Religion in der Verantwortung
Gefährdungen des Friedens im Zeitalter der Globalisierung
Immer wieder hat sich Helmut Schmidt mit dem Verhältnis von Religion und Politik beschäftigt. Seine wichtigsten Beiträge zu dieser hochaktuellen Frage hat er für das vorliegende Buch zusammengestellt und durch ein abschließendes...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Taschenbuch
9.99 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Religion in der Verantwortung “
Immer wieder hat sich Helmut Schmidt mit dem Verhältnis von Religion und Politik beschäftigt. Seine wichtigsten Beiträge zu dieser hochaktuellen Frage hat er für das vorliegende Buch zusammengestellt und durch ein abschließendes Kapitel ergänzt: eine brillante, aktuell bedeutsame Analyse!
Klappentext zu „Religion in der Verantwortung “
Immer wieder hat sich Helmut Schmidt mit dem Verhältnis von Religion und Politik beschäftigt. Seine wichtigsten Beiträge zu dieser hochaktuellen Frage hat er für das vorliegende Buch zusammengestellt und durch ein abschließendes Kapitel ergänzt. In jeder Zeile wird deutlich: Schmidt sorgt sich um die Gefährdung des Weltfriedens durch den um sich greifenden Missbrauch der Religion für politische Zwecke. Eindringlich appelliert er an die Führer der Weltreligionen, ihrer Verantwortung für den Frieden gerecht zu werden.
Lese-Probe zu „Religion in der Verantwortung “
Religion in der Verantwortung von Helmut SchmidtDeutsche Verantwortung
... mehr
Jedenfalls gelten diese Gebote für uns Deutsche und für unseren Staat. Es ist eine deutsche Regierung gewesen, die den zerstörerischen Zweiten Weltkrieg ausgelöst hat, es war die Ideologie des Nationalsozialismus, die Deutsche zum millionenfachen Mord führte: Deshalb sind wir Deutschen mit einer besonderen Verantwortung für die Bewahrung des Friedens beladen. Zwar sind übersteigerter Nationalismus und christlicher Antisemitismus fast überall in Europa verbreitet gewesen; aber der von Deutschen verübte Holocaust wird im geschichtlichen Gedächtnis der Welt genauso aufbewahrt bleiben wie die babylonische Gefangenschaft der Jerusalemer Juden vor einigen tausend Jahren. Deshalb sind wir Deutschen befangen, deshalb sollten unsere Politiker sich an religiösen oder politischen Auseinandersetzungen mit dem Judentum nicht beteiligen.
Wir sollten uns auch nicht einbilden, in einem christlichen Staat zu leben. Wenngleich das Christentum immer noch ein sehr starker Faktor unserer Kultur und unserer Lebensgewohnheiten ist, sollten sich unsere Politiker der Tatsache bewusst sein, dass wir in einem säkularen Staatleben. Wenn einer von uns vor Gerichtoderbei Übernahme eines Amtes einen Eid schwört, stellt ihm das Grundgesetzfrei, sich dabei auf die Hilfe Gottes zu berufen oder dies zu unterlassen. Wenn die Präambel des Grundgesetzes von unserer »Verantwortung vor Gott und den Menschen« spricht, so kann damit heute sowohl der Gott der Lutheraner als auch der Gott der römisch-katholischen Gläubigen gemeint sein, der Gott sowohl der schiitischen als auch der sunnitischen Muslime, sowohl der Gott der Juden als auch der »Himmel« im Sinne des Konfuzianismus. Aber das Grundgesetz verlangt keineswegs, dass ein Deutscher sich zu Gottbekennt. Im Gegenteil garantieren die Artikel 1 bis 7 sehr detailliert die »unverletzliche« Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses. Und diese Freiheit schließt die Freiheit ein, sich zu keiner Religion zu bekennen. So sind heute von 82 Millionen Einwohnern Deutschlands etwa 25 Millionen ohne Religionszugehörigkeit. Millionen Deutsche sind aus jener Kirche ausgetreten, der ihre Großeltern noch angehört hatten - wenngleich viele von ihnen an Gott glauben.
