Rudern ohne Ruder
Über Leben und Sterben mit ALS
Es gibt Dinge im Leben, auf die niemand vorbereitet ist. So erging es der schwedischen Nachrichtenmoderatorin Ulla-Carin Lindquist an ihrem 50. Geburtstag mit einer furchtbaren ärztlichen Diagnose: ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) - eine neurologisch...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Rudern ohne Ruder “
Es gibt Dinge im Leben, auf die niemand vorbereitet ist. So erging es der schwedischen Nachrichtenmoderatorin Ulla-Carin Lindquist an ihrem 50. Geburtstag mit einer furchtbaren ärztlichen Diagnose: ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) - eine neurologisch bedingte Muskelkrankheit - die in kurzer Zeit zum Schwund aller Muskeln und damit unweigerlich zum Tod (meist durch qualvolles Ersticken) - führt.
Unsentimental und dafür umso eindrucksvoller berichtet Lindquist von ihrem körperlichen Verfall, den Gesprächen mit ihren Kindern, ihrer Verwundbarkeit, der zunehmenden Hilflosigkeit, von Verzweiflung und Akzeptanz. Offen spricht sie von ihrer Angst vor dem Tod und verleugnet ihre Trauer nicht. Und doch kommt bei Lindquist nie Wehleidigkeit oder Selbstmitleid auf. Ihr Wunsch an alle, die ihr nahe stehen: Bemitleidet mich nicht, lacht mit mir.
Ein Jahr mit ALS: ein Buch voll dramatischer Intensität und bittersüßer Liebe zum Leben angesichts des nahenden Todes.
Unsentimental und dafür umso eindrucksvoller berichtet Lindquist von ihrem körperlichen Verfall, den Gesprächen mit ihren Kindern, ihrer Verwundbarkeit, der zunehmenden Hilflosigkeit, von Verzweiflung und Akzeptanz. Offen spricht sie von ihrer Angst vor dem Tod und verleugnet ihre Trauer nicht. Und doch kommt bei Lindquist nie Wehleidigkeit oder Selbstmitleid auf. Ihr Wunsch an alle, die ihr nahe stehen: Bemitleidet mich nicht, lacht mit mir.
Ein Jahr mit ALS: ein Buch voll dramatischer Intensität und bittersüßer Liebe zum Leben angesichts des nahenden Todes.
Klappentext zu „Rudern ohne Ruder “
Es gibt Dinge im Leben, auf die niemand vorbereitet ist. So erging es der schwedischen Nachrichtenmoderatorin Ulla-Carin Lindquist an ihrem 50. Geburtstag mit einer furchtbaren ärztlichen Diagnose: ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) - eine neurologisch bedingte Muskelkrankheit - die in kurzer Zeit zum Schwund aller Muskeln und damit unweigerlich zum Tod (meist durch qualvolles Ersticken) - führt.Unsentimental und dafür umso eindrucksvoller berichtet Lindquist von ihrem körperlichen Verfall, den Gesprächen mit ihren Kindern, ihrer Verwundbarkeit, der zunehmenden Hilflosigkeit, von Verzweiflung und Akzeptanz. Offen spricht sie von ihrer Angst vor dem Tod und verleugnet ihre Trauer nicht. Und doch kommt bei Lindquist nie Wehleidigkeit oder Selbstmitleid auf. Ihr Wunsch an alle, die ihr nahe stehen: Bemitleidet mich nicht, lacht mit mir.
Ein Jahr mit ALS: ein Buch voll dramatischer Intensität und bittersüßer Liebe zum Leben angesichts des nahenden Todes.
Lese-Probe zu „Rudern ohne Ruder “
Dieses Buch ist mein Debüt und mein Finale.Es geht darin nämlich ganz konkret um mein Finale.
Es ist also kein ganz normales Erinnerungsbuch. Sondern eher ein Tagebuch mit aufgezeichneten Gedanken und Erinnerungsfetzen. Außerdem enthält es einige Interviews und dokumentarische Beobachtungen.
Ich bin, "mitten im Leben", von einer seltenen Krankheit heimgesucht worden, der "amyotrophischen Lateralsklerose", ALS. Diese Krankheit nimmt einen raschen und aggressiven Verlauf. Es gibt nur ein Ende: den Tod. Es gibt kein Heilmittel. Keine Besserung.
Und was macht diese Krankheit mit einem Menschen?
Vor einem Jahr war ich eine voll berufstätige Fernsehreporterin.
Heute kann ich ohne fremde Hilfe nicht essen, nicht gehen und mich nicht waschen.
Ich verspüre tiefe Trauer über alles, was ich nicht erleben werde. Es bedrückt mich, dass ich meine vier Kinder bald verlassen muss.
Gleichzeitig aber empfinde ich großes Glück und tiefe Freude über alles, was ich im Moment erlebe. Mein Haus füllt sich an jedem Tag mehrere Male mit Lachen.
Hört sich das seltsam an?
Kråkudden, Januar 2004
Das Aluminiumboot hat einen schweren Motor, und bei dem steifen Nordwest macht das Anlegen Probleme.
"Ich dreh ihn aus. Und dann rudern wir zum Steg", ruft Olle, und der Gegenwind packt seine Regenjacke.
