecker zum Nestor-Fest! Dieses selbstgefällige Affentheater, an dem die ganze Stadt teilnimmt und das jedes Jahr wiederholt wird, fängt heute Nachmittag an: der City Square voller Langhaariger, die in Sperrholzbuden sitzen und ihren Kitschtrödel verscherbeln, Gastwirte, die auf dem Gehsteig Fressstände aufbauen, experimentelle Theatergruppen, die auf Straßenkreuzungen ihre intimsten Gefühle ausleben, selbst gemachte Batikshirts, wurmstichiges Obst aus der Region und überall plärrende Kinder. Chinesische Studenten, die wie Junikäfer herumwuseln. Der untersetzte Bürgermeister mit seinen karottenroten Haaren, der in seiner Jahresansprache ein »intaktes Gemeinwesen« beschwört. Lasst mich bloß zufrieden damit. Ich wünsche mir eine ruhige, ordentliche Stadt, die Studenten im Sommerurlaub, keine Schlangen vor den Cafés, wenig Betrieb im Postsack, wolkige Tage, an denen die schwüle Hitze dem Donner weicht, und nach einer Stunde ist alles klar und kühl, die Gärten sind übersät mit toten Zweigen und alten, aus den Bäumen gewehten Vogelnestern. Ein normales Leben. Keine Märsche, keine Straßenfeste, keine Partyzelte und keine Regatta, kein Taste of Nestor und auch keine Rhododendron-Tage. Das kann mir echt gestohlen bleiben.
Die Straße wird wieder flach und der Escort beschleunigt. Postmann riskiert einen Seitenblick auf den See, auf dem glitzernd das Sonnenlicht liegt. Gar nicht so schlecht: Vielleicht wusste Gott doch, was Er tat. Unten am Pier werden die Wimpel für die Segelregatta aufgezogen, den ganzen Onteo Lake rauf bis nach Reevesport und wieder zurück. Der Zieleinlauf ist irgendwann am Sonntag. Letztes Jahr ist der Gewinner um zwei Uhr nachts angekommen und wurde disqualifiziert, weil es niemand bezeugen konnte. Der arme Scheißer. Nicht dass ihm die Seehaus- und Wasserrattenclique irgendwie Leid getan hätte. Im Sommer gefällt es ihnen hier mit den Booten und Pferden, aber sobald der Schnee kommt und sich beim ersten Inversionswetter der Gestank der Papierfabrik im Tal fängt, fahren sie nach Vail in den Skiurlaub oder auf die Bermudas, um vierzehn Tage die Sonne zu genießen. Oder sie leben im Winter sowieso woanders, zum Beispiel die Akademiker, die ihrer Doppelverpflichtung am NYTech (die Crème-de-la-Crème der Eliteuniversitäten) und, sagen wir mal, an der University of Hawaii nachgehen. »Residieren« nennen sie das. »Ich residiere in Nestor« - eigentlich »in der Gegend von Nestor«, weil sie alle nördlich von hier in Willard leben, wo die Vermögenssteuer geringer ist - »und in Südkalifornien«. Oder es heißt: »Wir lieben die Gegend um Nestor, aber wir überwintern an der Küste von South Carolina.« Zum Überwintern muss man entweder eine Pflanze sein oder reich.
Aus dem Radio tönt es: Tech Minute. Aus dem Radio tönt: »Intelligenter Toaster« und »Wearable Computer«.
