Raylan
Roman
Ein U.S. Marshal, der schneller schießt als er redet. Eine Firmenchefin, die über Leichen geht. Eine unwiderstehliche Tänzerin namens Jackie Nevada, die beim Pokern alle abzieht. Eine Krankenschwester, die ein Nieren-Start-up aufzieht. Ein bisschen viel auf...
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Produktinformationen zu „Raylan “
Klappentext zu „Raylan “
Ein U.S. Marshal, der schneller schießt als er redet. Eine Firmenchefin, die über Leichen geht. Eine unwiderstehliche Tänzerin namens Jackie Nevada, die beim Pokern alle abzieht. Eine Krankenschwester, die ein Nieren-Start-up aufzieht. Ein bisschen viel auf einmal? Nein, einfach nur saucool. So, wie es nur einer kann: Elmore Leonard.Raylan Givens ist ein Top-Ermittler im U. S. Marshals Service, wenn auch einer, der nicht davor zurückschreckt, zur Waffe zu greifen - und sie auch effektiv zum Einsatz zu bringen. Dass er damit Strafverfahren schneller abschließt, als sie eröffnet werden können, bringt Raylan nicht nur Freunde ein. Deshalb ermittelt er nicht mehr im sonnigen Florida, sondern in der trostlosen Einöde von Kentucky. Hier in Raylans Heimatstadt Harlan schlug einmal das Kohleherz Amerikas, heute ist der Ort nur noch ein Umschlagplatz für Drogen. Doch auch der Drogenmarkt droht zu kippen, sodass zwei findige Dope-Dealer beschließen, auf menschliche Ersatzteile umzusteigen. Als Raylan den beiden auf die Schliche kommt, findet er sich plötzlich in der Rolle des unfreiwilligen Organspenders wieder ...
Lese-Probe zu „Raylan “
Raylan von Elmore LeonardErstes Kapitel
... mehr
Raylan Givens hatte einen Haftbefehl in der Hand, der einem im Marihuanageschäft tätigen Mann, bekannt als Angel Arenas, siebenundvierzig, geboren in den USA,
aber hundert Prozent Hispano, zugestellt werden sollte.
»Den kenne ich«, sagte Raylan, »von damals, als ich in Miami Dienst am Gericht hatte und er angeklagt war, weil er mit Kath gedealt hatte. Diese arabische Pflanze, auf der man rumkaut und high wird.«
»Nur mittelhigh«, sagte Rachel Brooks auf dem Beifahrersitz des SUV, Raylan saß am Steuer, hinter ihnen schob sich die Morgensonne über den Horizont. »Kath breitet sich gerade überall aus, wird in Kalifornien angebaut, große Sache bei den echten Afrikanern in San Diego.«
»Wenn man das Zeug kauft, sollte man sichergehen, dass es erst am Vormittag gepflückt wurde«, sagte Raylan. »Dann ist man einen Tag lang high, und das war's.«
»Ein paar Freunde von mir«, sagte Rachel, »kauen es auch hin und wieder. Aber auf dumme Gedanken kommen die nicht davon, es scheint ihnen Spaß zu machen. Sieht immer so aus, als ob sie sich einfach extrem entspannen damit.«
»Ein bisschen träumen«, sagte Raylan.
»Weswegen muss Angel in den Knast?«
»Hat nach sechsunddreißig von vierzig Monaten wieder Gras verkauft. Seine Bewährungsauflagen verletzt. Den Deal soll er über den Rastafari, der diese Kirche gegründet hat, eingefädelt haben, wie heißt die noch?«
»Temple of the Cool and Beautiful J. C.«, sagte Rachel. »Israel Fendi, der mit den Dreads, dieser Äthiopier aus Jamaika. Und, war er wirklich an dem Deal beteiligt?«
»Nicht im Entferntesten. Aber irgendjemand hat Angel die Sache angehängt, so ein Kiffer, der auf ein milderes Urteil hofft. Schwört, dass Angel gestern Abend eine Lieferung entgegengenommen hat. Ich bezweifle, dass Angel noch was dahat, wenn wir kommen.«
Vom Rücksitz ließ sich Tim Gutterson vernehmen: »Diesmal kriegt er zwanzig Jahre.« Tim ging einen Aktenordner mit Bildern von Angel Arenas durch und blieb bei einem Fahndungsfoto hängen.
»Seht euch das Grinsen an. Der wirkt doch harmlos, als hätte er im Leben noch keine Waffe angerührt.«
»Soweit ich weiß«, sagte Raylan, »trägt er auch nie eine Waffe. Und mit bewaffneten Gangstern umgeben tut er sich ebenfalls nicht.«
Der SUV folgte den Funkwagen der Staatspolizei durch einen flachen Teil von East Kentucky, am Ufer eines Sees entlang, der, so wie er sich abwärts in Richtung der Grenze nach Tennessee schlängelte, eher wie ein Fluss aussah. Kurz vor sechs Uhr morgens hielten sie vor dem Cumberland Inn.
Zu viert sahen die Polizisten zu, wie Raylan und seine Mannschaft kugelsichere Westen anlegten, die Marshal-Sakkos wieder darüberzogen und ihre Pistolen überprüften. Raylan sagte zu den Beamten, er erwarte keine Gegenwehr von Angel, aber ganz sicher sein könne man nie. Er fügte hinzu: »Wenn ihr Schüsse hört, kommt ihr sofort, okay?«
Einer der Polizisten erwiderte: »Wenn Sie wollen, sprengen wir die Tür für Sie auf.«
»Das würdet ihr wohl gern«, sagte Raylan. »Ich hatte eigentlich vor, mir an der Rezeption einen Schlüssel geben zu lassen.«
Die Polizisten mochten den Marshal, der früher Bergmann in Harlan County gewesen war, aber mittlerweile klang, als sei er sein Leben lang Bulle gewesen. Ihnen gefiel seine Einstellung zum Beruf. An diesem Morgen sahen sie dabei zu, wie er das Motelzimmer eines flüchtigen Kriminellen betrat, ohne die Waffe zu ziehen.
Alles war ruhig, nur die Klimaanlage brummte. Sonnenlicht fiel durch die Fenster auf das ungemachte Kingsize-Bett, die Tagesdecke war flüchtig über Bettzeug und Kissen geworfen worden. Raylan drehte sich zu Rachel um und machte eine Kopfbewegung Richtung Bett. Er selbst ging zur Badezimmertür, die nur angelehnt war, lauschte kurz und stieß sie auf.
Angel Arenas' Kopf lag in der Rundung der Badewanne, seine Haare trieben im Wasser, das ihm bis übers Kinn reichte, die Augen waren geschlossen, sein nackter Körper lang ausgestreckt in der bis zum Rand mit Eisstücken und sich rosa verfärbendem Wasser gefüllten Wanne.
Raylan sagte: »Angel ...?«, bekam keine Antwort und kniete sich vor die Wanne, um an Angels Hals nach dem Puls zu fühlen. »Er ist halb erfroren, atmet aber noch.«
Hinter sich hörte er Rachel sagen: »Raylan, das Bett ist voller Blut. Als ob er da drin Hühner geschlachtet hätte.« Beim Anblick von Angel zog sie scharf die Luft ein: »Oh mein Gott.« Raylan drehte den Knopf und ließ das Wasser ab. Während es um Angel herum ablief, wurde sein Bauch zu einer Insel in der Eiswasserwanne. An zwei Stellen der Insel war Blut.
»Irgendwas ist mit ihm passiert«, sagte Raylan. »Da sind Klammern, die aussehen, als wären es Wundklammern. Oder wurde er operiert?«
»Jemand hat auf ihn geschossen«, sagte Tim.
»Glaube ich nicht«, sagte Raylan und starrte auf die beiden mit Klammern verschlossenen Schnittwunden.
Rachel sagte: »Genauso haben sie's letztes Jahr im Krankenhaus bei meiner Mutter gemacht. Einen Schnitt haben sie unter die Rippen und einen unter den Bauchnabel gesetzt. Ich hab sie gefragt, warum da und nicht hinten am Rücken.«
Tim fragte: »Verrätst du uns vielleicht auch, was das für eine Operation war?«
»Sie haben ihr die Nieren rausgenommen«, sagte Rachel. »Beide, und sie hat noch am selben Tag zwei neue gekriegt, von einem Kind, das ertrunken war.«
Sie wickelten den zitternden Angel in eine Decke, trugen ihn ins Schlafzimmer und legten ihn aufs Bett. Sein Atem ging flach. Ohne die Augen zu öffnen, fragte er Raylan, der ihn anstarrte: »Was ist passiert?«
»Warst du hier, um einen Deal abzuwickeln?«
Angel zögerte. »Zwei Typen, die ich kenne. Bauen an. Wir haben was getrunken ...«
»Und dann bist du in der Wanne gelandet«, sagte Raylan. »Wie viel hast du bezahlt?«
»Geht Sie nichts an.«
»Haben sie das Gras dagelassen?«
»Sehen Sie doch«, sagte Angel.