Die Präambel des Grundgesetzes enthält noch zwei andere grundlegende Hinweise für unsere Politiker. Sie spricht von unserem Willen, »in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen«. Dieser Satz weist auf die politischen Konsequenzen der Tatsache, dass die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts von einem tief in sich gespaltenen und verfeindeten Europa ausgegangen sind. Zwar hat sich im Laufe von mehr als tausend Jahren eine weitgehende kulturelle oder zivilisatorische Einheit großer Teile Europas entwickelt. Zwar hat vor fast sechzig Jahren in Westeuropa auch ein fortschreitender politisch-ökonomischer Integrationsprozess begonnen, in den seit 1990 auch große Teile des östlichen Mitteleuropas einbezogen sind. Aber seit dem Ende der neunziger Jahre ist- trotz geographischer Ausweitung - der Prozess ins Stocken geraten, der zu einer handlungsfähigen Einheit der Europäischen Union führen sollte. Weniger religiöse als vielmehr nationale Vorurteile, Eitelkeiten, Geltungsbedürfnisse und Egoismen, aber auch böse Erinnerungen an die Leiden früherer Generationen erweisen sich als schwierige Hindernisse. Und der für alle demokratisch geordneten Gemeinwesen typische Populismus oder Opportunismus von Politikern, die gewählt oder wiedergewählt werden wollen, erschwert die Aufgabe zusätzlich.
Hier liegt eine große Verantwortung für die deutschen Politiker. Denn sie vertreten innerhalb der Europäischen Union die größte und deshalb leistungsfähigste Volkswirtschaft. Wenn in schwierigen Situationen von den Mitgliedsstaaten ökonomische Solidarität verlangt werden muss, dann richtet sich diese Forderung nahezu zwangsläufig zuerst an Deutschland. Deutschland muss oft genug ein gutes Beispiel geben.
Sofern Deutschland aber den Anschein erweckt, in der EU die Führung zu beanspruchen, kann es von Paris bis nach Warschau und darüber hinaus schnell den Ärger und den Argwohn der anderen hervorrufen. Wenn das Tandem Paris-Berlin schlecht funktionieren sollte, wenn gar Deutschland sich isolieren sollte, so trügen wir Deutschen selbst den schwersten Schaden davon. Außerdem würde der Fortschritt der europäischen Integration wesentlich verzögert, wenn nicht sogar beendet. In einer solchen Lagewürde Europa für den nicht auszuschließenden Fall weltpolitisch bedeutsamer Konflikte zwischen verschiedenen Zivilisationen und Religionen sich selbst marginalisieren. Eine mäßigende oder gar eine friedenserhaltende vermittelnde Rolle der EU wäre nichtmöglich.
Eines der Gebiete, auf denen mir ein erfolgreiches Beispiel durch die Deutschen denkbar erscheint, ist die staatliche Ordnung des ökonomischen Wettbewerbs. Ein anderes Beispiel könnten wir bei der Bewältigung der Eingliederung der heute vier Millionen Zuwanderer aus muslimisch geprägten Zivilisationen geben. Freilich belastet die deutsche Geschichte der letzten Jahrhunderte gerade diesen Komplex besonders.
Nachdem der Kampf zwischen Reformation und Gegenreformation in Deutschland den durch enorme Opfer an Menschenleben gekennzeichneten Dreißigjährigen Krieg ausgelöst hatte, konnte die Aufklärung hierzulande nur spärliche Wurzeln fassen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts versuchte Leibniz, Gott trotz des Übels in der Welt zu rechtfertigen (»Theodizee«). Später propagierten Lessing und Moses Mendelssohn religiöse Toleranz. Ihnen folgten im 19. Jahrhundert Marx (»Opium des Volkes«) und Nietzsche (»Gott ist tot«). Dazwischen steht der Solitär Immanuel Kant als Vorkämpfer der Aufklärung.
Wie fast überall in Europa sind auch in Deutschland der säkulare Staat, die Demokratie und der Rechtsstaat nicht als Kinder der christlichen Religion, sondern vielmehr im Kampf mit den christlichen Kirchen und den ihnen verbundenen Obrigkeiten entstanden. Deutschland fand als einer der letzten Staaten in Europa erst nach dem Ende der Nazizeit zu diesen Werten - aber immerhin kann man sich darauf nun schon seit über sechzig Jahren verlassen.
