Rückzug
Roman
Als das Leben noch nach Zukunft schmeckte
Eine Kommune inmitten der kanadischen Einöde: Hier verbringt die Familie Byrd gemeinsam mit anderen Sinnsuchenden ihre Ferien. Die Mutter, von Depressionen gequält, erhofft sich seelische Erneuerung....
Eine Kommune inmitten der kanadischen Einöde: Hier verbringt die Familie Byrd gemeinsam mit anderen Sinnsuchenden ihre Ferien. Die Mutter, von Depressionen gequält, erhofft sich seelische Erneuerung....
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Produktinformationen zu „Rückzug “
Als das Leben noch nach Zukunft schmeckte
Eine Kommune inmitten der kanadischen Einöde: Hier verbringt die Familie Byrd gemeinsam mit anderen Sinnsuchenden ihre Ferien. Die Mutter, von Depressionen gequält, erhofft sich seelische Erneuerung. Der Vater versucht verzweifelt, am Alltag festzuhalten. Ein gescheiterter Schriftsteller, dessen Frau mit ihrem Geliebten angereist ist, will seinen Intellekt schärfen. Und die Jugendlichen wollen herausfinden, was die Zukunft für sie bereithält. Sie alle kreisen um sich selbst und sind doch nur auf der Suche nach dem wahren Leben. Aber ihr Dasein gerät erst richtig ins Wanken, als die siebzehnjährige Lizzy Byrd den jungen Ojibway-Indianer Raymond kennenlernt, der fern aller Normen und aller Akzeptanz in einer Hütte im Wald lebt. Aus Liebe wird Verzweiflung, aus Träumen wird jähe Gewissheit. Und plötzlich stehen die Urlauber am Rande einer zerbrechlichen Welt, in der Hautfarbe, Herkunft und die gerade geltende Moral alles verändern können.
Eine Kommune inmitten der kanadischen Einöde: Hier verbringt die Familie Byrd gemeinsam mit anderen Sinnsuchenden ihre Ferien. Die Mutter, von Depressionen gequält, erhofft sich seelische Erneuerung. Der Vater versucht verzweifelt, am Alltag festzuhalten. Ein gescheiterter Schriftsteller, dessen Frau mit ihrem Geliebten angereist ist, will seinen Intellekt schärfen. Und die Jugendlichen wollen herausfinden, was die Zukunft für sie bereithält. Sie alle kreisen um sich selbst und sind doch nur auf der Suche nach dem wahren Leben. Aber ihr Dasein gerät erst richtig ins Wanken, als die siebzehnjährige Lizzy Byrd den jungen Ojibway-Indianer Raymond kennenlernt, der fern aller Normen und aller Akzeptanz in einer Hütte im Wald lebt. Aus Liebe wird Verzweiflung, aus Träumen wird jähe Gewissheit. Und plötzlich stehen die Urlauber am Rande einer zerbrechlichen Welt, in der Hautfarbe, Herkunft und die gerade geltende Moral alles verändern können.
Klappentext zu „Rückzug “
Als das Leben noch nach Zukunft schmeckteEine Kommune inmitten der kanadischen Einöde: Hier verbringt die Familie Byrd gemeinsam mit anderen Sinnsuchenden ihre Ferien. Die Mutter, von Depressionen gequält, erhofft sich seelische Erneuerung. Der Vater versucht verzweifelt, am Alltag festzuhalten. Ein gescheiterter Schriftsteller, dessen Frau mit ihrem Geliebten angereist ist, will seinen Intellekt schärfen. Und die Jugendlichen wollen herausfinden, was die Zukunft für sie bereithält. Sie alle kreisen um sich selbst und sind doch nur auf der Suche nach dem wahren Leben. Aber ihr Dasein gerät erst richtig ins Wanken, als die siebzehnjährige Lizzy Byrd den jungen Ojibway-Indianer Raymond kennenlernt, der fern aller Normen und aller Akzeptanz in einer Hütte im Wald lebt. Aus Liebe wird Verzweiflung, aus Träumen wird jähe Gewissheit. Und plötzlich stehen die Urlauber am Rande einer zerbrechlichen Welt, in der Hautfarbe, Herkunft und die gerade geltende Moral alles verändern können.