»Hier ist keins.«
Angels Augen gingen auf. »Ich habe hundert Pfund gekauft, für zweiundzwanzigtausend Dollar. Hab's selbst gesehen, hab auch was getestet.«
»Du bist abgezogen worden«, sagte Raylan. »Die haben dich außer Gefecht gesetzt und sind mit der Kohle und dem Gras verschwunden.«
Die Augen schlossen sich wieder, und während er unter der Decke seinen Bauch abtastete, sagte Angel: »Mann, tut das weh. Was haben die mit mir gemacht?«
Raylan fühlte wieder Angels Puls. »Er hält durch, unser kleiner, zäher, was eigentlich? Puertoricaner? Dass ihn diese Hanfzüchter abziehen, kann ich mir ja vorstellen, aber warum nehmen sie seine Nieren mit?«
»Wie in dieser alten Geschichte«, sagte Tim. »Ein Mann wacht auf, und ihm fehlt eine Niere. Hat keine Ahnung, wer sie ihm rausgenommen hat. Wird immer mal wieder erzählt, aber bisher konnte nie jemand beweisen, dass an der Story was dran ist.«
»Jetzt ist es so«, sagte Raylan.
»Ohne Nieren kann man nicht leben«, sagte Tim.
»Nur schwer«, sagte Raylan. »Es sei denn, du kriegst schnell eine Dialyse. Ich kapiere nicht, was es diesen Haschbauern bringt, den Leuten die Nieren rauszureißen. Verdienen die mit ihrem Gras nicht genug? Eine ganze Leiche, hab ich mir sagen lassen, ist, wenn man sie in Teilen verkauft, an die Hunderttausend wert. Aber wer genug Gras verkauft, verdient mehr - und macht sich beileibe nicht so schmutzig wie beim Nieren-Dealen. Ich frage mich allerdings ...« Er hielt inne, dachte nach. Tim sagte: »Ja ...?«
»Wer hat die OP gemacht?«
Gegen Mittag kam Art Mullen, der leitende Marshal des Außendienstbüros von Harlan, im Motel vorbei. Raylan durchstöberte noch immer das Zimmer.
Art fragte: »Wonach suchst du eigentlich?«
»Die Techniker haben sich schon überall umgesehen und die Fingerabdrücke abgenommen«, sagte Raylan, »Angels Klamotten eingepackt, das blutige Verbandszeug, die Wundklammern und einen leeren Postsack. Aber keine Nieren. Wie geht's Angel?«
»Sie haben ihn auf die Intensivstation gebracht, er hängt an den Geräten.«
»Wird er's schaffen?«
»Obwohl halb tot, hält es ihn, denke ich, am Leben«, sagte Art, »dass er stinksauer darüber ist, von diesen Grasdealern abgezogen worden zu sein. Er behauptet, die hätten mitgenommen, was er für das Kraut bezahlt hat, und ihn dann dem Tod überlassen.«
»Und dass sie ihm die Nieren rausgeschnitten haben«, sagte Raylan, »hat er nicht erwähnt?«
»Ich hab ihn mehrfach danach gefragt«, erwiderte Art. »Ich hab zu ihm gesagt, ›verrat uns, was das für Jungs waren, und wir holen dir deine Nieren zurück.‹ Sofort fing er an zu hyper-ventilieren, und die Schwester hat mich rausgescheucht. Also, diese Nieren«, sagte Art, »hat jemand herausgenommen, der sein Handwerk versteht.«
Raylan sagte: »Ja, sie wurden von vorne rausgeschnitten.« »Man nimmt sie immer vorne raus. Aber das hier ist das neueste Vorgehen. Der Schnitt ist kleiner, und man durchtrennt keinen Muskel mehr.«
»Falls du nichts dagegen hast«, sagte Raylan, »würde ich gern
mal mit Angel sprechen. Ich kenne ihn ja schon seit damals, als
er wegen der Khat-Dealerei angeklagt war. Als ich in Miami Dienst am Gericht hatte. Angel und ich sind ziemlich gut miteinander klargekommen«, sagte Raylan. »Ich glaube, er hält mich für seinen Lebensretter.«
»Das bist du wahrscheinlich tatsächlich.«
»Deswegen hat er sicher nichts dagegen, sich mit mir zu unterhalten.«
»Er ist in Cumberland im Krankenhaus«, sagte Art. »Vielleicht lassen sie dich zu ihm, vielleicht auch nicht. Wo sind eigentlich deine Kollegen?«
»Es gab nichts Dringendes zu tun - ich hab sie zurück nach Harlan geschickt.«
»Sie haben den SUV genommen. Womit willst du jetzt fahren?«
»Wir haben doch Angels BMW«, meinte Raylan, »oder nicht?«
Angel lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Raylan beugte sich zu ihm hinunter, strich ihm die Haare aus dem Gesicht, bekam einen Hauch Krankenhausatem in die Nase und flüsterte: »Hier ist Raylan Givens, dein alter Gerichtskumpel aus Miami.« Angels Augen öffneten sich. »Erinnerst du dich, damals, als du wegen der Khat-Sache in den Knast gewandert bist ...«
Es sah aus, als versuchte Angel zu grinsen.
»Weißt du eigentlich«, sagte Raylan, »dass ich dir heute Morgen das Leben gerettet habe? Fünf Minuten länger in dem Eiswasser und du wärst erfroren. Du kannst dem Herrgott danken, dass ich rechtzeitig da war.«
»Warum waren Sie überhaupt da? Um mich zu verhaften?« »Du bist vielleicht ein bisschen blass, aber am Leben, Kollege, und das ist ja wohl die Hauptsache.«
Blass war untertrieben - Angel sah aus wie der leibhaftige Tod. »Mein Arm hängt an einer Maschine«, sagte Angel, »die den Dreck aus meinem Blut holt und mich am Leben hält, solange ich auf eine Niere warte. Es sei denn, ich habe einen Verwandten, so was wie einen Bruder, der mir sofort eine spendet.«
»Und, hast du einen Bruder?«
»Jemand besseren.«
Jetzt grinste er. Sehr breit. Raylan sagte: »Du weißt, dass ich nicht weitererzähle, woher du die Niere kriegst, wenn du nicht willst.«
»Das weiß sowieso schon jeder im Krankenhaus«, sagte Angel. »Die haben mir ein Fax geschickt. Können Sie sich das vorstellen? Die Schwester kam rein und hat's mir vorgelesen. Tanya heißt sie. Wunderschön und eine Haut wie Seide. Tanya, Mann. Hab sie gefragt, ob sie mit mir nach Lexington kommt, wenn's mir wieder besser geht. Krankenschwestern hab ich schon immer gemocht. Denen muss man nicht so viel Honig ums Maul schmieren.«
»Das Fax«, sagte Raylan. »Wie viel sollst du zahlen, um deine Nieren zurückzukriegen?«
»Diese Arschgesichter fordern hunderttausend«, sagte Angel. »Die haben vielleicht Nerven! Bringen gestern Abend einen Chirurgen mit, um mir die scheiß Nieren rauszuschneiden, und ziehen mich gleich doppelt ab, wenn man die Kohle mitzählt, die sie mir gestohlen haben. Sie schreiben, wenn ich nur eine Niere zurückwill, kostet es trotzdem hunderttausend.«
Raylan fragte: »Wissen die vom Krankenhaus Bescheid?« »Hab ich doch gesagt, alle wissen's, die Ärzte, die Schwestern, Tanya. Die haben das Fax geschickt, dann hat einer von denen im Krankenhaus angerufen und die Forderung gestellt. Wer sie gebracht hat, hat niemand gesehen.«
»Das Krankenhaus weiß also, dass das deine Nieren sind?« »Was ist daran eigentlich so schwer zu kapieren?«
»Und die machen da mit?«
»Sollen sie mich lieber sterben lassen? Die zahlen ja nicht für die Nieren.«
»Wann musst du das Geld zusammenhaben?«
»Sie sagen, sie geben mir ein bisschen Zeit, eine Woche oder so.«
»Du kennst diese Typen doch - sag mir einfach ihre Namen.« »Dann bringen die mich um. Ganz in Ruhe, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit.«
»Und holen sich dabei gleich deine Nieren wieder zurück«, sagte Raylan. »Ich glaube, von so was habe ich noch nie gehört. Du weißt, dass das Krankenhaus die Polizei gerufen hat.« »Die haben längst mit mir gesprochen. Hab ihnen gesagt, dass ich nicht weiß, wer die Typen sind. Hab die noch nie gesehen.« »Und du weißt auch nicht, wer ihnen die Anweisungen gibt?«, fragte Raylan.