"Okay", brülle ich. Ich greife nach den Rudern. Hier draußen bei der Landzunge vor Hästholmen ist die Strömung lebhaft, und ich stehe auf, um größere Kraft aufbringen zu können.
Der Wind schlägt mir entgegen, und ich muss alle meine Stärke aufbieten.
Aber die Ruder sind bleischwer.
Und wie im Wasser festgefroren.
Lassen sich nicht bewegen.
Ich packe noch einmal zu.
Meine Hand gleitet weg.
Meine rechte Handfläche brennt, als das Ende des Ruderschaftes hineinschneidet.
Ich kann nicht rudern!
"Was ist los mit dir? Hast du denn überhaupt keine Muskeln mehr?"
Gedemütigt, wütend und kurz vorm Losheulen. Das übliche Gefühl der
... mehr
Unzulänglichkeit.
"Ruder du doch, zum Teufel!"
Und das tut er.
Wir laden Lebensmittel und Weinflaschen in den Fahrradanhänger und mühen uns den Hang hinauf. Die Jungen rennen vor uns her und füttern die Schafe.
"Du kannst in letzter Zeit ja überhaupt nichts mehr vertragen, Usse."
Er starrt mich an, mit neuem Blick.
Jetzt, im Nachhinein, hat er erzählt, dass er in diesem Moment einsah, dass seine Frau die Kontrolle verloren hatte. Dass etwas nicht stimmte.
Großmutters Hände spielen. Lange, knotige Hände. Adern wie Regenwürmer, tiefe Furchen zwischen den Fingerknöcheln. Mager und sehnig.
Ich sehe sie im Sonnenschein, wenn ich frisch gewaschene Handtücher auf die zwischen zwei Kiefern gespannte Wäscheleine hänge. Der Boden hier auf den Schären ist trocken, und bald werden die Gewitter einsetzen und dafür sorgen, dass beim Nachbarn die Teller von der Wand fallen, wenn der Blitz einschlägt, und dass bei uns alles schwarz wird. Aber nicht heute. Heute ist die Septembersonne warm, und der Spätsommer hüllt uns in frische Hoffnung.
Ich weiß nicht, dass meine Nerven bis zum Zerreißen gespannt sind.
Dass meine Kraft in Sekunden bemessen ist.
Dass ich den Zugriff verloren habe.
Die Wäscheklammern sind grau und verwittert. Es fällt mir schwer, das Laken über die Leine zu heben. Mein Arm führt die vertraute Bewegung aus. Er schaltet vom ersten in den dritten Gang und verharrt dazwischen im Leerlauf. Dann tut es weniger weh. Aber diese Wäscheklammer kann ich nicht zusammendrücken.
Und auch keine andere. Ich habe keine Kraft.
Sondern eine Grube zwischen Daumen und Zeigefinger.
Dass ein Muskel verschwunden ist und ich jetzt Großmutters Hand habe, ist klar zu sehen.
"Hallo, Pontus ist krank. Der Kindergarten hat eben angerufen. Er kotzt. Du musst ihn holen."
"Ich? Das geht nicht. Ich muss eine Brandverletzung operieren."
"Aber ich hab nachher Sendung. Ich muss unendlich viel vorbereiten."
"Jetzt werde ich in den OP gerufen. Es ist ein schlimmer Fall. Bis nachher."
Er legt auf.
Alle in der Redaktion haben dem Gespräch zugehört.
Wer "gewinnt"? Der Chirurg, der ein Menschenleben in Händen hält, oder die Fernsehmoderatorin mit zwei Millionen Zuschauern?
"Da brauchst du doch nicht mehr zu überlegen", sagt der Nachrichtenredakteur.
Und schließlich wimmelt es beim Sender nur so von Leuten, die in der wichtigsten Nachrichtensendung des Landes auftreten wollen. Ich verlasse die Redaktion, fahre nach Hause und kümmere mich um meinen kranken Sohn.
Das Dasein als voll berufstätige Mutter mit kleinen Kindern kann für mich ebenso anstrengend sein wie für alle anderen.
Nur kommt vielleicht dazu, dass alle sehen können, wie wenig ich geschlafen habe.
"Ach, du hast heute Abend aber erschöpft ausgesehen. Geht's dir denn wirklich gut?", möchte meine Mutter im Värmland wissen.
Die Tage, an denen ich die Hauptnachrichten präsentiere, sind zu lang. Ich stehe um kurz nach sechs auf, wasche und föne meine Haare – die müssen perfekt liegen –‘ höre mir die Morgennachrichten an, wecke die Kinder, koche Brei, schalte den Computer ein, ziehe die Jungen an, fahre zum Kindergarten und wieder nach Hause, mache die Betten, gehe zur Bahn. Atme auf. Lese die Kommentare in den Morgenzeitungen. Wenn es nur wenige gibt, kann ich auch noch einen Blick ins Feuilleton werfen – welcher Luxus!
25 Minuten brauche ich für den Weg vom Bahnhof zum Sender, wenn ich mich beeile. Morgenbesprechung. Kritik. "Wie konntet ihr nur diese Nachricht aussuchen?" Magengrimmen, werden sie etwas an mir auszusetzen haben? Davor hatte ich schon immer Angst.
Die Nachrichten strömen herein, aus Indonesien, Moskau, Norrköping, Sundsvall, Washington, Kapstadt und dem schwedischen Parlament.