Lese-Probe zu „Rückzug “
Rückzug von David BergenI
Die Insel
Im Frühsommer 1973 verließ er das Haus seiner Großmutter und schaffte seine Habseligkeiten aus dem Reservat in eine kleine Blockhütte in der Nähe von Bare Point, wo sein Leben hart war in seiner Einfachheit. Die ungestrichenen Zimmer, der Stall mit den Hühnern, die Möbel, ausrangiertes Zeug vom Müllplatz, die Abende an dem Tischchen, auf dem mehrere Kerzen brannten. Er war gerade achtzehn geworden, hatte im Frühjahr die Highschool abgebrochen, und ihm gefiel die Freiheit seines kargen, einsamen Lebens. Er arbeitete auf dem örtlichen Golfplatz, und abends fuhr er in die Stadt, wo er sich mit Alice Hart traf, der Tochter eines Geschäftsmannes von hier, des Besitzers des städtischen Holzlagers. Unter dem Vordach des Paramount-Kinos in der Second Street lehnte Alice an der Mauer und wartete. Sie lutschte Pfefferminz, und als sie ihn küsste, roch ihr Mund nach Großmutters Pfefferminztee. Ihre Zunge war flink. Sie hatte zu ihm gesagt, er solle sich einen Schnurrbart wachsen lassen, aber der Versuch war fehlgeschlagen, es hatte nur zu einem ungleichmäßigen Flaum gereicht. Weil ihr Vater verboten hatte, dass sie mit ihm zusammen war, fuhren sie meist auf abgelegenen Straßen aus Kenora hinaus in Richtung Norden und dann im Bogen zurück zu seiner Hütte, wo sie Karten spielten und tranken und sich gegenseitig entkleideten und Alice ihm ewige Liebe versprach. »Ray«, sagte sie. Ihre Finger waren leicht, und durch den Scheitel in ihrem Haar konnte er die weiße Kopfhaut sehen. Nach dem Sex wurden ihre Ohren leuchtend rot.
... mehr
Er hatte ein fünf Meter langes Lund-Aluminiumboot mit einem 20-PS-Johnson, und eines Abends fuhr Raymond mit Alice in der Dämmerung auf den See hinaus, und sie beobachteten, wie ein Gewitter aus Westen aufzog. Das Wetterleuchten war hoch und bewegte sich seitwärts über den Himmel, es sah aus, als striche jemand Streichhölzer an, schaffte es aber nicht, sie zum Brennen zu bringen. Alice trug eine orangefarbene Schwimmweste. Sie saß da, trank Bier und blickte zu Raymond zurück, und er sah seine Zukunft, und Alice kam darin nicht vor. Sie lächelte. Hob ihr Bier und trank. Der Himmel erhellte sich hinter ihrem Kopf.
Earl Hart, einer der Constables der städtischen Polizei und ein Onkel von Alice, stattete Raymond an einem Dienstagabend, als gerade geschlossen wurde, am Golfplatz einen Besuch ab. Er parkte neben Raymonds Pick-up, und während Raymond näher kam, kurbelte Hart sein Fenster herunter und sagte: »Seymour.« Raymond nickte und öffnete die Beifahrertür seines Pick-ups. Er warf seine Jacke und die Lunchbox hinein, schloss die Tür und sah Hart an, der sagte, er solle in den Streifenwagen steigen.
»Ich möchte dich kurz sprechen.«
Raymond blickte über das Dach des Streifenwagens zum Clubhaus hinüber. Er steckte die Hände in die Taschen, ging zur Beifahrertür herum und stieg ein.
»Spielst du Golf?«, fragte Hart.
Raymond verneinte. Er kümmere sich bloß um den Platz, mähe die Greens und die Fairways. Aber er spiele Basketball, sagte er. Point Guard. Er lächelte ein bisschen.
»Ach ja? Bist du gut?«
Raymond zuckte die Schultern. Er sagte, das könne er nicht wissen. Sein Trainer, Roger, müsse das sagen.
»So, du bist bescheiden.«
»Könnte sein«, sagte Raymond.
»Du bist dir nicht sicher.«
»Ich glaube nicht.«
»Pah. Er glaubt, er ist sich nicht sicher. Himmelherrgott.« Hart rutschte auf dem Sitz herum und klopfte mit einem dicken Finger aufs Lenkrad. »Und über Golf weißt du auch nichts. Komisch. Das ist, als würde ich für jemanden die Pistole reinigen, damit er sie benutzen kann, hätte aber nie mit einer geschossen.« Er tätschelte die Pistole an seiner rechten Hüfte. »Findest du das nicht seltsam?« Dann sagte er, ohne eine Antwort abzuwarten, er habe früher mal Golf gespielt, sei aber ein schlechter Spieler, vor allem bei den langen Schlägen. »Auf hundert Meter bin ich gut. Aber wenn ich vom Abschlag spiele, landet der Ball im Aus. Schrecklich, den Ball ins Aus zu schlagen, findest du nicht? Man verliert einen Schlag, den Ball und seinen Stolz. Alles geht den Bach runter.« Er gluckste in sich hinein, aber es war kein richtiges Lachen, eher das Abbild eines Lachens, als wäre er lange Zeit unglücklich gewesen und hätte gelernt, Freude zu imitieren.
