Risk
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Riskvon Scott Frost
LESEPROBE
1
Im Saal hing der starke Geruch vonzu vielen Rosen, wie man ihn aus den Krankenhauszimmern von Unfallopfern kennt.Eine süßliche, leicht ungesunde Luft. Sie riecht so gut, dass man sofort weiß,etwas Schreckliches muss vorgefallen sein.
Schon komisch, dass das Leben, dasman sich für sein Kind vorstellt, so gar nichts mit der Wirklichkeit zu tunhat. Darin unterscheidet es sich kaum vom Polizistendasein, außer dass michdas, was ich zu Gesicht bekomme, umso weniger überrascht, je länger ichPolizistin bin. Und je länger ich Mutter bin Na ja, ich muss das nicht weiterausführen, oder?
Ich sah dem Auftritt meiner Tochterbei einem Schönheitswettbewerb zu. Es ging um nichts Geringeres als die Wahlzur Königin der Rosenparade. Wie kann man sich auf einen solchen Augenblickvorbereiten?
Wie zum Teufel war das bloß allespassiert?
Eigentlich hätte ich mich glücklichschätzen sollen, dass meine Tochter auf der Bühne stand, nicht wahr? Sie isthübsch, intelligent. Nur, bei Schönheitsköniginnen habe ich immer Mädchen ausTexas vor mir gesehen, in deren Augen der Glanz eines missionarischen Eiferslag, als würden sie einem eine bestimmte Glaubensmarke andrehen wollen. Undimmer hatte ich mir dabei vorgestellt, es wären natürlich die Töchter vonanderen.
Vielleicht liegt es daran, dass ichPolizistin bin, wenn ich an das alles nicht so recht glauben wollte. Man musstesich nur die Mädchen auf der Bühne anschauen. Von links nach rechts: Kimberley,Rebecca, Kellie, Grace, Caitlin.Sie alle hatten etwas zu verbergen - es war nicht zu übersehen.
Dazu brauchte es noch nicht mal denBlick eines Polizisten. Kellie hatte sich die Naserichten lassen, Grace die Zähne, Caitlin die Lippen Weiß Gott, was Kimberley alles an sich hatte machen lassen. Und Rebecca anRebecca war so ziemlich alles retuschiert.
Was nicht perfekt ist, kannverborgen werden. Schönheitsköniginnen klammern sich daran, als wäre es eineunerschütterliche Wahrheit.
Meine eigene Tochter verheimlichtebei der Bewerbung zum Wettbewerb zwei Piercings. Ichkönnte drauf wetten, dass die Juroren darüber nicht glücklich sein dürften: Ichjedenfalls war es nicht. Ich erfuhr davon nur, weil ich in ihrem Badezimmer dasDesinfektionsspray fand.
Nichts lässt sich jemals wirklichverbergen - niemals. Die einzige unerschütterliche Wahrheit eines Polizisten.Ich sah zu meiner Tochter und überlegte, wie sie mir hatte so fremd werdenkönnen. Ich wusste es nicht. Es geschah einfach so wie der Wechsel derJahreszeiten. Ein Abgeordneter des Umzugkomitees in weißem Anzug ging von Jurorzu Juror und sammelte die Zettel mit den Punktzahlen ein. Ich sah mich nach denEltern der anderen Mitbewerberinnen im Saal um. Sie waren leicht zu erkennen.Sie schienen alle einem verlorenen Stamm von Menschen mit vollkommenebenmäßigen Gesichtszügen und Gliedmaßen anzugehören. Es war kein Zufall, dassihre Töchter auf der Bühne standen. Manche von ihnen hatten seit ihrem fünftenLebensjahr an dem Umzug teilgenommen.
Aber warum Lacy?Es wollte mir nicht in den Kopf. Vor einem halben Jahr noch hatte ihreGarderobe aus nichts anderem als Jeans, T-Shirts und Doc Martens bestanden. Wasmachte sie in Taft und Schuhen mit hochhackigen Absätzen?
Ich sah zu den beiden Beamten ausunserem SWAT-Team, die in dunklen Anzügen amSaaleingang standen. In den Wochen vor dem Umzug waren Gerüchte aufgekommen,dass das Undenkbare geschehen würde. Aber solche Gerüchte kursierten jetztüberall. Bei jeder öffentlichen Veranstaltung, bei jedem Krümel weißen Pulvers,das nicht zuzuordnen war; sie waren allgegenwärtig. Im Saal waren alleerdenklichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Die Tatsache, dass die Tochtereiner Polizistin zu den Bewerberinnen gehörte, schien allen Beteiligten eingrößeres Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Allen außer mir.