Hohes Tempo, stetiger Wechsel.
"Nein, so geht das nicht. Das hat zu wenig Fleisch auf den Knochen. Macht das anders!", ruft die Eiserne Lady der Redaktion und Chefin vom Dienst einem Reporter zu und knallt ihre in Krokodillederstiefeln steckenden Füße auf den Tisch.
Außenstehende würden angesichts unseres Umgangstons sicher erschrecken. Aber den brauchen wir in der Redaktion, wo gefolterte Menschen, Kriegsverletzte und Obdachlose sich mit Bestechungsskandalen, Finanzwirren und Regierungsanträgen mischen. Heute gibt es keine fröhlichen Nachrichten, und deshalb entscheide ich mich für ein dunkelblaues Jackett, ein elfenbeinweißes Seidenhemd und eine Perlenkette. Ob Rock oder Hose, spielt keine Rolle. Die sind doch nicht zu sehen.
"Ich dachte, du sitzt auf Rädern und wirst nach der Sendung in einen Abstellraum gerollt", hat einmal ein Mann auf der Straße lachend zu mir gesagt.
Wenn der wüsste!
Einleitung. Abspann. Alles wird in wildem Tempo verfasst. Informationen müssen überprüft werden, Beiträge gekürzt oder umgeschrieben. In den Papierkorb geworfen. Abgesetzt. Neue Informationen. Alles umschreiben!
Ich nehme zwei Treppenstufen auf einmal.
"Du darfst niemals mit dem Fahrstuhl ins Studio hochfahren. Stell dir vor, der bleibt stecken!"
Die Leute von der Kosmetik sind immer gelassen; Grundierung, Puder, Rouge und Wimpernbürstchen.
"Ist Moskau so weit?"
Einleitungsmusik und rote Lampe. Wir sind auf Sendung.
"Geh zum zweiten Beitrag. Wir haben Moskau verloren", flüstert die Eiserne Lady in meinem Kopfhörer.
Guten Abend!
Ich improvisiere. Das muss eine Nachrichtensprecherin können.
Und wir können das alle.
Es wird eine gute Sendung. Einige Zuschauer rufen an und möchten sich zu unserem Bericht von der West Bank äußern.
Ich bin gerade rechtzeitig zu Hause, um den Jungen gute Nacht zu sagen.
"Mama, heute hab ich dir im Fernsehen einen Kuss gegeben", sagt Gustaf, "Ich hab aber keinen zurückgekriegt."
"Jetzt kriegst du einen."
"Gute Nacht."
"Gute Nacht. Schlaf gut."
Auf dem Flughafen Arlanda kommt mir jeder zweite Mensch bekannt vor. Bestimmt haben mich die elf Stunden im Flugzeug und die Zeitverschiebung verwirrt, aber die meistens scheinen wirklich meiner värmländischen Sippe entsprungen zu sein.
"Das liegt daran, dass die alle blond sind, ist doch klar", sagt Olle. In Montreal in Quebec, Kanada, ist echtes Blond Mangelware. Die Nachkommen der französischen Siedler sehen oft französischer aus als die Franzosen, ihre Haare sind schwarz und ihre Augen dunkelbraun.
Meine Söhne, Olle und ich haben dort zwei Jahre verbracht. Darüber freue ich mich.
Olle hat in einem Krankenhaus in Montreal Menschen mit schweren Brandverletzungen operiert, und ich habe im Krankenzimmer der Schule ausgeholfen. Vier eigene Kinder und gesunder Menschenverstand befähigten mich für diese Arbeit.
Als ich zum ersten Mal in Sherbrooke, der Avenue, die sich durch die ganze Stadt zieht, in den Bus stieg, kamen alle Menschen mir ungeheuer zurückhaltend vor.
Ich schaute mich um, aber niemand achtete auch nur im Geringsten auf mich. Und mir ging auf, dass ich jetzt nur noch ein Gesicht in der Menge war.
Ich schäme mich heute ein wenig, wenn ich erzähle, dass ich dermaßen daran gewöhnt war, im Bus in Stockholm angestarrt zu werden, dass es mir seltsam und fremd vorkam, wie anders es in Montreal war.
Aber.
Was für eine Befreiung. Ein unbeschriebenes Blatt.
Nicht einen einzigen Tag habe ich bereut, meinen Posten als Chefsprecherin aufgegeben zu haben. Obwohl ich diese Arbeit wirklich geliebt habe.
Der praktische Arzt bittet um entblößten Oberkörper.
"Sie sind athletisch gebaut."
Er untersucht mein Rückgrat.
"Heben Sie den Arm zur Seite. Nach vorn. Und nach oben."
"Sie haben einen extrem geraden Rücken. Wie ein Schürhaken."
"Es gibt zwischen den Seiten einen Unterschied. Die rechte Schulter ist nicht so beweglich wie die andere."
Überweisung zum Röntgen von Nacken und Halswirbeln.
Kernspinuntersuchung. Kein Befund. Zeigt nur einen angebrochenen Wirbel. Ein Zufallsfund. Ist aber für mein eigentliches Problem vermutlich nicht von Bedeutung.