Angel starrte ihn an. »Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Glaubst du etwa, deine Bekannten sind selbst draufgekommen, auf diese neue Art Geld zu machen? Die könnten sich doch einfach«, sagte Raylan, »jeden x-Beliebigen von der Straße holen, während der Arzt sich schon mal die Hände für die Operation wäscht. Warum sollten sie so wählerisch sein und den nächsten Deal mit dir abwarten?« Raylan legte eine Pause ein. Dann sagte er: »Wenn du willst, helfe ich dir aus der Klemme.«
»Aus was für einer Klemme? Haben Sie in meinem Motelzimmer vielleicht was gefunden? Ich bin Opfer eines Verbrechens geworden, und Sie wollen mich ins scheiß Gefängnis stecken, Mann?«
Endlich nahm das Gespräch die gewünschte Richtung, Angel lag bereits auf der Bahre, unterwegs zum OP, Raylan lief nebenher und sagte: »Gib mir einen Namen. Ich schwöre bei meiner Großmutter, dass du für keine von beiden zahlen musst.« Angel schüttelte den Kopf und sagte: »Sie haben keine Ahnung, wozu diese Leute fähig sind.«
»Vielleicht habe ich ja eine Ahnung, wenn du mir verrätst, wer sie sind.«
»Um die zu finden, müssen Sie aber raus in die Berge fahren.« »Das, mein Freund, ist mein Job.« Sie kamen zu einer Tür, die vor ihnen aufschwang. »Ich gebe Lexington telefonisch die Namen durch, und die mailen mir dann die Akten. Eventuell kenne ich die Typen sogar.«
Angel sagte: »Sie bauen Gras an, von hier bis nach West Virginia.«
Raylan sah ihn an: »Es sind die Crowes, oder?«
Zweites Kapitel
Südlich von Barbourville verließ Raylan den vierspurigen Highway und fuhr Richtung Osten, durchquerte auf na-men- und nummernlosen Teerstraßen und Schotterwe-
gen die geschundenen Berge von Knox County, wo die Gipfel skalpiert und, der Kohle durch Tagebau beraubt, zu Abraumhalden geworden sind, die Bäche verfärbt vom Grubenwasser. Raylan folgte dem Stinking Creek bis zu der Gabelung, an der die Siedlung Buckeye in Sicht kam, und da war er auch schon, oben hinter dem Friedhof, der Lebensmittelladen der Crowes, der Name stand auf einem Coca-Cola-Schild über der Tür: Crowe's Groceries & Feed.
Raylan ließ Angels BMW an der offenen Ladentür vorbeirollen und hielt an. In Somerset hatte er den Wagen waschen lassen, außerdem trug er für seinen Besuch einen dunklen Anzug und Krawatte, damit Mr. Crowe gleich den richtigen Eindruck von ihm bekam. In der Newsweek-Reportage über die Gegend des Stinking Creek war Pervis >Speed‹ Crowe als der größte Marihuanabauer in East Kentucky bezeichnet worden. Das Magazin zitierte Crowe: >Das müssen Sie erst mal beweisen. Ich betreibe einen Laden für diese armen Leute, die mit ihren Lebensmittelgutscheinen aus dem Tal hochkommen. Hat mich jemals irgendjemand Hanf anbauen sehen?‹
Und tatsächlich stand er hinter der Theke, an einer altmodischen Waage, mit der er Kartoffeln und Speck wog, auf den Regalen hinter ihm stapelten sich Säcke mit Mehl und Maisgrieß. Eier waren von zehn Cent das Stück herabgesetzt auf einen halben Dollar das Dutzend.
Für Raylan sahen diese Art Läden immer gleich aus, überall kauften die immer gleichen Leute wortlos das Lebensnotwendigste und überlegten eine Ewigkeit, ob sie noch neunundneunzig Cent für einen Biskuitkuchen, ein paar Süßigkeiten und Kool-Aid für ihre wartenden Kinder ausgeben sollten.
Ein junges Mädchen saß in Shorts auf Säcken mit Viehfutter und trank RC Cola. Als Kind hatte sich Raylan in solchen Läden abgelaufene Babygläschen gekauft, weil er so schnell wie möglich groß werden wollte, um Bundesbeamter werden zu können, einer, der bewaffnete Bösewichter verfolgte.
Das Mädchen auf den Viehfuttersäcken fixierte Raylan von unten, so, als wüsste es nicht, wo es ihn einordnen sollte und dächte lange darüber nach, was es zu ihm sagen könnte. Schließlich fragte es ihn sehr höflich: »Sir, fänden Sie es sehr dreist von mir, wissen zu wollen, was für einen Beruf Sie ausüben?«
Raylan lächelte. »Und was ist jetzt die Frage, wie ich das fände oder was ich beruflich mache?«
Pervis Crowe, der in der Newsweek nur ›Speed‹ genannt worden war, sagte: »Ein Mann im Anzug ist immer von der Drogenfahndung, das weißt du doch, Loretta. Kommen her und schnüffeln rum.«
»Sie liegen falsch«, sagte Raylan. »Ich bin vom Marshals Service. Wir spazieren durch die Gegend und schnuppern an Blumen, bis man uns irgendwann mal auf Verbrecherjagd schickt. Soweit ich weiß, Mr. Crowe, haben Sie zwei Söhne, die illegale Geschäfte machen.«
Pervis fragte: »Haben Sie Haftbefehle gegen sie?«
»Hätte ich das, wären sie längst hinter Schloss und Riegel«, sagte Raylan. »Und Sie würden die beiden für die nächsten zwanzig Jahre nicht mehr zu Gesicht kriegen.«
»Wo leben Sie denn?«, fragte Pervis. »Ich kenne keinen Richter, der mehr als ein paar Jährchen verhängt.«
»Mir kann's egal sein«, sagte Raylan. »Sind Sie eigentlich mit den Crowes in Florida verwandt?«
»Entfernt. Wie schlagen die sich so?«
»Sitzen oder sind tot«, sagte Raylan. »Einen von ihnen habe ich ins Gefängnis gebracht, als ich noch da unten gearbeitet habe. Ist Dewey Crowe vielleicht ein Verwandter von Ihnen? Trägt Krokodilzähne um den Hals und ist Mitglied in diesem HeilHitler-Club. Mir hat er erzählt, er komme aus Belle Glade.«
»Kann sein, dass ich mal von ihm gehört habe«, sagte Pervis, »aber interessieren tut er mich kein Stück.«
»Er lässt Ihnen ausrichten«, sagte Raylan, »dass er ein ganz böser Junge ist, aber darin noch besser werden muss. Und jetzt würde ich gern Ihre Söhne sprechen.«
»Die sind aus einem anderen Holz geschnitzt«, sagte Pervis. »Tragen jeden Tag saubere Klamotten und fahren Chevrolets.«
»Pick-ups«, korrigierte ihn Raylan, »mit Winchester-Gewehren, die sie in die Heckscheiben eingebaut haben. Ansonsten fahren sie Cadillacs. Ich hätte nichts dagegen, mich mit ihnen zu unterhalten, obwohl ich eigentlich nicht ihretwegen vorbeigekommen bin. Ich wollte mir eine Flasche Schnaps besorgen, um standesgemäß in Erinnerungen schwelgen zu können. Bin auf dem Weg nach Evarts, von da aus weiter Richtung Osten, wo ich als Junge nach Kohle gegraben habe.«
»Dann haben Sie also den Absprung geschafft«, sagte Pervis,
»bevor sich die schlechten Angewohnheiten eingeschlichen haben.«
»Glücklicherweise«, sagte Raylan. »Zur Schule zu gehen hat mir nichts ausgemacht, ich habe gerne Geschichten gelesen.« »Wenn nicht, würden Sie heute gesucht, weil Sie Drugstores überfallen«, sagte Pervis, »alle Beruhigungsmittel mitnehmen und an Leute verkaufen, die betäubt sein und nicht denken wollen.«
»Dürfen solche Leute bei Ihnen anschreiben lassen?«
»Die, die in ihrem Garten Hasch anbauen, dürfen. Wenn die eine Ernte verkaufen, zahlen sie ihre Schulden hier mit Hundertdollarscheinen.«
»Darf ich fragen, warum man Sie Speed nennt?«
Pervis war sehnig und gebeugt von seinen über siebzig Jahren, er trug ein Toupet, das gar nicht schlecht gemacht war, dem Raylan aber ansah, dass er es allmorgendlich aufsetzte. Der Scheitel war einfach zu sauber gezogen. Pervis legte sein Gesicht in tiefe Falten. Seit Raylan das Geschäft betreten hatte, hatte er nicht ein Mal gelächelt.