Er sagte: »Alice Hart, meine Nichte. Sie ist siebzehn. Du kennst sie.«
Raymond sagte ja.
»Mein Bruder, Alices Vater, wollte mit dir reden, aber ich hab ihm vorgeschlagen, mich das machen zu lassen. Mein Bruder ist impulsiv. Er will Alice schützen. Sie ist seine einzige Tochter. Verstehst du? Und Alice ist genauso impulsiv wie ihr Vater, der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm, und es ist beschlossene Sache, dass sich Alice nicht mehr mit dir treffen wird. Es ist zu Ende. Keine Abende mit Alice mehr, was immer ihr da auch treibt. Was dich angeht, so existiert sie nicht. Und was sie angeht, so existierst du nicht. Raymond Seymour existiert nicht mehr. Kapiert?«
Es nisteten Falken in den Rottannen gleich neben dem Club haus. Sie stiegen auf und ließen sich nieder, und einer kreiste hoch oben in der Luft, ein schwarzer Punkt, kaum sichtbar gegen den sich verdunkelnden Himmel. Am Tag zuvor hatte man eine Bärin mit ihren Jungen in den Büschen zwischen dem fünften und sechsten Fairway beobachtet. Eine Rotwildfamilie kam auf das neunte Green und verschwand wieder; jeden Morgen fand er ihre zarten Hufabdrücke auf dem weichen Gras. Das war die Ordnung der Welt. Niemand hatte Raymond Seymour gebeten, die Tiere zu verscheuchen. Raymond fragte Hart, ob Alice einverstanden sei. Wusste sie, dass er nicht mehr existierte?
Hart rutschte auf seinem Sitz herum und bedeckte mit der rechten Hand seinen Schritt, als wollte er die unerhörte Frechheit dieser Frage andeuten. Er war ein kleiner Mann mit einem dicken Bauch, und seine Hand verschwand darunter und tauchte dann wieder auf. Er sagte, Alice habe in dieser Sache nichts zu sagen. Das Mädchen sei naiv. »Sie ist kein Fressen für einen Jungen wie dich.« Er hob die Hand und streckte einen kurzen Finger in die Luft. »Du bist Indianer. Bleib bei dem, was du kennst. Ich habe gehört, du bist klug. Beweis es.« Er entließ ihn mit einer Handbewegung und sagte: »Raus.«
Raymond stieg aus dem Wagen und sah dem wegfahrenden Hart hinterher. Es war dunkel geworden. Die Rücklichter des Streifenwagens leuchteten auf und verschwanden. Raymond fuhr in die Stadt, kaufte sich an der Shell-Tankstelle eine Cola und parkte dann in der Nähe des Paramount. Er ging hinein und bat um eine Eintrittskarte für die Spätvorstellung von Leben und sterben lassen. Das Mädchen in der Kasse sagte, der Film habe schon vor einer Stunde angefangen. Er könne so rein. Er kaufte sich Popcorn, ging hinein und setzte sich weit hinten hin. Das Kino war halb leer. Eine Ansammlung von Paaren, einige einzelne Köpfe zeichneten sich vor der Leinwand ab.
Er stemmte seine Füße gegen den Sitz vor ihm und sah James Bond zu, wie er die Welt rettete. Später stand er unter dem Vordach auf dem Gehweg und wartete darauf, dass Alice auftauchte. Er stellte sich vor, sie käme in Sandalen und Jeans und einem geblümten ärmellosen Top auf ihn zu, sagte seinen Namen und nähme seine Hand. Sie würde Kreolen am Ohr tragen. Er würde mit ihr ins Kenricia gehen. Sie würden Steaks essen. Dann würden sie zu ihm fahren, einen Schlummertrunk nehmen und ins Bett kriechen, und am Morgen würden sie einander gegenübersitzen und Toaste essen.