Ich wende mich an meinen guten Freund, den Professor der Radiologie. Warum erst jetzt? Ulnaris, Medianus und Radialis. Die Nerven der Hand haben Namen, die sich anhören wie fantastische Pseudonyme. Brachialis. Dorsalis. Eine neue Welt öffnet sich, und ich bin fasziniert von Synapsen, Axonen und Nerventerminalen. Alles in fein aufeinander abgestimmter Harmonie. Gleichgewicht zwischen Nerven und Muskeln. Wie eine Symphonie, in perfektem Klang gespielt.
Aber etwas hier ist verstimmt.
Nur was?
Ich kehre zurück zur Rapport-Redaktion. Nicht als Programmleiterin. Das ist ein abgeschlossenes Kapitel. Die Jahre in Kanada haben mich von dem Zwang befreit, zu glauben, ich müsse im Fernsehen zu sehen sein, um eine Existenzberechtigung zu haben. Jetzt werde ich mich um Verbraucherfragen kümmern. Ich bin froh und frei und fliege die Treppe im Östra-Bahnhof hinunter. Der Jahrmarkt der Eitelkeit hat mir neue Armani-Jeans beschert, und ich nehme drei Stufen auf einmal.
Eine 49 Jahre junge Frau erobert die Welt zurück. Meine Verbraucher-Reportagen bekommen mehr Platz in den Nachrichten. Ich verschicke E-Mails und rufe Verbraucherberatung, Juristen, Umweltpolizei, Wirtschaftsforscher an, um mir ein Kontaktnetz aufzubauen. Fliege zum Recherchieren nach Göteborg, und Rapport bringt einen Bericht.
Das Einzige, was mir fehlt, ist eine rechte Hand, mit der ich rasch Notizen machen kann.
Gleichzeitig folgt ein Arztbesuch auf den anderen.
"Früher lagen auf dem Kühlschrank die Einladungen zu Essen und Festen. Jetzt sind da nur noch deine Arzttermine", sagt Olle scherzend.
Der Neurophysiologe Sture Hansson hat warme Hände, mit denen er Nadeln in meinen Körper drückt. Vorsichtig schiebt er die Elektroden hinein, die so groß sind wie Akupunkturnadeln. Er interessiert sich so sehr für seine Arbeit, dass auch ich von dem gefesselt bin, was er auf dem Bildschirm sieht, der elektrischen Aktivität der Muskeln, und ich vergesse darüber, dass es ein bisschen wehtut. Als es blutet, klebt er ein Pflaster darauf.
"Einmal hat nach einer Untersuchung ein Patient angerufen und erzählt, er sei wieder gesund. Die Nadelelektroden hatten bei ihm offenbar wie eine Akupunktur gewirkt", erzählt Dr. Hansson.
Aber für mich ist die Untersuchung niederschmetternd. Die Nerven im rechten Arm und in der rechten Hand sind messbar beschädigt. Wir können Nervenzuckungen bis hinauf zur Schulter sehen, und Sture Hansson verweist mich an eine Neurologin, als ich auf einer genaueren Auskunft bestehe.
"Hatten Sie irgendwann einmal eine schwere Verletzung", fragt die Frau, die jetzt zu meiner Leibärztin geworden ist. Sie heißt Anne Zachau und ist eine Mischung aus Schneewittchen und einer Ballerina. Ich bringe ihr tiefe Achtung entgegen.
Sicher, ich bin jemand, die durch unwegsames Gelände galoppiert ist. Mit der das Pferd mehr als einmal durchgegangen ist. Die auf der allersteilsten Piste Purzelbäume geschlagen hat. Die bei steifer Brise Segel gerefft hat und dabei mit dem Kopf gegen den Mast geschlagen ist. Die beim Langlauf rasante Stopps und Stürze geliefert hat und mit Judo aufhören musste, als das Werfen für eine Mutter von kleinen Kindern zu hart wurde.
"Mussten Sie damit ins Krankenhaus?"
"Nein", antworte ich, erzähle dann aber, dass meine Mutter einmal zwei Patienten wegschicken musste, als ich fünf Jahre alt war und meinen achtjährigen Bruder besiegt hatte. Ich war nämlich als Erste oben auf dem Haufen aus gefrorenem Laub. Er war wütend und schlug mir mit einem zerbrochenen Hocker auf den Kopf. Ich rannte zur Praxis, setzte mich ins Wartezimmer und wartete, bis Mama mit Bohren fertig war. Am Ende wurde ich ein wenig lauter und sagte: "Mama, draußen regnet's. Ich bin nass."
Es war ein kristallklarer und sonniger Tag im Oktober. Meine Mutter drehte sich um und sah, dass ihrer Tochter das Blut über das Gesicht strömte. Meine Wunde wurde im Krankenhaus genäht, und wenn ich Äther rieche, muss ich noch heute daran denken.
Dr. Zachau lacht ein wenig, und ich muss die Zunge herausstrecken. Sie sieht sie sich ganz genau an, um Nervenzuckungen zu entdecken, Faszikulationen. Aber sie findet keine. Das ist gut, denn es deutet darauf hin, dass es sich um einen peripheren Nervenschaden handelt. Der in den unteren Motoneuronen sitzt. Also nicht im Gehirn. Denn solche Verletzungen können nicht ausheilen.
Ich schäme mich, weil meine Zunge einen gelblichen Belag aufweist, und bin dankbar, als ich den Mund zumachen kann.