»Ich habe fünfundvierzigprozentigen Whiskey verkauft, klar wie Quellwasser, ohne eine Spur Holzkohle darin. Ich habe ihn aus einem Ford heraus verkauft, der aussah wie ein Laden mit ganz normalen Waren. Pausenlos bin ich hier durch die Hügel gefahren und so zu meinem Spitznamen gekommen. Sie müssen wissen, das ist fünfzig Jahre her. Ich bin Dirt-Track-Rennen gefahren, die Viertelmeile, und hätte es fast in die großen Rennserien geschafft. Dann traf ich auf Junior Johnson und musste mit ansehen, wie meine Zukunft zu Schrott gefahren wurde.«
»Heute verkaufen Sie Lebensmittel«, sagte Raylan, »und lassen Ihre anderen Geschäfte von Ihren Söhnen erledigen.«
Pervis erwiderte: »Jetzt kommen wir also so langsam zum Punkt.«
»Ich bin nicht von der DEA«, sagte Raylan. »Solange die von der Drogenfahndung nichts gegen Sie vorliegen haben, unternehme ich auch nichts. Aber soweit ich weiß, haben Sie Marihuanafelder, gute tausend Morgen, von hier bis nach West Virginia.«
»Was heißt hier gute tausend Morgen«, sagte Pervis. »Ein Drittel pflanzt man für die Polizei, ein Drittel für die Diebe, und den Rest verkauft man an Dealer, die dann den Reibach machen. Ich sage Ihnen das im Vertrauen, damit wir keine Zeit mit Lügen verschwenden. Ihren Vater habe ich nicht gekannt, aber ich schwöre bei Ihrem Großvater. Immerhin bin ich sechs Jahre lang nach Harlan rübergefahren und habe den gesamten Schnaps verkauft, den er gebrannt hat, und wir haben ziemlich gut daran verdient.«
Raylan sagte: »Ich dachte immer, er sei Priester gewesen.« »Unter der Woche hat er gebrannt und sonntags gepredigt«, sagte Pervis. »Junge, Sie kennen ja Ihre eigene Familie nicht!« »Mit Ihrem Sohn Coover bin ich zur Schule gegangen, bis er die abgebrochen hat, um in der Weltgeschichte herumzueiern und zu tun, worauf er gerade Lust hatte. Und Richard ...?« »Wird von allen seit seiner Kindheit Dickie genannt.«
»Ich bin mit folgendem Anliegen hier«, sagte Raylan. »Ihre Söhne sollen Geld für Gras genommen, es aber nie geliefert haben.«
»Sind Sie vom Better Business Büro«, fragte Pervis, »und gehen Kundenbeschwerden nach? Das kenne ich irgendwie. Dieser Depp von der DEA kommt auch immer mit seinen Anzugschuhen her und bezahlt, bevor er das Dope überhaupt bekommen hat. Viel zu ängstlich, will die Sache schnell über
die Bühne bringen. Als ob er, weil er glaubt, es käme nur Luft, losfurzt und sich dann doch vollscheißt. Ich soll Ihnen also glauben, dass meine Jungs jemanden betrogen haben?«
Mit unbewegter Miene sagte Raylan: »Ich weiß, dass Sie Ihre Söhne lieben. Hin und wieder bemerken Sie aber sicher selbst, was aus Ihnen geworden ist. Sie haben mich falsch verstanden. Kein Beamter hat den Deal gemacht, sondern ein gesuchter Krimineller. Ich bin mit dem Haftbefehl in der Tasche zu seinem Motelzimmer gefahren.«
Raylan gab Pervis Zeit, sich dazu zu äußern, aber es kam nichts. »Im Zimmer habe ich Angel Arenas gefunden«, sagte Raylan, »ohne seine Nieren.«
Raylan wartete wieder, während Pervis ihn anstarrte. »Nackt in einem Eisbad.«
Pervis fragte: »Der Junge vermisst seine Nieren?«
»Später, da lag er schon im Krankenhaus, wurden sie ihm zum Kauf angeboten, für einhunderttausend Dollar.«
Raylan wartete erneut und sagte dann: »Aber er wird dafür nicht bezahlen müssen.«
Pervis fragte nicht, warum, er sagte einfach gar nichts.
Raylan fuhr fort: »Wir, die Marshals, sind jetzt an dem Fall dran. Und wir werden dieses neue Geschäftsmodell unterbinden.«
»Und Sie sagen mir ins Gesicht«, sagte Pervis, »dass meine Jungs diesen Mann aufgeschnitten und seine Nieren entfernt haben?«
»Ich glaube, sie hatten jemanden dabei, der wusste, wie man das macht. Und wer auch immer das war«, sagte Raylan, »ich werde ihn finden.«
Jetzt holte Pervis doch ein Päckchen Camels aus der Hemdta-
sche, zündete sich eine an und stieß, als müsse er sich beruhi-
gen, eine Rauchfahne aus. Schließlich sagte er: »Also, ich weiß nur, meine Jungs waren's nicht. Wer hat Ihnen das erzählt?« »Der Mann, der darauf wartet, seine Nieren zurückzubekommen«, sagte Raylan.
»Er hat die Namen meiner Jungs genannt?«
»Erst wollte er nicht, aber dann schon.«
»Er hat«, sagte Pervis, »wegen dem geplatzten Deal gelogen. Meine Jungs züchten Hanf, aber sie schneiden niemandem wegen seiner Organe den Körper auf. Noch nicht mal, wenn sie wüssten, wie.«
»Die schießen doch auch Hasen«, sagte Raylan, »und wissen, wie man denen das Fell abzieht und sie ausnimmt.«
Seine Geduld mit dem alten Mann ging zu Ende, mit diesem ehemaligen Schmuggler und Dirt-Track-Fahrer, der ihn mit zwischen die Finger geklemmter Zigarette anstarrte. Raylan sagte zu ihm: »Mr. Crowe, bei allem Respekt für Ihre Gefühle, aber ich werde mit Ihren Söhnen reden müssen, gerne auch in Ihrer Gegenwart. Sollten Sie sie nicht dazu bewegen, uns morgen einen Besuch abzustatten, werde ich sie holen kommen.« »Ich habe immer geglaubt«, sagte Pervis, »dass wir hier in Sachen Broterwerb gute zwanzig Jahre hinterherhinken. Ich mag es so. Und jetzt erzählen Sie mir, dass wir aufholen und in ein neues Geschäftsfeld vorstoßen, indem wir Körperteile verkaufen.«
»Sie haben sich mit Ihrem Marihuana-Großhandel schon selbst auf den neuesten Stand gebracht«, sagte Raylan. »Die DEA hält Ihre Söhne übrigens für Hightech-Proleten, die in Cadillacs durch die Gegend fahren und über Handy miteinander sprechen.«
»Sollten Sie meine Söhne je direkt mit diesen Vorwürfen
belästigen«, sagte Pervis und holte unter der Theke eine Fla-
sche Schwarzgebrannten hervor, klaren Whiskey, in dem ein Pfirsich schwamm, »wird das hier zumindest Ihre Schmerzen lindern.«
Pervis setzte sich den grauen Hut mit der Faltkrempe auf, den er seit Jahrzehnten trug, und ging über den Bohlenweg die fünfzig Meter hinauf zu seinem Haus, einem zweistöckigen weißen Holzhaus, das er neu streichen lassen müsste, es zeigte langsam Witterungsspuren. Er ging ins Badezimmer und pinkelte, schüttelte sich die Tröpfchen vom Schwanz und machte sich wieder auf den Weg, es half ja alles nichts.
Rita saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und sah sich Zeit der Sehnsucht an. Beim Näherkommen fiel ihm auf, dass sie schlief, in ihrer Dienstmädchenuniform, die nackten Beine ragten aus dem Rock, der ihr geradeso über den Hintern reichte.
Rita war schwarz, so schwarz wie Ebenholz, Mann, Mann, Mann, Pervis hatte in der Schlange der Bewerberinnen für den Job die Königin von Afrika gefunden. Er hatte zu ihr gesagt: »Du willst untertauchen, oder? Du weißt, wie man an Zeug kommt? Auch egal. Kannst du kochen?«
Darauf Rita: »Worauf hätten Sie denn Appetit?«
Seitdem war sie sein Hausmädchen und kochte so lala, meistens mexikanisch. Pervis bezahlte ihr hundert Dollar pro Tag, täglich beim Abendessen. Letztens hatte er sie mal gefragt: »Wie viel hast du eigentlich in deinem Koffer? Dem im Schrank?« Er dachte nach und sagte: »Himmelarsch, es müssen locker hunderttausend sein.«
»Hundertfünf«, sagte Rita. »Aber die sind nicht im Koffer.« »Willst du kündigen?«
»Irgendwie musste ich die Kohle ja anlegen, also hab ich alles
in Gras gesteckt, das ich günstig von dir gekriegt habe, weil wir
uns über alles lieben. Immerhin juckt es dich mindestens einmal pro Woche im Schwanz, und wer sagt dann jedes Mal, Zeit, in die Heia zu gehen?«
Pervis fragte: »Du willst dealen?« Als ob er seinen Ohren nicht traute. »Das ist alles? Du willst, dass ich dich ins Geschäft bringe? Sag's mir.«
Schon fühlte er sich besser, erleichtert. Er würde sie unterstützen, Hauptsache, sie bliebe bei ihm. Sie würden alles besprechen. Jetzt musste er erst mal Bob Valdez treffen. Er setzte sich neben das Telefon und wählte Bobs Nummer. Ließ es ein paar Mal klingeln, legte auf, wartete einen Augenblick und wählte erneut.