Das Grundgesetz gilt für jedermann, der in Deutschland lebt. Daher gilt auch die Religionsfreiheit für jedermann. Deshalb reden wir von Deutschland als einem säkularen Staat. Allerdings ist die Trennung von Staat und Kirche tatsächlich nichtvollständig; denn aufgrund unserer geschichtlichen Entwicklung-einschließlich alter Staatsverträge und Konkordate und aufgrund herkömmlicher Praxis - gibt es privilegierte christliche Kirchen. Diese sind dem Staatnäher als viele andere kleinere Religionsgemeinschaften. Wenn der Katalog der Normen und Werte einer Religionsgemeinschaft mit den Grundrechten des Grundgesetzes (Art. i bis iq) und mit den nicht änderbaren Prinzipien des Artikels 20 (Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Sozialstaat, Bundesstaat) übereinstimmt, dann sollte eigentlich für alle der gleiche Abstand vom Staat gelten. Hier liegt ein bisher ungelöstes Problem (das es übrigens in vielen europäischen Staaten in ähnlicher Form gibt).
Ein viel größeres Problem liegt jedoch in der Tatsache, dass manche der bei uns lebenden Zuwanderer (Migranten) - egal ob mit oder ohne deutsche Staatsangehörigkeit-aus ihrer alten Heimat und ihrer ursprünglichen Zivilisation religiöse, rechtliche und sittliche Überzeugungen und Gewohnheiten mitbringen, die mit den in Deutschland geltenden Gesetzen kollidieren. Das grausame Strafrecht der Scharia oder die vom Vater erzwungene Verheiratung seiner Tochter gegen ihren Willen oder die Sitte der Blutrache sind, sofern sie in Deutschland ausgeübt werden, strafbare Handlungen. Außer solchen eindeutigen Verstößen gegen die in Deutschland geltenden Gesetze gibt es in fremden Zivilisationen zusätzlich mannigfaltige Sitten und Gebräuche, die, wenn sie hierzulande ausgeübt werden, Befremden und Anstoß auslösen können. Dazu gehören zum Beispiel die Traditionen des Kopftuches und der Burka. Wenn die Einwohner einer Stadt daran keinen Anstoß nehmen, muss daraus kein Streit entstehen. Sofern aber die Männerihre Ehefrauen und Töchter dazu zwingen oder auf diese Weise sogar ihre Andersartigkeit öffentlich demonstrieren und darüber hin aus Anstoß provozieren wollen, kommt es zwangsläufig zum Kopftuchstreit. Streit über Kopftuch und Burka oder über den Bau von Minaretten gibt es heute in vielen großen Städten Europas. Er ist unvermeidlich Teil des schwierigen Integrationsprozesses, der bisher noch in keinem der alten Nationalstaaten Europas abgeschlossen ist.
Manche Politiker und Intellektuelle haben versucht, solche Streitigkeiten dadurch zu umgehen, dass sie eine »multikulturelle Gesellschaft« propagiert haben. Ich halte das für einen Irrweg, weil am Ende ein autoritärer Staat herbeigeführt werden könnte, der den inneren Frieden mittels staatlicher Gewalt aufrechterhalten müsste. Andere Politiker versuchen auf mannigfache Weise die Integration der aus fremden Zivilisationen gekommenen Zuwanderer in die einheimische Gesellschaft zu fördern. Aber sie stoßen dabei auf zwei Hindernisse. Auf der einen Seite wollen einige der Zuwanderer weder sich selbst noch ihre Frauen und Kinder integrieren. Auf der anderen Seite sind manche der Einheimischen an der Einbettung der Einwanderer überhaupt nicht interessiert, und manche haben Angst vor Überfremdung.
Letzten Endes wird, so möchte ich vermuten, der Integrationsprozess einigermaßen erfolgreich enden. Er kann weitere Generationen beanspruchen. Dabei werden die aus Asien oder Afrika zugewanderten neuen Bürger sich an die weitgehend säkulare europäische Zivilisation gewöhnen. Aber manche ihrer Lebensgewohnheiten werden sie noch länger beibehalten, einige wenige werden vielleicht in den Alltag der ursprünglichen Einheimischen eingehen. Das wird auf beiden Seiten ein Minimum an Toleranz verlangen - und ebenso die entschlossene Abwehr von Intoleranz.