Die Journalistin macht sich im Netz auf die Suche. Ich befürchte das Schlimmste. Im Internet kann man so ungefähr alles finden, und ich muss einfach immer weitersuchen. Motoneuronale Krankheiten. MS. Bulbärparese. Amyotrophische Lateralsklerose.
ALS?
Es kann auch zu viel Informationen geben. Die zu einem Kurzschluss im verwirrten Gehirn führen.
Ich klammere mich an den angebrochenen Wirbel, den die Kernspinuntersuchung gezeigt hat. Einer von all den Ärzten, an die ich mich bisher gewandt habe, hat gesagt, ein angebrochener Wirbel könne dieselben Symptome hervorrufen. Das klingt beruhigend und ist etwas, woran ich mich festhalten kann.
Mein Freund Johan bringt mich ins Stockholm Spine Center am Löwenströmska-Krankenhaus. Es ist Herbstwetter, und plötzlich fällt mit lautem Klirren die Seitenfensterscheibe aus meinem Peugeot.
Der Wind weht herein, wir kleben eine Decke davor. Und wir lachen.
Der Arzt, der bekannte Neurochirurg, verspätet sich. Er empfängt seine Patienten halb liegend in seinem Sessel.
Er ist Segler, denke ich, während er mich auffordert, mich bis auf BH und Unterhose zu entkleiden. Es gibt keinen Wandschirm oder Vorhang. Es gibt nur einen Stuhl, auf dem ich Hose und Jacke ablegen kann.
Selten sind mir schwarze Unterhose und BH so fehl am Platze vorgekommen. Beschämt schlage ich die Augen nieder und stelle fest, dass ich auf einem Perserteppich stehe.
"Strecken Sie den Arm aus."
"Heben Sie das linke Bein.
"Drehen Sie den Kopf zur Seite."
Ich richte meinen Blick auf Marilyn Monroes schwarzweiße Lippen.
Das Bild ist elegant gerahmt und ziert das Bücherregal im Behandlungszimmer des Arztes.
Ich stehe da in schwarzer Unterwäsche und mit ausgestrecktem Arm auf dem dunkelroten Teppich und starre Marilyn Monroe an.
Es liegt nicht am angebrochenen Wirbel, dass die Hand gelähmt ist.
Der fragliche Wirbel ist nämlich auf der falschen Seite.
"Ruder du doch, zum Teufel!"
Und das tut er.
Wir laden Lebensmittel und Weinflaschen in den Fahrradanhänger und mühen uns den Hang hinauf. Die Jungen rennen vor uns her und füttern die Schafe.
"Du kannst in letzter Zeit ja überhaupt nichts mehr vertragen, Usse."
Er starrt mich an, mit neuem Blick.
Jetzt, im Nachhinein, hat er erzählt, dass er in diesem Moment einsah, dass seine Frau die Kontrolle verloren hatte. Dass etwas nicht stimmte.
Großmutters Hände spielen. Lange, knotige Hände. Adern wie Regenwürmer, tiefe Furchen zwischen den Fingerknöcheln. Mager und sehnig.
Ich sehe sie im Sonnenschein, wenn ich frisch gewaschene Handtücher auf die zwischen zwei Kiefern gespannte Wäscheleine hänge. Der Boden hier auf den Schären ist trocken, und bald werden die Gewitter einsetzen und dafür sorgen, dass beim Nachbarn die Teller von der Wand fallen, wenn der Blitz einschlägt, und dass bei uns alles schwarz wird. Aber nicht heute. Heute ist die Septembersonne warm, und der Spätsommer hüllt uns in frische Hoffnung.
Ich weiß nicht, dass meine Nerven bis zum Zerreißen gespannt sind.
Dass meine Kraft in Sekunden bemessen ist.
Dass ich den Zugriff verloren habe.
Die Wäscheklammern sind grau und verwittert. Es fällt mir schwer, das Laken über die Leine zu heben. Mein Arm führt die vertraute Bewegung aus. Er schaltet vom ersten in den dritten Gang und verharrt dazwischen im Leerlauf. Dann tut es weniger weh. Aber diese Wäscheklammer kann ich nicht zusammendrücken.
Und auch keine andere. Ich habe keine Kraft.
Sondern eine Grube zwischen Daumen und Zeigefinger.
Dass ein Muskel verschwunden ist und ich jetzt Großmutters Hand habe, ist klar zu sehen.
"Hallo, Pontus ist krank. Der Kindergarten hat eben angerufen. Er kotzt. Du musst ihn holen."
"Ich? Das geht nicht. Ich muss eine Brandverletzung operieren."
"Aber ich hab nachher Sendung. Ich muss unendlich viel vorbereiten."
"Jetzt werde ich in den OP gerufen. Es ist ein schlimmer Fall. Bis nachher."
Er legt auf.
Alle in der Redaktion haben dem Gespräch zugehört.
Wer "gewinnt"? Der Chirurg, der ein Menschenleben in Händen hält, oder die Fernsehmoderatorin mit zwei Millionen Zuschauern?
"Da brauchst du doch nicht mehr zu überlegen", sagt der Nachrichtenredakteur.