Diesmal wurde abgenommen: »Bob Valdez, was kann ich für Sie tun?«
»Bob«, sagte Pervis, »du sollst dein Handy immer bei dir haben, habe ich dir das nicht schon mal gesagt? Ich glaube, ja.« Bob bekam keine Gelegenheit, darauf etwas zu erwidern, Pervis befahl ihm, »rühr dich nicht vom Fleck, ich komme vorbei!«, und legte auf.
Übersetzung: Kirsten Riesselmann
© Suhrkamp Verlag Berlin 2013
Copyright © Elmore Leonard, 2012
Raylan Givens hatte einen Haftbefehl in der Hand, der einem im Marihuanageschäft tätigen Mann, bekannt als Angel Arenas, siebenundvierzig, geboren in den USA,
aber hundert Prozent Hispano, zugestellt werden sollte.
»Den kenne ich«, sagte Raylan, »von damals, als ich in Miami Dienst am Gericht hatte und er angeklagt war, weil er mit Kath gedealt hatte. Diese arabische Pflanze, auf der man rumkaut und high wird.«
»Nur mittelhigh«, sagte Rachel Brooks auf dem Beifahrersitz des SUV, Raylan saß am Steuer, hinter ihnen schob sich die Morgensonne über den Horizont. »Kath breitet sich gerade überall aus, wird in Kalifornien angebaut, große Sache bei den echten Afrikanern in San Diego.«
»Wenn man das Zeug kauft, sollte man sichergehen, dass es erst am Vormittag gepflückt wurde«, sagte Raylan. »Dann ist man einen Tag lang high, und das war's.«
»Ein paar Freunde von mir«, sagte Rachel, »kauen es auch hin und wieder. Aber auf dumme Gedanken kommen die nicht davon, es scheint ihnen Spaß zu machen. Sieht immer so aus, als ob sie sich einfach extrem entspannen damit.«
»Ein bisschen träumen«, sagte Raylan.
»Weswegen muss Angel in den Knast?«
»Hat nach sechsunddreißig von vierzig Monaten wieder Gras verkauft. Seine Bewährungsauflagen verletzt. Den Deal soll er über den Rastafari, der diese Kirche gegründet hat, eingefädelt haben, wie heißt die noch?«
»Temple of the Cool and Beautiful J. C.«, sagte Rachel. »Israel Fendi, der mit den Dreads, dieser Äthiopier aus Jamaika. Und, war er wirklich an dem Deal beteiligt?«
»Nicht im Entferntesten. Aber irgendjemand hat Angel die Sache angehängt, so ein Kiffer, der auf ein milderes Urteil hofft. Schwört, dass Angel gestern Abend eine Lieferung entgegengenommen hat. Ich bezweifle, dass Angel noch was dahat, wenn wir kommen.«
Vom Rücksitz ließ sich Tim Gutterson vernehmen: »Diesmal kriegt er zwanzig Jahre.« Tim ging einen Aktenordner mit Bildern von Angel Arenas durch und blieb bei einem Fahndungsfoto hängen.
»Seht euch das Grinsen an. Der wirkt doch harmlos, als hätte er im Leben noch keine Waffe angerührt.«
»Soweit ich weiß«, sagte Raylan, »trägt er auch nie eine Waffe. Und mit bewaffneten Gangstern umgeben tut er sich ebenfalls nicht.«
Der SUV folgte den Funkwagen der Staatspolizei durch einen flachen Teil von East Kentucky, am Ufer eines Sees entlang, der, so wie er sich abwärts in Richtung der Grenze nach Tennessee schlängelte, eher wie ein Fluss aussah. Kurz vor sechs Uhr morgens hielten sie vor dem Cumberland Inn.
Zu viert sahen die Polizisten zu, wie Raylan und seine Mannschaft kugelsichere Westen anlegten, die Marshal-Sakkos wieder darüberzogen und ihre Pistolen überprüften. Raylan sagte zu den Beamten, er erwarte keine Gegenwehr von Angel, aber ganz sicher sein könne man nie. Er fügte hinzu: »Wenn ihr Schüsse hört, kommt ihr sofort, okay?«
Einer der Polizisten erwiderte: »Wenn Sie wollen, sprengen wir die Tür für Sie auf.«
»Das würdet ihr wohl gern«, sagte Raylan. »Ich hatte eigentlich vor, mir an der Rezeption einen Schlüssel geben zu lassen.«
Die Polizisten mochten den Marshal, der früher Bergmann in Harlan County gewesen war, aber mittlerweile klang, als sei er sein Leben lang Bulle gewesen. Ihnen gefiel seine Einstellung zum Beruf. An diesem Morgen sahen sie dabei zu, wie er das Motelzimmer eines flüchtigen Kriminellen betrat, ohne die Waffe zu ziehen.
Alles war ruhig, nur die Klimaanlage brummte. Sonnenlicht fiel durch die Fenster auf das ungemachte Kingsize-Bett, die Tagesdecke war flüchtig über Bettzeug und Kissen geworfen worden. Raylan drehte sich zu Rachel um und machte eine Kopfbewegung Richtung Bett. Er selbst ging zur Badezimmertür, die nur angelehnt war, lauschte kurz und stieß sie auf.
Angel Arenas' Kopf lag in der Rundung der Badewanne, seine Haare trieben im Wasser, das ihm bis übers Kinn reichte, die Augen waren geschlossen, sein nackter Körper lang ausgestreckt in der bis zum Rand mit Eisstücken und sich rosa verfärbendem Wasser gefüllten Wanne.
Raylan sagte: »Angel ...?«, bekam keine Antwort und kniete sich vor die Wanne, um an Angels Hals nach dem Puls zu fühlen. »Er ist halb erfroren, atmet aber noch.«
Hinter sich hörte er Rachel sagen: »Raylan, das Bett ist voller Blut. Als ob er da drin Hühner geschlachtet hätte.« Beim Anblick von Angel zog sie scharf die Luft ein: »Oh mein Gott.« Raylan drehte den Knopf und ließ das Wasser ab. Während es um Angel herum ablief, wurde sein Bauch zu einer Insel in der Eiswasserwanne. An zwei Stellen der Insel war Blut.
»Irgendwas ist mit ihm passiert«, sagte Raylan. »Da sind Klammern, die aussehen, als wären es Wundklammern. Oder wurde er operiert?«
»Jemand hat auf ihn geschossen«, sagte Tim.
»Glaube ich nicht«, sagte Raylan und starrte auf die beiden mit Klammern verschlossenen Schnittwunden.
Rachel sagte: »Genauso haben sie's letztes Jahr im Krankenhaus bei meiner Mutter gemacht. Einen Schnitt haben sie unter die Rippen und einen unter den Bauchnabel gesetzt. Ich hab sie gefragt, warum da und nicht hinten am Rücken.«
Tim fragte: »Verrätst du uns vielleicht auch, was das für eine Operation war?«
»Sie haben ihr die Nieren rausgenommen«, sagte Rachel. »Beide, und sie hat noch am selben Tag zwei neue gekriegt, von einem Kind, das ertrunken war.«
Sie wickelten den zitternden Angel in eine Decke, trugen ihn ins Schlafzimmer und legten ihn aufs Bett. Sein Atem ging flach. Ohne die Augen zu öffnen, fragte er Raylan, der ihn anstarrte: »Was ist passiert?«
»Warst du hier, um einen Deal abzuwickeln?«
Angel zögerte. »Zwei Typen, die ich kenne. Bauen an. Wir haben was getrunken ...«
»Und dann bist du in der Wanne gelandet«, sagte Raylan. »Wie viel hast du bezahlt?«
»Geht Sie nichts an.«
»Haben sie das Gras dagelassen?«
»Sehen Sie doch«, sagte Angel.
»Hier ist keins.«
Angels Augen gingen auf. »Ich habe hundert Pfund gekauft, für zweiundzwanzigtausend Dollar. Hab's selbst gesehen, hab auch was getestet.«
»Du bist abgezogen worden«, sagte Raylan. »Die haben dich außer Gefecht gesetzt und sind mit der Kohle und dem Gras verschwunden.«
Die Augen schlossen sich wieder, und während er unter der Decke seinen Bauch abtastete, sagte Angel: »Mann, tut das weh. Was haben die mit mir gemacht?«
Raylan fühlte wieder Angels Puls. »Er hält durch, unser kleiner, zäher, was eigentlich? Puertoricaner? Dass ihn diese Hanfzüchter abziehen, kann ich mir ja vorstellen, aber warum nehmen sie seine Nieren mit?«
»Wie in dieser alten Geschichte«, sagte Tim. »Ein Mann wacht auf, und ihm fehlt eine Niere. Hat keine Ahnung, wer sie ihm rausgenommen hat. Wird immer mal wieder erzählt, aber bisher konnte nie jemand beweisen, dass an der Story was dran ist.«
»Jetzt ist es so«, sagte Raylan.