Allerdings setzt diese positive Erwartung voraus, dass es der Europäischen Union gelingt, die weitere Zuwanderung aus fremden Zivilisationen anderer Kontinente unter Kontrolle zu halten. Dann sehe ich keinen Grund, für den Verlauf des 21. Jahrhunderts mit dem Ende des europäischen Nationalstaates zu rechnen. Zwar wird die weitere Entfaltung der Europäischen Union als ein Verband von Nationalstaaten sehr holperig verlaufen. Es wird Fortschritte, aber auch Rückschläge geben. Wenn wir jedoch im Ergebnis eine handlungsfähige Einheit erreichen, dann sind die gemeinsame europäische Zivilisation und der Fortschritt der in Europa beheimateten Aufklärung nicht wirklich gefährdet - auch wenn das weltpolitische Gewicht der Europäer zurückgeht und trotz möglicher tiefgreifender Konflikte zwischen Weltreligionen und den von ihnen geprägten Zivilisationen.
Damit Europa zu einer handlungsfähigen Einheit gelangt - was wir keineswegs als sicher unterstellen können -, bedarf es weiter Vorausschau auf Seiten der Regierenden. Es bedarf großer Anstrengung der Urteilskraft. Es bedarf unserer Einsicht, dass wir die größere Einheit nur schrittweise erreichen können. Es bedarf aber zugleich der Einsicht, dass unsere geschichtlich gewachsene Bindung an den Nationalstaat ein wichtiger Bestandteil unserer gemeinsamen europäischen Zivilisation ist. Es bedarf der Einsicht, dass wir die immer wiederkehrende Versuchung zum nationalen Egoismus und zum Vorteil der eigenen Religion bändigen müssen. Es bedarf zu alldem unserer Tatkraft.
Gewiss sind Urteilskraft und Tatkraft unserer Regierungen und unserer Politiker besonders wichtig. Aber wir benötigen daneben ebenso die Einsicht und die tatkräftige Unterstützung durch die Medien, durch die Pastoren, Priester und Bischöfe, durch die Lehrer in den Schulen und in der Wissenschaft, durch die Manager in den Unternehmen und die Funktionäre der Gewerkschaften. Wo es um die Bewahrung der europäischen Zivilisation geht, brauchen wir nicht nur den Willen der Regierenden, sondern ebenso den Willen der Regierten.
Und wo es um den Frieden geht, den Frieden zwischen den in der Menschheitsgeschichte auf fünf Kontinenten so unterschiedlich gewachsenen Religionen und Kulturen, dort haben wir gegenseitigen Respekt nötig. Dort haben wir den Willen und die Fähigkeit zum Dialog nötig - und den Willen zur Zusammenarbeit.
...
Jedenfalls gelten diese Gebote für uns Deutsche und für unseren Staat. Es ist eine deutsche Regierung gewesen, die den zerstörerischen Zweiten Weltkrieg ausgelöst hat, es war die Ideologie des Nationalsozialismus, die Deutsche zum millionenfachen Mord führte: Deshalb sind wir Deutschen mit einer besonderen Verantwortung für die Bewahrung des Friedens beladen. Zwar sind übersteigerter Nationalismus und christlicher Antisemitismus fast überall in Europa verbreitet gewesen; aber der von Deutschen verübte Holocaust wird im geschichtlichen Gedächtnis der Welt genauso aufbewahrt bleiben wie die babylonische Gefangenschaft der Jerusalemer Juden vor einigen tausend Jahren. Deshalb sind wir Deutschen befangen, deshalb sollten unsere Politiker sich an religiösen oder politischen Auseinandersetzungen mit dem Judentum nicht beteiligen.
Wir sollten uns auch nicht einbilden, in einem christlichen Staat zu leben. Wenngleich das Christentum immer noch ein sehr starker Faktor unserer Kultur und unserer Lebensgewohnheiten ist, sollten sich unsere Politiker der Tatsache bewusst sein, dass wir in einem säkularen Staatleben. Wenn einer von uns vor Gerichtoderbei Übernahme eines Amtes einen Eid schwört, stellt ihm das Grundgesetzfrei, sich dabei auf die Hilfe Gottes zu berufen oder dies zu unterlassen. Wenn die Präambel des Grundgesetzes von unserer »Verantwortung vor Gott und den Menschen« spricht, so kann damit heute sowohl der Gott der Lutheraner als auch der Gott der römisch-katholischen Gläubigen gemeint sein, der Gott sowohl der schiitischen als auch der sunnitischen Muslime, sowohl der Gott der Juden als auch der »Himmel« im Sinne des Konfuzianismus. Aber das Grundgesetz verlangt keineswegs, dass ein Deutscher sich zu Gottbekennt. Im Gegenteil garantieren die Artikel 1 bis 7 sehr detailliert die »unverletzliche« Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses. Und diese Freiheit schließt die Freiheit ein, sich zu keiner Religion zu bekennen. So sind heute von 82 Millionen Einwohnern Deutschlands etwa 25 Millionen ohne Religionszugehörigkeit. Millionen Deutsche sind aus jener Kirche ausgetreten, der ihre Großeltern noch angehört hatten - wenngleich viele von ihnen an Gott glauben.