Stattdessen fuhr Raymond die 71 bis zu seiner Abzweigung hoch und dann über die Schotterstraße zu seiner Hütte, wo er Kerzen anzündete, sich an seinen einzigen Tisch setzte und Ravioli aus der Dose aß. Dann fütterte er die Hühner und setzte sich auf die Schaukel, die er sich aus der Vordersitzbank eines Studebaker gebaut hatte. Vier Ketten und ein Stahlrahmen. Ein Moskito landete auf seinem Unterarm. Er erschlug ihn. Zündete sich eine Zigarette an.
Am Morgen wusch er sich und kleidete sich für Mrs. Kennedy an. Saubere Jeans, Button-down-Hemd. Neun Löcher an jedem Mittwoch um neun Uhr morgens, Raymond als ihr Caddy, obwohl er wenig über Golf wusste und andere Golfer keine Caddys hatten. Aber die Geschäftsleitung wünschte, dass Lisa Kennedy zufrieden war, und am zufriedensten war sie mit Raymond an ihrer Seite. Sie spielte allein. An diesem Morgen trug sie einen pinkfarbenen Faltenrock, der ihr bis zu den Knien reichte, und eine weiße kurzärmelige Bluse. Die Ärmel eines weißen Pullovers um die Taille gebunden. Raymond trug ihre Schläger und ihren Kaffee. Den ersten Abschlag kriegte sie sauber hin, wenn auch nicht sehr weit. Sie gingen nebeneinander her, und die Schlägertasche schlug gegen Raymonds linkes Bein. Die Morgensonne hatte den Rasen vom Tau getrocknet. Mrs. Kennedy streckte die Hand nach dem Kaffee aus, und Raymond reichte ihn ihr. Sie trank im Gehen und sagte, dass sie am nächsten Tag nach Texas fliegen werde, um sich mit einem Mann zu treffen, der sie heiraten wolle. »Er hat sein Geld mit Öl verdient«, sagte sie. »Man muss doch gespannt sein auf einen Mann, der reich wird, indem er schwarzes Zeug aus dem Boden pumpt.« Sie bat um ein Dreier-Eisen. Raymond zog es aus der Tasche und gab es ihr in die Hand. Sie stellte sich in Positur und machte einen Probeschwung, dann drehte sie sich zu Raymond herum und fragte, ob er vorhabe, eines Tages zu heiraten. Raymond grinste und zuckte die Schultern. »Tu's nicht des Geldes wegen«, sagte sie. »Das macht nicht glücklich. Ein Paar kann glücklicher sein, wenn's die Ablenkung durch Geld nicht gibt. Es zu verdienen. Es auszugeben. Es zusammenzuhalten. « Sie verstummte, sah hinunter auf den Ball und holte aus.
Als sie am dritten Abschlag darauf wartete, dass ein Viererspiel fertig wurde, setzte sie sich auf eine Bank, schlug die sonnengebräunten Beine übereinander und sagte, der Texaner wolle, dass sie Amerikanerin werde. »Es ist ein verrücktes Land. Sie wählen ihre Präsidenten, und dann schmeißen sie sie weg wie Abfall. Ich habe ihm das gesagt. Er sagte, die Freiheit hat manchmal auch Nachteile. Trotzdem denke ich drüber nach. Zu den Flitterwochen will er nach Ägypten. Wo die Pyramiden sind.«
Raymond sagte, er wisse über die Pyramiden Bescheid.
»Natürlich. Du bist nicht dumm.«
Sie puttete mit einem Vierer auf dem sechsten Grün und stieß einen leisen Fluch aus, als beim zweiten Putt der Ball übers Loch hinausrollte. Als sie fertig war, steckte Raymond die Fahne zurück, und zusammen spazierten sie weiter zum siebten Abschlag. Sie war kleiner als er, und er blickte auf sie hinunter. Die Windung ihres Ohrs, modellierter Marmor. Ihr kleiner zarter Kopf. Sie wohnte allein in einem großen Haus auf Coney Island. Ihr Mann hatte es ihr nach einer gütlichen Scheidung geschenkt. Ihre Worte. Manchmal kam er abends herüber zum Sex. Ihre Worte. Das hatte sie Raymond erzählt, gleich nachdem die Scheidung durch war. Sie sagte: »Ich hätte nie gedacht, dass Sex mit meinem Exehemann so gut sein könnte.« Sie sah Raymond nicht an, als sie das sagte. Sie sah an ihm vorbei, und so schien es, als spräche sie mit jemand anderem, mit jemandem, der direkt hinter Raymond stand, mit jemandem, der wirklich existierte.