»Ohne Nieren kann man nicht leben«, sagte Tim.
»Nur schwer«, sagte Raylan. »Es sei denn, du kriegst schnell eine Dialyse. Ich kapiere nicht, was es diesen Haschbauern bringt, den Leuten die Nieren rauszureißen. Verdienen die mit ihrem Gras nicht genug? Eine ganze Leiche, hab ich mir sagen lassen, ist, wenn man sie in Teilen verkauft, an die Hunderttausend wert. Aber wer genug Gras verkauft, verdient mehr - und macht sich beileibe nicht so schmutzig wie beim Nieren-Dealen. Ich frage mich allerdings ...« Er hielt inne, dachte nach. Tim sagte: »Ja ...?«
»Wer hat die OP gemacht?«
Gegen Mittag kam Art Mullen, der leitende Marshal des Außendienstbüros von Harlan, im Motel vorbei. Raylan durchstöberte noch immer das Zimmer.
Art fragte: »Wonach suchst du eigentlich?«
»Die Techniker haben sich schon überall umgesehen und die Fingerabdrücke abgenommen«, sagte Raylan, »Angels Klamotten eingepackt, das blutige Verbandszeug, die Wundklammern und einen leeren Postsack. Aber keine Nieren. Wie geht's Angel?«
»Sie haben ihn auf die Intensivstation gebracht, er hängt an den Geräten.«
»Wird er's schaffen?«
»Obwohl halb tot, hält es ihn, denke ich, am Leben«, sagte Art, »dass er stinksauer darüber ist, von diesen Grasdealern abgezogen worden zu sein. Er behauptet, die hätten mitgenommen, was er für das Kraut bezahlt hat, und ihn dann dem Tod überlassen.«
»Und dass sie ihm die Nieren rausgeschnitten haben«, sagte Raylan, »hat er nicht erwähnt?«
»Ich hab ihn mehrfach danach gefragt«, erwiderte Art. »Ich hab zu ihm gesagt, ›verrat uns, was das für Jungs waren, und wir holen dir deine Nieren zurück.‹ Sofort fing er an zu hyper-ventilieren, und die Schwester hat mich rausgescheucht. Also, diese Nieren«, sagte Art, »hat jemand herausgenommen, der sein Handwerk versteht.«
Raylan sagte: »Ja, sie wurden von vorne rausgeschnitten.« »Man nimmt sie immer vorne raus. Aber das hier ist das neueste Vorgehen. Der Schnitt ist kleiner, und man durchtrennt keinen Muskel mehr.«
»Falls du nichts dagegen hast«, sagte Raylan, »würde ich gern
mal mit Angel sprechen. Ich kenne ihn ja schon seit damals, als
er wegen der Khat-Dealerei angeklagt war. Als ich in Miami Dienst am Gericht hatte. Angel und ich sind ziemlich gut miteinander klargekommen«, sagte Raylan. »Ich glaube, er hält mich für seinen Lebensretter.«
»Das bist du wahrscheinlich tatsächlich.«
»Deswegen hat er sicher nichts dagegen, sich mit mir zu unterhalten.«
»Er ist in Cumberland im Krankenhaus«, sagte Art. »Vielleicht lassen sie dich zu ihm, vielleicht auch nicht. Wo sind eigentlich deine Kollegen?«
»Es gab nichts Dringendes zu tun - ich hab sie zurück nach Harlan geschickt.«
»Sie haben den SUV genommen. Womit willst du jetzt fahren?«
»Wir haben doch Angels BMW«, meinte Raylan, »oder nicht?«
Angel lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Raylan beugte sich zu ihm hinunter, strich ihm die Haare aus dem Gesicht, bekam einen Hauch Krankenhausatem in die Nase und flüsterte: »Hier ist Raylan Givens, dein alter Gerichtskumpel aus Miami.« Angels Augen öffneten sich. »Erinnerst du dich, damals, als du wegen der Khat-Sache in den Knast gewandert bist ...«
Es sah aus, als versuchte Angel zu grinsen.
»Weißt du eigentlich«, sagte Raylan, »dass ich dir heute Morgen das Leben gerettet habe? Fünf Minuten länger in dem Eiswasser und du wärst erfroren. Du kannst dem Herrgott danken, dass ich rechtzeitig da war.«
»Warum waren Sie überhaupt da? Um mich zu verhaften?« »Du bist vielleicht ein bisschen blass, aber am Leben, Kollege, und das ist ja wohl die Hauptsache.«
Blass war untertrieben - Angel sah aus wie der leibhaftige Tod. »Mein Arm hängt an einer Maschine«, sagte Angel, »die den Dreck aus meinem Blut holt und mich am Leben hält, solange ich auf eine Niere warte. Es sei denn, ich habe einen Verwandten, so was wie einen Bruder, der mir sofort eine spendet.«
»Und, hast du einen Bruder?«
»Jemand besseren.«
Jetzt grinste er. Sehr breit. Raylan sagte: »Du weißt, dass ich nicht weitererzähle, woher du die Niere kriegst, wenn du nicht willst.«
»Das weiß sowieso schon jeder im Krankenhaus«, sagte Angel. »Die haben mir ein Fax geschickt. Können Sie sich das vorstellen? Die Schwester kam rein und hat's mir vorgelesen. Tanya heißt sie. Wunderschön und eine Haut wie Seide. Tanya, Mann. Hab sie gefragt, ob sie mit mir nach Lexington kommt, wenn's mir wieder besser geht. Krankenschwestern hab ich schon immer gemocht. Denen muss man nicht so viel Honig ums Maul schmieren.«
»Das Fax«, sagte Raylan. »Wie viel sollst du zahlen, um deine Nieren zurückzukriegen?«
»Diese Arschgesichter fordern hunderttausend«, sagte Angel. »Die haben vielleicht Nerven! Bringen gestern Abend einen Chirurgen mit, um mir die scheiß Nieren rauszuschneiden, und ziehen mich gleich doppelt ab, wenn man die Kohle mitzählt, die sie mir gestohlen haben. Sie schreiben, wenn ich nur eine Niere zurückwill, kostet es trotzdem hunderttausend.«
Raylan fragte: »Wissen die vom Krankenhaus Bescheid?« »Hab ich doch gesagt, alle wissen's, die Ärzte, die Schwestern, Tanya. Die haben das Fax geschickt, dann hat einer von denen im Krankenhaus angerufen und die Forderung gestellt. Wer sie gebracht hat, hat niemand gesehen.«
»Das Krankenhaus weiß also, dass das deine Nieren sind?« »Was ist daran eigentlich so schwer zu kapieren?«
»Und die machen da mit?«
»Sollen sie mich lieber sterben lassen? Die zahlen ja nicht für die Nieren.«
»Wann musst du das Geld zusammenhaben?«
»Sie sagen, sie geben mir ein bisschen Zeit, eine Woche oder so.«
»Du kennst diese Typen doch - sag mir einfach ihre Namen.« »Dann bringen die mich um. Ganz in Ruhe, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit.«
»Und holen sich dabei gleich deine Nieren wieder zurück«, sagte Raylan. »Ich glaube, von so was habe ich noch nie gehört. Du weißt, dass das Krankenhaus die Polizei gerufen hat.« »Die haben längst mit mir gesprochen. Hab ihnen gesagt, dass ich nicht weiß, wer die Typen sind. Hab die noch nie gesehen.« »Und du weißt auch nicht, wer ihnen die Anweisungen gibt?«, fragte Raylan.
Angel starrte ihn an. »Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Glaubst du etwa, deine Bekannten sind selbst draufgekommen, auf diese neue Art Geld zu machen? Die könnten sich doch einfach«, sagte Raylan, »jeden x-Beliebigen von der Straße holen, während der Arzt sich schon mal die Hände für die Operation wäscht. Warum sollten sie so wählerisch sein und den nächsten Deal mit dir abwarten?« Raylan legte eine Pause ein. Dann sagte er: »Wenn du willst, helfe ich dir aus der Klemme.«
»Aus was für einer Klemme? Haben Sie in meinem Motelzimmer vielleicht was gefunden? Ich bin Opfer eines Verbrechens geworden, und Sie wollen mich ins scheiß Gefängnis stecken, Mann?«
Endlich nahm das Gespräch die gewünschte Richtung, Angel lag bereits auf der Bahre, unterwegs zum OP, Raylan lief nebenher und sagte: »Gib mir einen Namen. Ich schwöre bei meiner Großmutter, dass du für keine von beiden zahlen musst.« Angel schüttelte den Kopf und sagte: »Sie haben keine Ahnung, wozu diese Leute fähig sind.«
»Vielleicht habe ich ja eine Ahnung, wenn du mir verrätst, wer sie sind.«
»Um die zu finden, müssen Sie aber raus in die Berge fahren.« »Das, mein Freund, ist mein Job.« Sie kamen zu einer Tür, die vor ihnen aufschwang. »Ich gebe Lexington telefonisch die Namen durch, und die mailen mir dann die Akten. Eventuell kenne ich die Typen sogar.«
Angel sagte: »Sie bauen Gras an, von hier bis nach West Virginia.«
Raylan sah ihn an: »Es sind die Crowes, oder?«
Zweites Kapitel
Südlich von Barbourville verließ Raylan den vierspurigen Highway und fuhr Richtung Osten, durchquerte auf na-men- und nummernlosen Teerstraßen und Schotterwe-
gen die geschundenen Berge von Knox County, wo die Gipfel skalpiert und, der Kohle durch Tagebau beraubt, zu Abraumhalden geworden sind, die Bäche verfärbt vom Grubenwasser. Raylan folgte dem Stinking Creek bis zu der Gabelung, an der die Siedlung Buckeye in Sicht kam, und da war er auch schon, oben hinter dem Friedhof, der Lebensmittelladen der Crowes, der Name stand auf einem Coca-Cola-Schild über der Tür: Crowe's Groceries & Feed.