Die Präambel des Grundgesetzes enthält noch zwei andere grundlegende Hinweise für unsere Politiker. Sie spricht von unserem Willen, »in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen«. Dieser Satz weist auf die politischen Konsequenzen der Tatsache, dass die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts von einem tief in sich gespaltenen und verfeindeten Europa ausgegangen sind. Zwar hat sich im Laufe von mehr als tausend Jahren eine weitgehende kulturelle oder zivilisatorische Einheit großer Teile Europas entwickelt. Zwar hat vor fast sechzig Jahren in Westeuropa auch ein fortschreitender politisch-ökonomischer Integrationsprozess begonnen, in den seit 1990 auch große Teile des östlichen Mitteleuropas einbezogen sind. Aber seit dem Ende der neunziger Jahre ist- trotz geographischer Ausweitung - der Prozess ins Stocken geraten, der zu einer handlungsfähigen Einheit der Europäischen Union führen sollte. Weniger religiöse als vielmehr nationale Vorurteile, Eitelkeiten, Geltungsbedürfnisse und Egoismen, aber auch böse Erinnerungen an die Leiden früherer Generationen erweisen sich als schwierige Hindernisse. Und der für alle demokratisch geordneten Gemeinwesen typische Populismus oder Opportunismus von Politikern, die gewählt oder wiedergewählt werden wollen, erschwert die Aufgabe zusätzlich.
Hier liegt eine große Verantwortung für die deutschen Politiker. Denn sie vertreten innerhalb der Europäischen Union die größte und deshalb leistungsfähigste Volkswirtschaft. Wenn in schwierigen Situationen von den Mitgliedsstaaten ökonomische Solidarität verlangt werden muss, dann richtet sich diese Forderung nahezu zwangsläufig zuerst an Deutschland. Deutschland muss oft genug ein gutes Beispiel geben.
Sofern Deutschland aber den Anschein erweckt, in der EU die Führung zu beanspruchen, kann es von Paris bis nach Warschau und darüber hinaus schnell den Ärger und den Argwohn der anderen hervorrufen. Wenn das Tandem Paris-Berlin schlecht funktionieren sollte, wenn gar Deutschland sich isolieren sollte, so trügen wir Deutschen selbst den schwersten Schaden davon. Außerdem würde der Fortschritt der europäischen Integration wesentlich verzögert, wenn nicht sogar beendet. In einer solchen Lagewürde Europa für den nicht auszuschließenden Fall weltpolitisch bedeutsamer Konflikte zwischen verschiedenen Zivilisationen und Religionen sich selbst marginalisieren. Eine mäßigende oder gar eine friedenserhaltende vermittelnde Rolle der EU wäre nichtmöglich.
Eines der Gebiete, auf denen mir ein erfolgreiches Beispiel durch die Deutschen denkbar erscheint, ist die staatliche Ordnung des ökonomischen Wettbewerbs. Ein anderes Beispiel könnten wir bei der Bewältigung der Eingliederung der heute vier Millionen Zuwanderer aus muslimisch geprägten Zivilisationen geben. Freilich belastet die deutsche Geschichte der letzten Jahrhunderte gerade diesen Komplex besonders.
Nachdem der Kampf zwischen Reformation und Gegenreformation in Deutschland den durch enorme Opfer an Menschenleben gekennzeichneten Dreißigjährigen Krieg ausgelöst hatte, konnte die Aufklärung hierzulande nur spärliche Wurzeln fassen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts versuchte Leibniz, Gott trotz des Übels in der Welt zu rechtfertigen (»Theodizee«). Später propagierten Lessing und Moses Mendelssohn religiöse Toleranz. Ihnen folgten im 19. Jahrhundert Marx (»Opium des Volkes«) und Nietzsche (»Gott ist tot«). Dazwischen steht der Solitär Immanuel Kant als Vorkämpfer der Aufklärung.