Weiter vorn nach dem Hotel Radisson Suites am Flughafen und der Reklametafel für den nicht mehr existierenden BBQ Chop Stop (»Ein Gasthaus für Familien. Ein Gasthaus für dich«, hat er fünf Jahre lang jeden Tag gelesen) kommt die Abzweigung zum Postamt. Die Ampeln sind oben mit Warnlichtern ausgestattet wie Sendemasten. Diese Kreuzung ist der höchste Punkt in Onteo County. Postmann biegt in die Verlängerung der Wayne Road und fährt vorbei an den Filialen von UPS und FedEx, denen er den Finger zeigt. Na ja, FedEx vielleicht nicht unbedingt: Die Jungs sind ganz in Ordnung, sie sind mürrisch und hässlich, und was andere von ihnen denken, ist ihnen scheißegal. Sie tragen einen fast schon amtlichen Namen und die nationalen Farben, was ihnen diese Qualität bürokratischer Schlampigkeit verleiht, aber ganz ohne die kleinliche Beaufsichtigung, die bei USPS üblich ist. Die UPS-ler sind eine andere Geschichte. All diese kantigen Männer mit Drahthaaren, keiner von ihnen über fünfunddreißig, die grinsend in ihren braunen Anzügen die Treppe hochhüpfen und einem das Paket mit dem achtzehn Kilo schweren Computer drin zum Unterschreiben hinhalten. Was für eingebildete Affen! Und die Frauen erst. Diese blonden Bergfextypen mit ihren strammen Titten, dem feinen Flaum auf Armen und Beinen, dem Pferdeschwanz und einem Hauch von Schweiß auf der Stirn - wie sie keuchen, wenn man unterschreibt, und einem zum Abschied ein männliches »vielen Dank« hinwerfen, während sie schon mit angespanntem Hintern, der sich unter dem dünnen Hosenstoff abzeichnet, zum Wagen zurücksprinten und den Gang einwerfen. O Herr, lass diesen Kelch an mir vorübergehen!
Niemand könnte es einem verübeln, wenn man das neue Postamt mit einer Highschool-Turnhalle verwechseln würde. Hinten bemalte Hohlblocksteine und vorn Industriestuck mit dem Briefträgerwahlspruch über der Tür, dessen Buchstaben bereits vom Wetter dezimiert sind: WEDER SCHNEE NOCH REGEN WEDER H TZE NOCH NKLE NACH Es ist schon zehn vor sieben. Postmann parkt hinten, so weit wie möglich vom Gebäude entfernt, weil er Bewegung braucht. Er registriert die anderen Autos, wer da ist und wer nicht. Len Ronk, der Leiter des Zustelldienstes, ist noch nicht da. Großer Kopf, großes Gesicht, große Brille, magerer kleiner Körper, Lieblingswort »vollwertig«. »Das sind Schuhe mit vollwertiger Stützeinlage, die sollten Sie sich auch zulegen.« Die Stechuhr springt um sieben an, aber Ronk erscheint nicht vor halb acht. Warum? Weil er nicht muss. Und warum nicht? Weil er das Sagen hat.
Postmann springt auf die Laderampe, wo die Postkisten aufgestapelt sind. Er ist ein wenig spät dran, und deswegen sind die meisten guten aus hartem Plastik schon weg, nur die verbeulten sind noch da, aber er bunkert öfter einige gute hinter den verbeulten, und tatsächlich sind sie heute Morgen noch genau da, wo er sie hinter den orangefarbenen Stützpfeiler gezwängt hat. Er schleppt sie durch die große Schwingtür und wird ums Haar von einem Postarbeiter platt gewalzt, der Käfige auf Rädern aus dem Weg räumt.
»Hoppla. tschuldigung, Albert.«
»Nichts passiert«, sagt Postmann. Eine Gefahr für die Öffentlichkeit, der Kerl.