Raylan ließ Angels BMW an der offenen Ladentür vorbeirollen und hielt an. In Somerset hatte er den Wagen waschen lassen, außerdem trug er für seinen Besuch einen dunklen Anzug und Krawatte, damit Mr. Crowe gleich den richtigen Eindruck von ihm bekam. In der Newsweek-Reportage über die Gegend des Stinking Creek war Pervis >Speed‹ Crowe als der größte Marihuanabauer in East Kentucky bezeichnet worden. Das Magazin zitierte Crowe: >Das müssen Sie erst mal beweisen. Ich betreibe einen Laden für diese armen Leute, die mit ihren Lebensmittelgutscheinen aus dem Tal hochkommen. Hat mich jemals irgendjemand Hanf anbauen sehen?‹
Und tatsächlich stand er hinter der Theke, an einer altmodischen Waage, mit der er Kartoffeln und Speck wog, auf den Regalen hinter ihm stapelten sich Säcke mit Mehl und Maisgrieß. Eier waren von zehn Cent das Stück herabgesetzt auf einen halben Dollar das Dutzend.
Für Raylan sahen diese Art Läden immer gleich aus, überall kauften die immer gleichen Leute wortlos das Lebensnotwendigste und überlegten eine Ewigkeit, ob sie noch neunundneunzig Cent für einen Biskuitkuchen, ein paar Süßigkeiten und Kool-Aid für ihre wartenden Kinder ausgeben sollten.
Ein junges Mädchen saß in Shorts auf Säcken mit Viehfutter und trank RC Cola. Als Kind hatte sich Raylan in solchen Läden abgelaufene Babygläschen gekauft, weil er so schnell wie möglich groß werden wollte, um Bundesbeamter werden zu können, einer, der bewaffnete Bösewichter verfolgte.
Das Mädchen auf den Viehfuttersäcken fixierte Raylan von unten, so, als wüsste es nicht, wo es ihn einordnen sollte und dächte lange darüber nach, was es zu ihm sagen könnte. Schließlich fragte es ihn sehr höflich: »Sir, fänden Sie es sehr dreist von mir, wissen zu wollen, was für einen Beruf Sie ausüben?«
Raylan lächelte. »Und was ist jetzt die Frage, wie ich das fände oder was ich beruflich mache?«
Pervis Crowe, der in der Newsweek nur ›Speed‹ genannt worden war, sagte: »Ein Mann im Anzug ist immer von der Drogenfahndung, das weißt du doch, Loretta. Kommen her und schnüffeln rum.«
»Sie liegen falsch«, sagte Raylan. »Ich bin vom Marshals Service. Wir spazieren durch die Gegend und schnuppern an Blumen, bis man uns irgendwann mal auf Verbrecherjagd schickt. Soweit ich weiß, Mr. Crowe, haben Sie zwei Söhne, die illegale Geschäfte machen.«
Pervis fragte: »Haben Sie Haftbefehle gegen sie?«
»Hätte ich das, wären sie längst hinter Schloss und Riegel«, sagte Raylan. »Und Sie würden die beiden für die nächsten zwanzig Jahre nicht mehr zu Gesicht kriegen.«
»Wo leben Sie denn?«, fragte Pervis. »Ich kenne keinen Richter, der mehr als ein paar Jährchen verhängt.«
»Mir kann's egal sein«, sagte Raylan. »Sind Sie eigentlich mit den Crowes in Florida verwandt?«
»Entfernt. Wie schlagen die sich so?«
»Sitzen oder sind tot«, sagte Raylan. »Einen von ihnen habe ich ins Gefängnis gebracht, als ich noch da unten gearbeitet habe. Ist Dewey Crowe vielleicht ein Verwandter von Ihnen? Trägt Krokodilzähne um den Hals und ist Mitglied in diesem HeilHitler-Club. Mir hat er erzählt, er komme aus Belle Glade.«
»Kann sein, dass ich mal von ihm gehört habe«, sagte Pervis, »aber interessieren tut er mich kein Stück.«
»Er lässt Ihnen ausrichten«, sagte Raylan, »dass er ein ganz böser Junge ist, aber darin noch besser werden muss. Und jetzt würde ich gern Ihre Söhne sprechen.«
»Die sind aus einem anderen Holz geschnitzt«, sagte Pervis. »Tragen jeden Tag saubere Klamotten und fahren Chevrolets.«
»Pick-ups«, korrigierte ihn Raylan, »mit Winchester-Gewehren, die sie in die Heckscheiben eingebaut haben. Ansonsten fahren sie Cadillacs. Ich hätte nichts dagegen, mich mit ihnen zu unterhalten, obwohl ich eigentlich nicht ihretwegen vorbeigekommen bin. Ich wollte mir eine Flasche Schnaps besorgen, um standesgemäß in Erinnerungen schwelgen zu können. Bin auf dem Weg nach Evarts, von da aus weiter Richtung Osten, wo ich als Junge nach Kohle gegraben habe.«
»Dann haben Sie also den Absprung geschafft«, sagte Pervis,
»bevor sich die schlechten Angewohnheiten eingeschlichen haben.«
»Glücklicherweise«, sagte Raylan. »Zur Schule zu gehen hat mir nichts ausgemacht, ich habe gerne Geschichten gelesen.« »Wenn nicht, würden Sie heute gesucht, weil Sie Drugstores überfallen«, sagte Pervis, »alle Beruhigungsmittel mitnehmen und an Leute verkaufen, die betäubt sein und nicht denken wollen.«
»Dürfen solche Leute bei Ihnen anschreiben lassen?«
»Die, die in ihrem Garten Hasch anbauen, dürfen. Wenn die eine Ernte verkaufen, zahlen sie ihre Schulden hier mit Hundertdollarscheinen.«
»Darf ich fragen, warum man Sie Speed nennt?«
Pervis war sehnig und gebeugt von seinen über siebzig Jahren, er trug ein Toupet, das gar nicht schlecht gemacht war, dem Raylan aber ansah, dass er es allmorgendlich aufsetzte. Der Scheitel war einfach zu sauber gezogen. Pervis legte sein Gesicht in tiefe Falten. Seit Raylan das Geschäft betreten hatte, hatte er nicht ein Mal gelächelt.