Eine Woche verging, und er hörte nichts von Alice. Er fuhr eines Nachts an ihrem Haus vorbei, aber es war dunkel. Er wartete drauf, dass sie ihn wie gewöhnlich im Clubhaus anrief, aber es kamen keine Anrufe. Eines Abends besuchte er seine Großmutter und sah mit ihr fern. Dann spielten sie Karten, und er ließ sie gewinnen. An der Wand hinter seiner Großmutter hing ein Bild von Jesus, der sich zu einem Mann herabbeugt und ihn an seinem verkrüppelten Bein berührt. Auf einer Vitrine daneben standen Schulabgangsfotos von Raymonds Brüdern und Schwestern. Auf dem Tisch, an dem sie saßen, lag eine orangefarbene Plastiktischdecke, die mit grünen Blumen in braunen Blumentöpfen bedruckt war. Die Hände seiner Großmutter lagen über einem dieser Töpfe. Ihre Hände waren dunkel und faltig, und der linke kleine Finger war krumm, weil sie sich ihn vor Jahren gebrochen hatte und er nie richtig zusammengewachsen war. Seine Großmutter stand auf, ging in die Küche und kam mit einem überbackenen Käsesandwich auf einem rosa Teller zurück und goss ihm Tee ein.
Seine Schwester Reenie und ihre vier Kinder kamen von einer Missionskampagne im städtischen Stadion zurück. Ein Prediger aus Kansas war die Woche über in Kenora, und Ree nie liebte die Musik, das Predigen, die Aufforderung an die Sünder vorzutreten, und sie trat unwillkürlich vor, weil sie sich als Sünderin sah. Sie liebte die Berührung des Predigers, wenn er ihr seine Hände auflegte. Lee, Reenies vierzehnjährige Tochter, kam zur Tür herein, setzte sich neben Raymond und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Onkel Ray«, sagte sie.
Reenie ging in die Küche und kam mit einem Erdnussbuttersandwich zurück. Sie sagte, Pastor Rudy sei der tollste Mensch. »Er ist auf einer höheren Ebene«, meinte sie. »Als er mich an der Schulter berührt hat, genau hier, war's, als fließt Strom von ihm in mich.« Sie sah ihre Tochter an und sagte, sie hätte auch vortreten sollen.
Lee schüttelte den Kopf.
»Niemand ist was Besonderes«, sagte Reenie. »Hättest auch kommen sollen, Ray. Du könntest ein Wörtchen mit Gott gebrauchen. Hier, ich habe ein Neues Testament gekriegt.«
Das Buch war klein und blau, und Reenies große Hand umschloss es völlig. Sie reichte es Lee. »Es ist jetzt deins«, sagte Reenie. Lee hielt es lose und etwas zweifelnd in der Hand.
Reenie erzählte Raymond, dass sie vor ungefähr einer Woche zu ihm raufgefahren sei, um ihn in der Hütte zu besuchen. Er war nicht da, aber Alice Hart war dort. »Sie saß im Wagen ihres Vaters und tat ganz selbstsicher, und als sie mich gesehen hat, fragte sie mich nach dir. Wo warst du? Als ob, weil sie da war, auch du da sein solltest. Ihre Augen stehen zu dicht beieinander. Findest du nicht auch?«
Raymond nahm Lee das Neue Testament aus der Hand und blätterte mit dem Daumen die Seiten durch, roch das Neue. Reichte es zurück und stellte sich Alices Augen vor. Er spürte einen Schmerz im Magen.
Reenie sagte, jedes Mädchen, das in diesem Alter einen Cadillac fahre, würde viel zu viel vom Leben erwarten. »Hat sie dir an deinen Schwanz gefasst?« Reenie lachte. Lee kicherte. Im Herbst käme Lee auf die Schule, die Raymond gerade verlassen hatte, ein monströses Gebäude, das Kinder unfertig schluckte und vier Jahre später größer und trauriger und manchmal klüger wieder ausspuckte. Lee war bereits klug. Sie hielt das Neue Testament mit einem gewissen Zweifel in der Hand. Raymond stand auf, ging hinaus und fuhr hinauf zu seiner Hütte. Die Wagenfenster waren offen, und Luft wehte herein, und der Himmel über ihm war weit, und Sternschnuppen fielen, und es roch nach Herbst.