Wie fast überall in Europa sind auch in Deutschland der säkulare Staat, die Demokratie und der Rechtsstaat nicht als Kinder der christlichen Religion, sondern vielmehr im Kampf mit den christlichen Kirchen und den ihnen verbundenen Obrigkeiten entstanden. Deutschland fand als einer der letzten Staaten in Europa erst nach dem Ende der Nazizeit zu diesen Werten - aber immerhin kann man sich darauf nun schon seit über sechzig Jahren verlassen.
Das Grundgesetz gilt für jedermann, der in Deutschland lebt. Daher gilt auch die Religionsfreiheit für jedermann. Deshalb reden wir von Deutschland als einem säkularen Staat. Allerdings ist die Trennung von Staat und Kirche tatsächlich nichtvollständig; denn aufgrund unserer geschichtlichen Entwicklung-einschließlich alter Staatsverträge und Konkordate und aufgrund herkömmlicher Praxis - gibt es privilegierte christliche Kirchen. Diese sind dem Staatnäher als viele andere kleinere Religionsgemeinschaften. Wenn der Katalog der Normen und Werte einer Religionsgemeinschaft mit den Grundrechten des Grundgesetzes (Art. i bis iq) und mit den nicht änderbaren Prinzipien des Artikels 20 (Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Sozialstaat, Bundesstaat) übereinstimmt, dann sollte eigentlich für alle der gleiche Abstand vom Staat gelten. Hier liegt ein bisher ungelöstes Problem (das es übrigens in vielen europäischen Staaten in ähnlicher Form gibt).
Ein viel größeres Problem liegt jedoch in der Tatsache, dass manche der bei uns lebenden Zuwanderer (Migranten) - egal ob mit oder ohne deutsche Staatsangehörigkeit-aus ihrer alten Heimat und ihrer ursprünglichen Zivilisation religiöse, rechtliche und sittliche Überzeugungen und Gewohnheiten mitbringen, die mit den in Deutschland geltenden Gesetzen kollidieren. Das grausame Strafrecht der Scharia oder die vom Vater erzwungene Verheiratung seiner Tochter gegen ihren Willen oder die Sitte der Blutrache sind, sofern sie in Deutschland ausgeübt werden, strafbare Handlungen. Außer solchen eindeutigen Verstößen gegen die in Deutschland geltenden Gesetze gibt es in fremden Zivilisationen zusätzlich mannigfaltige Sitten und Gebräuche, die, wenn sie hierzulande ausgeübt werden, Befremden und Anstoß auslösen können. Dazu gehören zum Beispiel die Traditionen des Kopftuches und der Burka. Wenn die Einwohner einer Stadt daran keinen Anstoß nehmen, muss daraus kein Streit entstehen. Sofern aber die Männerihre Ehefrauen und Töchter dazu zwingen oder auf diese Weise sogar ihre Andersartigkeit öffentlich demonstrieren und darüber hin aus Anstoß provozieren wollen, kommt es zwangsläufig zum Kopftuchstreit. Streit über Kopftuch und Burka oder über den Bau von Minaretten gibt es heute in vielen großen Städten Europas. Er ist unvermeidlich Teil des schwierigen Integrationsprozesses, der bisher noch in keinem der alten Nationalstaaten Europas abgeschlossen ist.
Manche Politiker und Intellektuelle haben versucht, solche Streitigkeiten dadurch zu umgehen, dass sie eine »multikulturelle Gesellschaft« propagiert haben. Ich halte das für einen Irrweg, weil am Ende ein autoritärer Staat herbeigeführt werden könnte, der den inneren Frieden mittels staatlicher Gewalt aufrechterhalten müsste. Andere Politiker versuchen auf mannigfache Weise die Integration der aus fremden Zivilisationen gekommenen Zuwanderer in die einheimische Gesellschaft zu fördern. Aber sie stoßen dabei auf zwei Hindernisse. Auf der einen Seite wollen einige der Zuwanderer weder sich selbst noch ihre Frauen und Kinder integrieren. Auf der anderen Seite sind manche der Einheimischen an der Einbettung der Einwanderer überhaupt nicht interessiert, und manche haben Angst vor Überfremdung.