Der Conferencier, ein ehemaligerFernsehschauspieler, der vage Ähnlichkeit mit sich selbst in jüngeren Jahrenaufwies, schritt zum Mikro.
»Ladys und Gentlemen, es ist soweit, wir kommen zur Krönung unserer neuen Königin.«Der Saal verstummte. Ich sah zu Lacy und fragte mich,ob ich es überleben würde, Mutter zu sein. Sie hatte mir um jeden einzelnenNervenstrang im Leib eine Schlinge gelegt, und nun zog sie sie straff. Dasändert sich nie, angefangen von dem Moment, in dem der Arzt sie dir auf dieBrust legt, bis zu dem Augenblick, in dem man den Brustwarzenring und dasDiaphragma in der Schublade mit den Socken findet.
Mein Pager begann zu vibrieren. DieFrau neben mir warf mir einen Blick zu, als wäre ich soeben aus einemMüllcontainer gekrochen. Ich zog ein wenig meine Jacke zurück, damit sie dieWaffe an meiner Hüfte sehen konnte.
Mit blankem Entsetzen starrte siesie an, wie es immer geschieht, wenn Zivilisten eine Waffe zu Gesicht bekommen.
»Meine Tochter ist die Zweite vonrechts«, flüsterte ich ihr zu. »Sieht sie nicht toll aus?«
Die Frau lächelte nervös und sahschnell wieder weg. Anscheinend hatte sie keine Lust, einer von Leidenschaftgepackten Mutter zu widersprechen.
Ich sah auf den Pager: dieHandynummer meines Partners.
Ich hatte ihn angewiesen, michkeinesfalls zu stören, außer man fand eine Leiche. Offensichtlich warirgendjemand irgendwo in Pasadena eines gewaltsamen Todes gestorben. Ichversuchte mich auf die Bühne zu konzentrieren, meine Gedanken aber schweiftenzum fernen Tatort. Ich stellte mir die Position der Leiche vor und ließ danndas Geschehen Schritt für Schritt rückwärts ablaufen. Ich konnte den dumpfenAufprall des Opfers auf dem Boden hören. Den Knall eines Schusses. DieGeräusche eines Handgemenges.
Reißenden Stoff. Einzelne Stimmen,die immer wütender wurden, je weiter alles außer Kontrolle geriet.
Ein Blitzlicht flammte auf.
»Und die Rosenkönigin des Jahres2003 ist «
»Komm schon, Lacy«,fl üsterte ich. »Duschaffst es!« Ein Junge um die zwanzig mit langen Dreadlocks und einer knielangen Jacke sprang auf deranderen Seite des Gangs von seinem Platz auf, kam ins Stolpern und stürzte fastzu meinen Füßen auf den Teppich. Verlegen sah er kurz zu mir auf, als würde ermich kennen, dann lief er durch den Gang und verschwand. Ich hörte, wie hintermir Bewegung in die Menge kam. Aus dem Augenwinkel sah ich jemanden aus demPublikum, der sich erhob und voller Entsetzen zur Bühne deutete.
Als ich mich wieder nach vornwandte, sah ich Lacy, die ihr Kleid lüpfte und einedunkle, an ihrem Oberschenkel befestigte Plastikflasche löste.
»Ihr vergiftet den Planeten für einebeschissene Parade!«, rief Lacyund sprühte dabei ihr Unkrautvernichtungsmittel ins Publikum. »Pestizide töten,Herbizide sind Gift. Ihr alle seid Mörder!«
Die Leute warfen sich unter dieStühle und hielten sich schützend die Programmhefte über den Kopf, jemandschrie: »Gift, das ist Gift, sie hat Gift!«
Ich sprang von meinem Platz auf undschob mich durch die in Panik geratenen Zuschauer, die durch den Mittelgang zufliehen versuchten. Auf der anderen Seite des Saals zog einer der SWAT-Beamten seine Waffe und stürzte in Richtung Bühne;offensichtlich hielt er meine Tochter für bewaffnet.