Wie immer drängen sich die Briefträger um die Stechuhr und warten auf den dumpfen Plastikschlag, mit dem sie sich einschaltet. Alle halten eine Stechkarte und einen Styroporbecher Kaffee in der Hand und reden in Zeitlupe - Schlachtvieh, das auf den Schussapparat wartet. Auch von innen sieht das Gebäude wie eine Turnhalle aus. Auf dem Boden verlaufen Buchstabenlinien, zwischen denen die Zusteller sortieren, und an den Wänden entlang und quer durch den Raum erstreckt sich direkt über ihren Köpfen eine abgeschlossene Laufplanke. Diese gehört den Postinspektoren, einer Art Geheimbund zur Vollstreckung der Vorschriften für den Postdienst: Alle zwei Meter gibt es ein verspiegeltes Fenster, durch das sie hinausspähen können. Man weiß nie, wann sie da drin sind. Man bekommt sie nie zu Gesicht. Manchmal hört man ihre langsamen Schritte, falls man gerade unter der Laufplanke steht, wenn sie oben vorbeikommen. Wie wenn jemand über dein Grab läuft. Sind sie immer da oder nur, wenn es einen begründeten Verdacht gegen jemanden gibt? Niemand weiß es. Was haben sie an? Anzüge? Uniformen? Tragen sie Waffen? Keine Ahnung. Wenn sie gesichtet wurden, dann immer nur ein paar Sekunden lang, und die Betreffenden erinnern sich an fast nichts: Koteletten, ein Muttermal. Die Inspektoren können jederzeit herauskommen und ihre Dienstmarke zücken, sie können einen mit Handschellen gefesselt nach Elmira abtransportieren und verhören, bis man zusammenbricht. Sie können einen ins Gefängnis werfen. Natürlich nur, wenn man etwas ausgefressen hat. Und was zum Beispiel?
Post stehlen. Post öffnen. Post vernichten.
Man hört Geschichten. Von Fallen. Erpressung. Ein Hausmeister, der geschnappt wurde, weil er eine Postkarte aus dem Müll gezogen und aufgehoben hat. Ein schwuler Postmeister, dem man den Diebstahl von Münzen angehängt und den man mit Schimpf und Schande aus der Stadt gejagt hat. Briefträger, die zusammengeschlagen und zum Geständnis gezwungen wurden. Diese Möchtegernagenten, die von CIA und FBI ausgemustert wurden, weil sie zu grobschlächtig, zu dumm, zu impulsiv für diese erhabenen Institutionen sind, kommen zur Post, wo sie ihre Unbeherrschtheit ausleben dürfen, um die einfachen Mitarbeiter einzuschüchtern.
Die Stechuhr springt an. Die Karten werden in regelmäßigem Rhythmus gestempelt, ein richtiger Marsch. Tag allerseits. Postmann steuert auf seine Kabine zu, wo die Rohpost wartet. Die Kabine hat die gleichen Aufbauten wie alle anderen: Regale auf drei Seiten mit Fächern für jede Adresse, darunter jeweils deutlich lesbar gedruckt Straße und Hausnummer. Seine Strecke in Kleinformat. Unter seinen schnellen Händen, die mit routinierten Bewegungen sortieren, nimmt der Tag Gestalt an, und er merkt sich schon mal die Sachen, die er später vielleicht lesen möchte. Um diese Jahreszeit ist es leichte Post: keine Feiertage (Vatertag steht bevor, aber die Papamenge ist nur ein Tropfen im Ozean im Vergleich zur Mamamenge), die Sommerkataloge gab s schon vor ein paar Wochen. Und die meisten Studenten sind weg, schicken nicht mehr ihren Müll nach Hause. Nur noch halb so viele Einwohner jetzt. Für Nestor sind die Kids natürlich Gold wert. Diese Generation kennt weder Zurückhaltung noch Geschmack, die kaufen alles, was sie in die Finger kriegen können, und brauchen alle drei Wochen eine neue Garderobe. Trotzdem ist es schön, wenn sie wieder verschwinden, da sind sich alle einig. Zurück nach Long Island, zurück nach Connecticut, zurück in die Park Avenue. Korea, Malaysia, Bhutan. Singapur.