Und schließlich wimmelt es beim Sender nur so von Leuten, die in der wichtigsten Nachrichtensendung des Landes auftreten wollen. Ich verlasse die Redaktion, fahre nach Hause und kümmere mich um meinen kranken Sohn.
Das Dasein als voll berufstätige Mutter mit kleinen Kindern kann für mich ebenso anstrengend sein wie für alle anderen.
Nur kommt vielleicht dazu, dass alle sehen können, wie wenig ich geschlafen habe.
"Ach, du hast heute Abend aber erschöpft ausgesehen. Geht's dir denn wirklich gut?", möchte meine Mutter im Värmland wissen.
Die Tage, an denen ich die Hauptnachrichten präsentiere, sind zu lang. Ich stehe um kurz nach sechs auf, wasche und föne meine Haare – die müssen perfekt liegen –‘ höre mir die Morgennachrichten an, wecke die Kinder, koche Brei, schalte den Computer ein, ziehe die Jungen an, fahre zum Kindergarten und wieder nach Hause, mache die Betten, gehe zur Bahn. Atme auf. Lese die Kommentare in den Morgenzeitungen. Wenn es nur wenige gibt, kann ich auch noch einen Blick ins Feuilleton werfen – welcher Luxus!
25 Minuten brauche ich für den Weg vom Bahnhof zum Sender, wenn ich mich beeile. Morgenbesprechung. Kritik. "Wie konntet ihr nur diese Nachricht aussuchen?" Magengrimmen, werden sie etwas an mir auszusetzen haben? Davor hatte ich schon immer Angst.
Die Nachrichten strömen herein, aus Indonesien, Moskau, Norrköping, Sundsvall, Washington, Kapstadt und dem schwedischen Parlament.
Hohes Tempo, stetiger Wechsel.
"Nein, so geht das nicht. Das hat zu wenig Fleisch auf den Knochen. Macht das anders!", ruft die Eiserne Lady der Redaktion und Chefin vom Dienst einem Reporter zu und knallt ihre in Krokodillederstiefeln steckenden Füße auf den Tisch.
Außenstehende würden angesichts unseres Umgangstons sicher erschrecken. Aber den brauchen wir in der Redaktion, wo gefolterte Menschen, Kriegsverletzte und Obdachlose sich mit Bestechungsskandalen, Finanzwirren und Regierungsanträgen mischen. Heute gibt es keine fröhlichen Nachrichten, und deshalb entscheide ich mich für ein dunkelblaues Jackett, ein elfenbeinweißes Seidenhemd und eine Perlenkette. Ob Rock oder Hose, spielt keine Rolle. Die sind doch nicht zu sehen.
"Ich dachte, du sitzt auf Rädern und wirst nach der Sendung in einen Abstellraum gerollt", hat einmal ein Mann auf der Straße lachend zu mir gesagt.
Wenn der wüsste!
Einleitung. Abspann. Alles wird in wildem Tempo verfasst. Informationen müssen überprüft werden, Beiträge gekürzt oder umgeschrieben. In den Papierkorb geworfen. Abgesetzt. Neue Informationen. Alles umschreiben!
Ich nehme zwei Treppenstufen auf einmal.
"Du darfst niemals mit dem Fahrstuhl ins Studio hochfahren. Stell dir vor, der bleibt stecken!"
Die Leute von der Kosmetik sind immer gelassen; Grundierung, Puder, Rouge und Wimpernbürstchen.
"Ist Moskau so weit?"
Einleitungsmusik und rote Lampe. Wir sind auf Sendung.
"Geh zum zweiten Beitrag. Wir haben Moskau verloren", flüstert die Eiserne Lady in meinem Kopfhörer.
Guten Abend!
Ich improvisiere. Das muss eine Nachrichtensprecherin können.
Und wir können das alle.
Es wird eine gute Sendung. Einige Zuschauer rufen an und möchten sich zu unserem Bericht von der West Bank äußern.
Ich bin gerade rechtzeitig zu Hause, um den Jungen gute Nacht zu sagen.
"Mama, heute hab ich dir im Fernsehen einen Kuss gegeben", sagt Gustaf, "Ich hab aber keinen zurückgekriegt."
"Jetzt kriegst du einen."
"Gute Nacht."
"Gute Nacht. Schlaf gut."
Auf dem Flughafen Arlanda kommt mir jeder zweite Mensch bekannt vor. Bestimmt haben mich die elf Stunden im Flugzeug und die Zeitverschiebung verwirrt, aber die meistens scheinen wirklich meiner värmländischen Sippe entsprungen zu sein.
"Das liegt daran, dass die alle blond sind, ist doch klar", sagt Olle. In Montreal in Quebec, Kanada, ist echtes Blond Mangelware. Die Nachkommen der französischen Siedler sehen oft französischer aus als die Franzosen, ihre Haare sind schwarz und ihre Augen dunkelbraun.
Meine Söhne, Olle und ich haben dort zwei Jahre verbracht. Darüber freue ich mich.
Olle hat in einem Krankenhaus in Montreal Menschen mit schweren Brandverletzungen operiert, und ich habe im Krankenzimmer der Schule ausgeholfen. Vier eigene Kinder und gesunder Menschenverstand befähigten mich für diese Arbeit.
Als ich zum ersten Mal in Sherbrooke, der Avenue, die sich durch die ganze Stadt zieht, in den Bus stieg, kamen alle Menschen mir ungeheuer zurückhaltend vor.