»Nein«, rief ich ihm zu, was aber imGeschrei und Chaos, das im Saal herrschte, unterging. Ich zückte meinen Ausweis,rief »Polizei«, hoffte mir dadurch einen Weg durch die Menge bahnen zu können,aber die Leute hatten nur die Ausgangsschilder im Blick. Eine Frau in einemrosafarbenen Kleid krachte gegen mich. Sie hatte Tränen in den Augen, ihr Haarwar mit Unkrautvernichtungsmittel besprüht. Kurz sah sie mich an, bevor sie mitdem Rest der Menge weitergespült wurde.
Jemand, der den Beamten mit seinerWaffe erblickte, schrie: »O Gott, er ist bewaffnet!«Ich erreichte in dem Moment die Bühne, als der SWATBeamteauf der gegenüberliegenden Seite mit angelegter Waffe die Treppe hochstürmte. Ein Ordner versuchte mich aufzuhalten, ichpackte seine Hand und verdrehte sie ihm weit genug, um ihn möglichst schnellaus dem Weg zu schaffen. Eine der Bewerberinnen auf der Bühne weinte,schüttelte dabei die erhobenen Hände, als hätte sie in etwas Heißes gefasst.Der SWAT-Beamte war noch etwa sieben Meter von Lacy entfernt und richtete die Waffe auf sie.
»Nein!«,rief ich, aber er hörte mich nicht. Als Lacy den SWAT-Beamten bemerkte, drehte sie sich ihm zu und hob dieSpraydose.
»Lacy!«, kreischte ich.
Der SWAT-Beamtenahm die Waffe in Anschlag. In diesem Augenblick ergriffen zwei Ordner Lacy von hinten, die Spraydose wurde ihr aus der Handgeschlagen und schien einen Augenblick lang in der Luft zu schweben, bevor siemit einem dumpfen Knall auf dem Boden aufschlug.
Im Publikum herrschte absoluteStille. Alle Bewegungen gefroren.
Der Beamte starrte kurz auf die Doseam Boden, dann ließ er den Blick über die Bühne zu mir schweifen, holte tiefLuft und schob schnell die Waffe unter sein Jackett.
Jemand sagte: »Es ist vorbei, es istvorbei«, während die beiden Ordner Lacy hinter dieBühne führten. Ich atmete durch.
Der Conferencier, der denSchönheitswettbewerb anscheinend mit der ersten Spaceshuttle-Katastropheverwechselte, trat ans Mikro und sagte: »Ladys und Gentlemen, wir hatten einentechnischen Defekt.«
Hinter der Bühne wurde Lacy auf einem Klappstuhl platziert, sie war von einemDutzend grauhaariger Männer in weißen Anzügen umringt, die am Rande desHerzinfarkts standen. Der Wortführer stand über Lacygebeugt, er zitterte vor Wut und wiederholte sich.
»Sie stecken in großenSchwierigkeiten, junge Dame! Sie stecken in großen Schwierigkeiten!«
Als Lacymich sah, richtete sie sich im Stuhl auf und versuchte den Eindruck zuvermitteln, als hätte sie noch alles unter Kontrolle. Ich ging zu ihr,erhaschte kurz ihren Blick, dann wandte ich mich an die Männer in den Anzügen.
»Ich bin ihre Mutter.«
Der Mann, der über sie gebeugt war,drehte sich zu mir um. Die Adern an seinem Hals waren geschwollen. Entgeistert starrte er mich an, dann brüllte er: »Sie istdisqualifiziert!«
»Ich glaube, das ist ihr klar«,sagte ich.
Er erbebte wie ein Baum kurz vormUmfallen. »In all meinen Jahren «
»Ja.«
»Hab ich nie «
»Ich weiß.«
»Es hätten Leute verletzt werdenkönnen!«
»Nur wenn sie nützliche Insektengewesen wären!«, sagte Lacy.
Ich sah zu ihr und schüttelte denKopf.
»Das reicht jetzt, junge Dame«,sagte der Abgeordnete des Umzugkomitees. Wütend wandte er sich an mich.
»Was sind Sie bloß für eine Mutter?«
Die Frage traf mich völligunvorbereitet. Wer wollte denn wirklich eine Antwort darauf hören? Ich zücktemeinen Ausweis und hielt ihn ihm vor sein gerötetes Gesicht.
»Ich bin LieutenantDelillo, Pasadena Police.«
Er starrte auf den Ausweis, alsstünde er vor einem unlösbaren Rätsel. »Ein Polizist?«
»Polizistin Lieutenant Mutter.«
Die Männer in den weißen Anzügensahen sich entgeistert an.