»Ich habe fünfundvierzigprozentigen Whiskey verkauft, klar wie Quellwasser, ohne eine Spur Holzkohle darin. Ich habe ihn aus einem Ford heraus verkauft, der aussah wie ein Laden mit ganz normalen Waren. Pausenlos bin ich hier durch die Hügel gefahren und so zu meinem Spitznamen gekommen. Sie müssen wissen, das ist fünfzig Jahre her. Ich bin Dirt-Track-Rennen gefahren, die Viertelmeile, und hätte es fast in die großen Rennserien geschafft. Dann traf ich auf Junior Johnson und musste mit ansehen, wie meine Zukunft zu Schrott gefahren wurde.«
»Heute verkaufen Sie Lebensmittel«, sagte Raylan, »und lassen Ihre anderen Geschäfte von Ihren Söhnen erledigen.«
Pervis erwiderte: »Jetzt kommen wir also so langsam zum Punkt.«
»Ich bin nicht von der DEA«, sagte Raylan. »Solange die von der Drogenfahndung nichts gegen Sie vorliegen haben, unternehme ich auch nichts. Aber soweit ich weiß, haben Sie Marihuanafelder, gute tausend Morgen, von hier bis nach West Virginia.«
»Was heißt hier gute tausend Morgen«, sagte Pervis. »Ein Drittel pflanzt man für die Polizei, ein Drittel für die Diebe, und den Rest verkauft man an Dealer, die dann den Reibach machen. Ich sage Ihnen das im Vertrauen, damit wir keine Zeit mit Lügen verschwenden. Ihren Vater habe ich nicht gekannt, aber ich schwöre bei Ihrem Großvater. Immerhin bin ich sechs Jahre lang nach Harlan rübergefahren und habe den gesamten Schnaps verkauft, den er gebrannt hat, und wir haben ziemlich gut daran verdient.«
Raylan sagte: »Ich dachte immer, er sei Priester gewesen.« »Unter der Woche hat er gebrannt und sonntags gepredigt«, sagte Pervis. »Junge, Sie kennen ja Ihre eigene Familie nicht!« »Mit Ihrem Sohn Coover bin ich zur Schule gegangen, bis er die abgebrochen hat, um in der Weltgeschichte herumzueiern und zu tun, worauf er gerade Lust hatte. Und Richard ...?« »Wird von allen seit seiner Kindheit Dickie genannt.«
»Ich bin mit folgendem Anliegen hier«, sagte Raylan. »Ihre Söhne sollen Geld für Gras genommen, es aber nie geliefert haben.«
»Sind Sie vom Better Business Büro«, fragte Pervis, »und gehen Kundenbeschwerden nach? Das kenne ich irgendwie. Dieser Depp von der DEA kommt auch immer mit seinen Anzugschuhen her und bezahlt, bevor er das Dope überhaupt bekommen hat. Viel zu ängstlich, will die Sache schnell über
die Bühne bringen. Als ob er, weil er glaubt, es käme nur Luft, losfurzt und sich dann doch vollscheißt. Ich soll Ihnen also glauben, dass meine Jungs jemanden betrogen haben?«
Mit unbewegter Miene sagte Raylan: »Ich weiß, dass Sie Ihre Söhne lieben. Hin und wieder bemerken Sie aber sicher selbst, was aus Ihnen geworden ist. Sie haben mich falsch verstanden. Kein Beamter hat den Deal gemacht, sondern ein gesuchter Krimineller. Ich bin mit dem Haftbefehl in der Tasche zu seinem Motelzimmer gefahren.«
Raylan gab Pervis Zeit, sich dazu zu äußern, aber es kam nichts. »Im Zimmer habe ich Angel Arenas gefunden«, sagte Raylan, »ohne seine Nieren.«
Raylan wartete wieder, während Pervis ihn anstarrte. »Nackt in einem Eisbad.«
Pervis fragte: »Der Junge vermisst seine Nieren?«
»Später, da lag er schon im Krankenhaus, wurden sie ihm zum Kauf angeboten, für einhunderttausend Dollar.«
Raylan wartete erneut und sagte dann: »Aber er wird dafür nicht bezahlen müssen.«
Pervis fragte nicht, warum, er sagte einfach gar nichts.
Raylan fuhr fort: »Wir, die Marshals, sind jetzt an dem Fall dran. Und wir werden dieses neue Geschäftsmodell unterbinden.«
»Und Sie sagen mir ins Gesicht«, sagte Pervis, »dass meine Jungs diesen Mann aufgeschnitten und seine Nieren entfernt haben?«
»Ich glaube, sie hatten jemanden dabei, der wusste, wie man das macht. Und wer auch immer das war«, sagte Raylan, »ich werde ihn finden.«
Jetzt holte Pervis doch ein Päckchen Camels aus der Hemdta-
sche, zündete sich eine an und stieß, als müsse er sich beruhi-
gen, eine Rauchfahne aus. Schließlich sagte er: »Also, ich weiß nur, meine Jungs waren's nicht. Wer hat Ihnen das erzählt?« »Der Mann, der darauf wartet, seine Nieren zurückzubekommen«, sagte Raylan.
»Er hat die Namen meiner Jungs genannt?«
»Erst wollte er nicht, aber dann schon.«
»Er hat«, sagte Pervis, »wegen dem geplatzten Deal gelogen. Meine Jungs züchten Hanf, aber sie schneiden niemandem wegen seiner Organe den Körper auf. Noch nicht mal, wenn sie wüssten, wie.«
»Die schießen doch auch Hasen«, sagte Raylan, »und wissen, wie man denen das Fell abzieht und sie ausnimmt.«
Seine Geduld mit dem alten Mann ging zu Ende, mit diesem ehemaligen Schmuggler und Dirt-Track-Fahrer, der ihn mit zwischen die Finger geklemmter Zigarette anstarrte. Raylan sagte zu ihm: »Mr. Crowe, bei allem Respekt für Ihre Gefühle, aber ich werde mit Ihren Söhnen reden müssen, gerne auch in Ihrer Gegenwart. Sollten Sie sie nicht dazu bewegen, uns morgen einen Besuch abzustatten, werde ich sie holen kommen.« »Ich habe immer geglaubt«, sagte Pervis, »dass wir hier in Sachen Broterwerb gute zwanzig Jahre hinterherhinken. Ich mag es so. Und jetzt erzählen Sie mir, dass wir aufholen und in ein neues Geschäftsfeld vorstoßen, indem wir Körperteile verkaufen.«
»Sie haben sich mit Ihrem Marihuana-Großhandel schon selbst auf den neuesten Stand gebracht«, sagte Raylan. »Die DEA hält Ihre Söhne übrigens für Hightech-Proleten, die in Cadillacs durch die Gegend fahren und über Handy miteinander sprechen.«
»Sollten Sie meine Söhne je direkt mit diesen Vorwürfen
belästigen«, sagte Pervis und holte unter der Theke eine Fla-
sche Schwarzgebrannten hervor, klaren Whiskey, in dem ein Pfirsich schwamm, »wird das hier zumindest Ihre Schmerzen lindern.«
Pervis setzte sich den grauen Hut mit der Faltkrempe auf, den er seit Jahrzehnten trug, und ging über den Bohlenweg die fünfzig Meter hinauf zu seinem Haus, einem zweistöckigen weißen Holzhaus, das er neu streichen lassen müsste, es zeigte langsam Witterungsspuren. Er ging ins Badezimmer und pinkelte, schüttelte sich die Tröpfchen vom Schwanz und machte sich wieder auf den Weg, es half ja alles nichts.
Rita saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und sah sich Zeit der Sehnsucht an. Beim Näherkommen fiel ihm auf, dass sie schlief, in ihrer Dienstmädchenuniform, die nackten Beine ragten aus dem Rock, der ihr geradeso über den Hintern reichte.
Rita war schwarz, so schwarz wie Ebenholz, Mann, Mann, Mann, Pervis hatte in der Schlange der Bewerberinnen für den Job die Königin von Afrika gefunden. Er hatte zu ihr gesagt: »Du willst untertauchen, oder? Du weißt, wie man an Zeug kommt? Auch egal. Kannst du kochen?«
Darauf Rita: »Worauf hätten Sie denn Appetit?«
Seitdem war sie sein Hausmädchen und kochte so lala, meistens mexikanisch. Pervis bezahlte ihr hundert Dollar pro Tag, täglich beim Abendessen. Letztens hatte er sie mal gefragt: »Wie viel hast du eigentlich in deinem Koffer? Dem im Schrank?« Er dachte nach und sagte: »Himmelarsch, es müssen locker hunderttausend sein.«
»Hundertfünf«, sagte Rita. »Aber die sind nicht im Koffer.« »Willst du kündigen?«
»Irgendwie musste ich die Kohle ja anlegen, also hab ich alles
in Gras gesteckt, das ich günstig von dir gekriegt habe, weil wir
uns über alles lieben. Immerhin juckt es dich mindestens einmal pro Woche im Schwanz, und wer sagt dann jedes Mal, Zeit, in die Heia zu gehen?«
Pervis fragte: »Du willst dealen?« Als ob er seinen Ohren nicht traute. »Das ist alles? Du willst, dass ich dich ins Geschäft bringe? Sag's mir.«
Schon fühlte er sich besser, erleichtert. Er würde sie unterstützen, Hauptsache, sie bliebe bei ihm. Sie würden alles besprechen. Jetzt musste er erst mal Bob Valdez treffen. Er setzte sich neben das Telefon und wählte Bobs Nummer. Ließ es ein paar Mal klingeln, legte auf, wartete einen Augenblick und wählte erneut.
Diesmal wurde abgenommen: »Bob Valdez, was kann ich für Sie tun?«
»Bob«, sagte Pervis, »du sollst dein Handy immer bei dir haben, habe ich dir das nicht schon mal gesagt? Ich glaube, ja.« Bob bekam keine Gelegenheit, darauf etwas zu erwidern, Pervis befahl ihm, »rühr dich nicht vom Fleck, ich komme vorbei!«, und legte auf.
Übersetzung: Kirsten Riesselmann
© Suhrkamp Verlag Berlin 2013
Copyright © Elmore Leonard, 2012
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Autoren-Porträt von Elmore Leonard
Leonard, ElmoreElmore Leonard (1925-2013), ist der Autor von 42 Romanen, allesamt Bestseller, von denen viele - wie Get Shorty, Out of Sight oder Jackie Brown - mit riesigem Erfolg verfilmt wurden. Außerdem hat er zahlreiche Drehbücher verfasst.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elmore Leonard
- 2013, 308 Seiten, Maße: 13,4 x 21,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Kirsten Riesselmann
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-10: 3518463950
- ISBN-13: 9783518463956
Rezension zu „Raylan “
»Ein lesenswerter Krimi eines Altmeisters.«
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