Ich schaute mich um, aber niemand achtete auch nur im Geringsten auf mich. Und mir ging auf, dass ich jetzt nur noch ein Gesicht in der Menge war.
Ich schäme mich heute ein wenig, wenn ich erzähle, dass ich dermaßen daran gewöhnt war, im Bus in Stockholm angestarrt zu werden, dass es mir seltsam und fremd vorkam, wie anders es in Montreal war.
Aber.
Was für eine Befreiung. Ein unbeschriebenes Blatt.
Nicht einen einzigen Tag habe ich bereut, meinen Posten als Chefsprecherin aufgegeben zu haben. Obwohl ich diese Arbeit wirklich geliebt habe.
Der praktische Arzt bittet um entblößten Oberkörper.
"Sie sind athletisch gebaut."
Er untersucht mein Rückgrat.
"Heben Sie den Arm zur Seite. Nach vorn. Und nach oben."
"Sie haben einen extrem geraden Rücken. Wie ein Schürhaken."
"Es gibt zwischen den Seiten einen Unterschied. Die rechte Schulter ist nicht so beweglich wie die andere."
Überweisung zum Röntgen von Nacken und Halswirbeln.
Kernspinuntersuchung. Kein Befund. Zeigt nur einen angebrochenen Wirbel. Ein Zufallsfund. Ist aber für mein eigentliches Problem vermutlich nicht von Bedeutung.
Ich wende mich an meinen guten Freund, den Professor der Radiologie. Warum erst jetzt? Ulnaris, Medianus und Radialis. Die Nerven der Hand haben Namen, die sich anhören wie fantastische Pseudonyme. Brachialis. Dorsalis. Eine neue Welt öffnet sich, und ich bin fasziniert von Synapsen, Axonen und Nerventerminalen. Alles in fein aufeinander abgestimmter Harmonie. Gleichgewicht zwischen Nerven und Muskeln. Wie eine Symphonie, in perfektem Klang gespielt.
Aber etwas hier ist verstimmt.
Nur was?
Ich kehre zurück zur Rapport-Redaktion. Nicht als Programmleiterin. Das ist ein abgeschlossenes Kapitel. Die Jahre in Kanada haben mich von dem Zwang befreit, zu glauben, ich müsse im Fernsehen zu sehen sein, um eine Existenzberechtigung zu haben. Jetzt werde ich mich um Verbraucherfragen kümmern. Ich bin froh und frei und fliege die Treppe im Östra-Bahnhof hinunter. Der Jahrmarkt der Eitelkeit hat mir neue Armani-Jeans beschert, und ich nehme drei Stufen auf einmal.
Eine 49 Jahre junge Frau erobert die Welt zurück. Meine Verbraucher-Reportagen bekommen mehr Platz in den Nachrichten. Ich verschicke E-Mails und rufe Verbraucherberatung, Juristen, Umweltpolizei, Wirtschaftsforscher an, um mir ein Kontaktnetz aufzubauen. Fliege zum Recherchieren nach Göteborg, und Rapport bringt einen Bericht.
Das Einzige, was mir fehlt, ist eine rechte Hand, mit der ich rasch Notizen machen kann.
Gleichzeitig folgt ein Arztbesuch auf den anderen.
"Früher lagen auf dem Kühlschrank die Einladungen zu Essen und Festen. Jetzt sind da nur noch deine Arzttermine", sagt Olle scherzend.
Der Neurophysiologe Sture Hansson hat warme Hände, mit denen er Nadeln in meinen Körper drückt. Vorsichtig schiebt er die Elektroden hinein, die so groß sind wie Akupunkturnadeln. Er interessiert sich so sehr für seine Arbeit, dass auch ich von dem gefesselt bin, was er auf dem Bildschirm sieht, der elektrischen Aktivität der Muskeln, und ich vergesse darüber, dass es ein bisschen wehtut. Als es blutet, klebt er ein Pflaster darauf.
"Einmal hat nach einer Untersuchung ein Patient angerufen und erzählt, er sei wieder gesund. Die Nadelelektroden hatten bei ihm offenbar wie eine Akupunktur gewirkt", erzählt Dr. Hansson.
Aber für mich ist die Untersuchung niederschmetternd. Die Nerven im rechten Arm und in der rechten Hand sind messbar beschädigt. Wir können Nervenzuckungen bis hinauf zur Schulter sehen, und Sture Hansson verweist mich an eine Neurologin, als ich auf einer genaueren Auskunft bestehe.
"Hatten Sie irgendwann einmal eine schwere Verletzung", fragt die Frau, die jetzt zu meiner Leibärztin geworden ist. Sie heißt Anne Zachau und ist eine Mischung aus Schneewittchen und einer Ballerina. Ich bringe ihr tiefe Achtung entgegen.
Sicher, ich bin jemand, die durch unwegsames Gelände galoppiert ist. Mit der das Pferd mehr als einmal durchgegangen ist. Die auf der allersteilsten Piste Purzelbäume geschlagen hat. Die bei steifer Brise Segel gerefft hat und dabei mit dem Kopf gegen den Mast geschlagen ist. Die beim Langlauf rasante Stopps und Stürze geliefert hat und mit Judo aufhören musste, als das Werfen für eine Mutter von kleinen Kindern zu hart wurde.