»Ich kümmere mich darum«, sagte ich.
»Das machen Sie mal lieber!«, brüllte der Wortführer.
Ich nahm Lacyam Arm und führte sie zur Bühnentür.
Und falls es hinsichtlich seinerfrüheren Aussage irgendwelche Missverständnisse gegeben haben sollte, brüllteer uns ein weiteres Mal zu: »Sie ist disqualifiziert!«
»Arschloch!«,rief Lacy, während ich sie durch die Tür schob.
Draußen beleuchtete der Vollmond denParkplatz mit einem fast unnatürlichen blauen Licht. Während wir schweigend zumWagen gingen, schwor ich mir, kein einziges der unzähligen elterlichenKlischees von mir zu geben, die mir auf der Zunge lagen.
»Ich «
Ich schaffte es, den ersten Ausbruchabzuwehren.
»Was?«,sagte Lacy.
Ich atmete tief durch und versuchtedie Worte hinunterzuschlucken.
»Nichts.«
»Gut.«
»Hast du « Ich biss mir auf dieLippen.
»Na los, sag es schon, ich weiß,dass du es sagen willst.«
Es war erschreckend, wie gut siemich kannte.
»Ich hoffe, du bist stolz auf dich.«
»Ja, das bin ich«, sagte Lacy, ohne klein beizugeben, wie ich es soeben getan hatte.Sie drehte sich mir zu. Ich blickte weiterhin starr geradeaus.
»Ich hab was getan, wovon ichüberzeugt bin. Das kann nicht falsch sein.«
Im Osten ragten über uns dieschneebedeckten Gipfel der San Gabriels auf wie der bunt bemalte Hintergrundeiner Konzertbühne. Irgendwo blühte Jasmin, die Luft war erfüllt von seinemsüßen Duft. Jemand hatte das Dach seines Hauses mit Kunstschnee besprüht undeine Palme mit weihnachtlichen Lichtergirlandenverziert. Es war einer dieser vollkommenen Abende, der Reklame für denkalifornischen Traum machte, ohne dass ein weiteres Wort dazu nötig gewesenwäre. Aber ich konnte mich nicht darauf einlassen. Dafür hatte Lacy gesorgt. Es war alles Fiktion, genau wie dieVorstellung, dass man Schönheit bewerten könnte.
Die Wahrheit, oder die einzigeWahrheit, mit der ich mich bereitwillig und unumwunden auseinandersetzenwollte, war der Anruf auf meinem Pager. Irgendwo unterhalb dieser Berge, imSchwemmland, auf dem Pasadena errichtet worden war, gab es einen Menschen, derdurch Gewaltanwendung ums Leben gekommen war.
Wir erreichten den Wagen und stiegenein. Lacy zog ihre rosafarbenen Pumps aus und sogtief und erleichtert die Luft ein. Es gab eine Menge Dinge, die ich ihr sagenwollte, und einige wenige, die ich ihr hätte sagen sollen Du bist mirschon eine. Ich kann deine Methoden nicht gutheißen, aber ich bin stolz aufdich. Ich wünschte mir, ich könnte auch an etwas so fest glauben wie du. Nichtsdavon sagte ich.
»Ich hab einen Anruf bekommen, umden ich mich kümmern muss. Ich setz dich zu Hause ab.«
Lacy nickte und starrte vor sich hin.»Klar, Mum. Warum sollte es heute Abend anders sein?Mach schon, kümmere dich um die Toten.«
Wir fuhren los. Lacyöffnete das Beifahrerfenster und hielt die Pumps wie beiläufig hinaus insMondlicht. Sie ließ sie einmal um ihren Finger kreiseln, dann hörte ich, wiesie auf dem Teer aufprallten und über den Bordstein schlitterten wie Ratten,die zu ihren Verstecken huschten.
Ich sah kurz zu meiner Tochterrüber, die vor sich hin starrte, in ihren Mundwinkeln der Anflug einesLächelns. Es war ein perfekter Augenblick. Ihr Augenblick. Ich richtete meineAufmerksamkeit wieder auf die Straße und schaffte es irgendwie, den Mund zuhalten. ()
© Verlag DroemerKnaur
Übersetzung: Karl-Heinz Ebnet
- Autor: Scott Frost
- 2007, 470 Seiten, Maße: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Karl-Heinz Ebnet
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426635488
- ISBN-13: 9783426635483
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