Letzten Endes wird, so möchte ich vermuten, der Integrationsprozess einigermaßen erfolgreich enden. Er kann weitere Generationen beanspruchen. Dabei werden die aus Asien oder Afrika zugewanderten neuen Bürger sich an die weitgehend säkulare europäische Zivilisation gewöhnen. Aber manche ihrer Lebensgewohnheiten werden sie noch länger beibehalten, einige wenige werden vielleicht in den Alltag der ursprünglichen Einheimischen eingehen. Das wird auf beiden Seiten ein Minimum an Toleranz verlangen - und ebenso die entschlossene Abwehr von Intoleranz.
Allerdings setzt diese positive Erwartung voraus, dass es der Europäischen Union gelingt, die weitere Zuwanderung aus fremden Zivilisationen anderer Kontinente unter Kontrolle zu halten. Dann sehe ich keinen Grund, für den Verlauf des 21. Jahrhunderts mit dem Ende des europäischen Nationalstaates zu rechnen. Zwar wird die weitere Entfaltung der Europäischen Union als ein Verband von Nationalstaaten sehr holperig verlaufen. Es wird Fortschritte, aber auch Rückschläge geben. Wenn wir jedoch im Ergebnis eine handlungsfähige Einheit erreichen, dann sind die gemeinsame europäische Zivilisation und der Fortschritt der in Europa beheimateten Aufklärung nicht wirklich gefährdet - auch wenn das weltpolitische Gewicht der Europäer zurückgeht und trotz möglicher tiefgreifender Konflikte zwischen Weltreligionen und den von ihnen geprägten Zivilisationen.
Damit Europa zu einer handlungsfähigen Einheit gelangt - was wir keineswegs als sicher unterstellen können -, bedarf es weiter Vorausschau auf Seiten der Regierenden. Es bedarf großer Anstrengung der Urteilskraft. Es bedarf unserer Einsicht, dass wir die größere Einheit nur schrittweise erreichen können. Es bedarf aber zugleich der Einsicht, dass unsere geschichtlich gewachsene Bindung an den Nationalstaat ein wichtiger Bestandteil unserer gemeinsamen europäischen Zivilisation ist. Es bedarf der Einsicht, dass wir die immer wiederkehrende Versuchung zum nationalen Egoismus und zum Vorteil der eigenen Religion bändigen müssen. Es bedarf zu alldem unserer Tatkraft.
Gewiss sind Urteilskraft und Tatkraft unserer Regierungen und unserer Politiker besonders wichtig. Aber wir benötigen daneben ebenso die Einsicht und die tatkräftige Unterstützung durch die Medien, durch die Pastoren, Priester und Bischöfe, durch die Lehrer in den Schulen und in der Wissenschaft, durch die Manager in den Unternehmen und die Funktionäre der Gewerkschaften. Wo es um die Bewahrung der europäischen Zivilisation geht, brauchen wir nicht nur den Willen der Regierenden, sondern ebenso den Willen der Regierten.
Und wo es um den Frieden geht, den Frieden zwischen den in der Menschheitsgeschichte auf fünf Kontinenten so unterschiedlich gewachsenen Religionen und Kulturen, dort haben wir gegenseitigen Respekt nötig. Dort haben wir den Willen und die Fähigkeit zum Dialog nötig - und den Willen zur Zusammenarbeit.
...
... weniger
Autoren-Porträt von Helmut Schmidt
Schmidt, HelmutHelmut Schmidt wurde 1918 in Hamburg geboren. 1946 trat er in die SPD ein. Von 1969 bis 1974 war er Verteidigungs-, Wirtschafts- und Finanzminister, von 1974 bis 1982 Bundeskanzler. Seit 1983 war er Mitherausgeber der ZEIT. Helmut Schmidt verstarb am 10.11 2015.
Bibliographische Angaben
- Autor: Helmut Schmidt
- 2012, 256 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548374468
- ISBN-13: 9783548374468
- Erscheinungsdatum: 10.08.2012
Rezension zu „Religion in der Verantwortung “
.
Kommentar zu "Religion in der Verantwortung"
0 Gebrauchte Artikel zu „Religion in der Verantwortung“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Religion in der Verantwortung".
Kommentar verfassen