"Mussten Sie damit ins Krankenhaus?"
"Nein", antworte ich, erzähle dann aber, dass meine Mutter einmal zwei Patienten wegschicken musste, als ich fünf Jahre alt war und meinen achtjährigen Bruder besiegt hatte. Ich war nämlich als Erste oben auf dem Haufen aus gefrorenem Laub. Er war wütend und schlug mir mit einem zerbrochenen Hocker auf den Kopf. Ich rannte zur Praxis, setzte mich ins Wartezimmer und wartete, bis Mama mit Bohren fertig war. Am Ende wurde ich ein wenig lauter und sagte: "Mama, draußen regnet's. Ich bin nass."
Es war ein kristallklarer und sonniger Tag im Oktober. Meine Mutter drehte sich um und sah, dass ihrer Tochter das Blut über das Gesicht strömte. Meine Wunde wurde im Krankenhaus genäht, und wenn ich Äther rieche, muss ich noch heute daran denken.
Dr. Zachau lacht ein wenig, und ich muss die Zunge herausstrecken. Sie sieht sie sich ganz genau an, um Nervenzuckungen zu entdecken, Faszikulationen. Aber sie findet keine. Das ist gut, denn es deutet darauf hin, dass es sich um einen peripheren Nervenschaden handelt. Der in den unteren Motoneuronen sitzt. Also nicht im Gehirn. Denn solche Verletzungen können nicht ausheilen.
Ich schäme mich, weil meine Zunge einen gelblichen Belag aufweist, und bin dankbar, als ich den Mund zumachen kann.
Die Journalistin macht sich im Netz auf die Suche. Ich befürchte das Schlimmste. Im Internet kann man so ungefähr alles finden, und ich muss einfach immer weitersuchen. Motoneuronale Krankheiten. MS. Bulbärparese. Amyotrophische Lateralsklerose.
ALS?
Es kann auch zu viel Informationen geben. Die zu einem Kurzschluss im verwirrten Gehirn führen.
Ich klammere mich an den angebrochenen Wirbel, den die Kernspinuntersuchung gezeigt hat. Einer von all den Ärzten, an die ich mich bisher gewandt habe, hat gesagt, ein angebrochener Wirbel könne dieselben Symptome hervorrufen. Das klingt beruhigend und ist etwas, woran ich mich festhalten kann.
Mein Freund Johan bringt mich ins Stockholm Spine Center am Löwenströmska-Krankenhaus. Es ist Herbstwetter, und plötzlich fällt mit lautem Klirren die Seitenfensterscheibe aus meinem Peugeot.
Der Wind weht herein, wir kleben eine Decke davor. Und wir lachen.
Der Arzt, der bekannte Neurochirurg, verspätet sich. Er empfängt seine Patienten halb liegend in seinem Sessel.
Er ist Segler, denke ich, während er mich auffordert, mich bis auf BH und Unterhose zu entkleiden. Es gibt keinen Wandschirm oder Vorhang. Es gibt nur einen Stuhl, auf dem ich Hose und Jacke ablegen kann.
Selten sind mir schwarze Unterhose und BH so fehl am Platze vorgekommen. Beschämt schlage ich die Augen nieder und stelle fest, dass ich auf einem Perserteppich stehe.
"Strecken Sie den Arm aus."
"Heben Sie das linke Bein.
"Drehen Sie den Kopf zur Seite."
Ich richte meinen Blick auf Marilyn Monroes schwarzweiße Lippen.
Das Bild ist elegant gerahmt und ziert das Bücherregal im Behandlungszimmer des Arztes.
Ich stehe da in schwarzer Unterwäsche und mit ausgestrecktem Arm auf dem dunkelroten Teppich und starre Marilyn Monroe an.
Es liegt nicht am angebrochenen Wirbel, dass die Hand gelähmt ist.
Der fragliche Wirbel ist nämlich auf der falschen Seite.
... weniger
Autoren-Porträt von Ulla-Carin Lindquist
Ulla-Carin Lindquist, geboren 1953, war Nachrichten-Moderatorin im schwedischen Fernsehen. 2003 Aufgabe ihres Berufes durch ihre ALS-Erkrankung. Die Autorin verstarb im März 2004.Dr. Gabriele Haefs studierte in Bonn und Hamburg Sprachwissenschaft. Seit 25 Jahren übersetzt sie u.a. aus dem Dänischen, Englischen, Niederländischen und Walisischen. Sie wurde dafür u.a. mit dem Gustav- Heinemann-Friedenspreis und dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, 2008 mit dem Sonderpreis für ihr übersetzerisches Gesamtwerk. 2011 wurde Gabriele Haefs als Königlich Norwegische Ritterin des St.Olavs Ordens in der Norwegischen Botschaft in Berlin ausgezeichnet u.a. für ihre Übersetzungen, für die Vermittlung von norwegischen Büchern nach Deutschland sowie für das Knüpfen von Kontakten im Kulturbereich ganz allgemein.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ulla-Carin Lindquist
- 2004, 1, 190 Seiten, Maße: 13 x 20,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Schwed. v. Gabriele Haefs
- Verlag: Arkana
- ISBN-10: 3442337313
- ISBN-13: 9783442337316
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