Jedes Jahr knallen ein oder zwei von ihnen durch. Die meisten vom NYTech, wo der Druck groß ist, aber auch ein paar vom Nestor College am Hügel gegenüber (beliebteste Hauptfächer: Fernsehproduktion, Freizeitmanagement, Unentschlossen/Studium generale). Jemand wird vermisst - seine Kumpel erzählen, dass er nicht zur Party gekommen ist, dass er allein losgezogen ist oder gestern irgendwie komisch klang am Telefon -, die Eltern werden benachrichtigt und dann geht die Suchaktion in Nestor los. Suchaktion, weil in diesem idyllischen Kaff mit seinen rauschenden Wasserfällen und majestätischen Schluchten die angesagte Art von Selbstmord das Springen ist. Und wenn sie dann springen - meistens mitten im Frühling nach den Halbjahresprüfungen und den schweren Regenfällen -, landen sie auf den Felsen und werden weggespült, bis ihre Leichen schließlich in einem Gestrüpp oder auf dem Strand liegen bleiben oder in den trüben See stürzen. Nächtelang kann man danach die Rufe der Suchmannschaft und das Wummern der Rettungshubschrauber über den Bächen hören, und in den Zeitungen liest man ein Zitat nach dem anderen darüber, wie sinnlos das Ganze war, wie gut gelaunt sie doch immer war, wie fassungslos man über seine Tat ist, so ein freundlicher, hilfsbereiter Mensch, so liebevoll. Aber natürlich bringen sich manchmal auch nette Leute um.
Postmanns Gedanken haben eine Giftwolke erzeugt, die sich zwischen ihn und den sonnigen Tag geschoben hat. Er muss an eine Frau denken, die er gekannt hat. Seine sortierenden Hände sind erstarrt. Aber genug: Kein Grund zum Trübsalblasen! Zeit zum Feiern!
Wenigstens muss er nicht mehr die Collegestrecke machen. Das Collegeviertel kriegen normalerweise die TZA: die Teilzeitarbeiter oder besser: Trottel Zum Ausnutzen. Rund um die Uhr Bereitschaftsdienst, die gemeinsten Strecken, Einspringen für andere, die im Urlaub sind. Aber das sind ja noch Kids, junge Kerle (oder Frauen, werden immer mehr, was Postmann mit reichlich zwiespältigen Gefühlen betrachtet), die stecken das weg. Nein, Postmann arbeitet in der Innenstadt: gemischtrassige Bewohner, gewerbliche und private Nutzung, dichte Besiedelung. Er kann fast den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen, nur einige kurze Fahrten dazwischen. Er hat etwas, was den anderen Briefträgern fehlt, etwas aus der alten Zeit, das er aufgehoben und gut in Schuss gehalten hat: seine Handkarre. Ein praktisches, dreirädriges Gefährt mit mülltütengroßen Säcken zu beiden Seiten, die er buchstäblich mit Post voll stopfen kann. An einem guten Tag ist er um halb zwölf mit seiner Strecke fertig, je nachdem, wie viel Zeit er für das Studieren der Post braucht, die er sich von seinen Kunden ausborgt.
Er ist fertig mit Sortieren. Die Uhr sagt acht. Er stellt die Kisten hin, verstaut und verklebt, stapelt sie aufeinander, schnappt sich einen Käfig auf Rädern, belädt ihn und schiebt ihn Richtung Parkplatz.
Wirklich ein Wahnsinnsmorgen. Die Festivaldeppen werden auf ihre Kosten kommen. Über den blauen, an den Rändern noch rosigen Himmel tuckern weiße Plüschwölkchen, die eher dekorativ als meteorologisch relevant sind. Sein Lieferwagen parkt neben dem dünnen Pfosten, den er bei der Rückkehr am Nachmittag schon mehr als einmal gestreift hat. Aber mit ein bisschen weißer Farbe lässt sich das leicht beheben. Beim ersten Mal hat er es Ronk erzählt und sich einen Anpfiff geholt.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Random House, München
Übersetzung: Friedrich Mader
- Autor: J. R. Lennon
- 2005, 605 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Friedrich Mader
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453400291
- ISBN-13: 9783453400290
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