Am nächsten Abend kam Alice im Cadillac ihres Vaters zu seiner Hütte, parkte, und ihre Scheinwerfer leuchteten durch seine Haustür. Zuerst wusste er nicht, wer es war, und er hätte möglicherweise die Scheinwerfer mit seiner .22er ausgeschossen, aber Alices Stimme schwebte durch die Dunkelheit heran, als sie seinen Namen rief. Er ging zu ihr, beugte sich durchs Seitenfenster hinein und legte ihr seine Hände wie eine lose Halskette um den mageren Hals. Es regnete an diesem Abend, ein heftiger, von Donner und Blitz begleiteter Guss, und draußen auf dem Highway 17 sahen sie, als ein Blitz von links nach rechts über den Himmel fegte, einen Elch mitten auf dem Mittelstreifen stehen. Raymond verlor kein Wort über die Geschichte mit ihrem Onkel, auch nicht, als sie aus heiterem Himmel sagte, dass ihr Onkel manchmal ein Arschloch sein könne. Die Aussage schien das Eingeständnis von etwas zu sein; Zustimmung vielleicht oder die Einsicht, dass dies hier ein geheimes und spannendes Spiel war. Als sie ihn absetzte, wies er sie darauf hin, dass Matsch an den Reifen und den Radschächten hänge, sein Matsch, und sie solle den Wagen in die Waschanlage fahren. Und das tat sie auch. Fuhr hinüber zum Wand Wash, wo sie den Wagen innen und außen sauber putzte und von allen Hinweisen auf Raymond Seymour befreite.
Im Oktober blieb sein Bruder Marcel eine Nacht bei ihm in der Hütte, als er auf der Durchreise von Vancouver nach Montreal war, wo er für eine Anwaltskanzlei zu arbeiten beabsichtigte, die auf Landrechtsklagen spezialisiert war. Marcel brachte einen Zwölferpack Bier mit, und die Brüder setzten sich in die Schaukel und tranken, während ihm Marcel noch mal erzählte, wie seine acht Monate im Gefängnis seine Wahl beeinflusst hatten, Jurist zu werden. »Lieber nach außen hin ein Arsch sein«, sagte er. »So kann man wenigstens rauskommen.« Er sagte, sie hätten einfach schlechte Karten. »Ich will nicht jammern, aber es ist doch so, Ray, du kannst dich entweder hinlegen und von dem Mann immer wieder überrollen lassen oder aber selber am Steuer sitzen. Das genau ist es, was ich tue, am Steuer sitzen.« Er verstummte und machte noch ein Bier auf. »Ich hab da in Vancouver ein Mädchen getroffen, wir haben zusammen Jura studiert. Ihr Vater ist da ein hohes Tier am Gericht. Wohnt in 'nem Riesenhaus mit Blick auf den Hafen, bloß hat ihm ein Baum des Nachbarn, eine riesige verdammte Zeder, die Aussicht versperrt, darum hat er jemand angeheuert, den Baum zu vergiften. Seine Tochter Naomi, ich war eine Weile mit ihr zusammen, hat mir das erzählt. Sie hat's erzählt, als wär's völlig in Ordnung. Unser Problem ist, wir sind zu nett. Verstehst du? Zu verdammt nett. Wenn die meisten Leute was haben wollen, gehen sie einfach hin und holen sich's. Da kann man viel von lernen.«
Marcel trug ein dunkelblaues Jackett und hatte den Kragen seines Hemds über den Jackenkragen geschlagen. Die obersten drei Hemdknöpfe waren offen, und er trug eine Goldkette mit einem schweren Anhänger. Seine Uhr, die ziemlich teuer wirkte, rutschte ihm immer über das Handgelenk und wieder zurück, wenn er den Arm hob. Er sagte, er genieße es, nach Hause zu kommen. »Du solltest mal weg, Ray. Dann wüsstest du das hier mehr zu schätzen.«
»Mir geht's gut«, sagte Raymond. »Ich muss hier nicht weg.«
»Ich sag dir mal was. Ich bin zwölf Jahre älter als du. Wenn du irgend'ne Dummheit vorhast, ruf mich an, und ich red sie dir aus.« Er zeigte auf seinen Brustkorb. »Ich bin dreißig. Da hat sich eine Menge Wissen angesammelt, das ich meinem kleinen Bruder vermitteln kann. Ich leite dich, damit du nicht vor irgend so 'm Arschloch von Richter wie Nottingham landest, der dich mit Freuden einlochen und den Schlüssel verschlucken würde. Der Kerl ist so fett, er würde Jahre brauchen, bis er ihn wieder ausscheißt. Weißt du, was er zu mir gesagt hat? Er sagte: ›Mäuse verdienen was Besseres, als Sie es kriegen, Mr. Seymour.‹ Und dann hat er den Hammer auf den Richtertisch geknallt und ist 'n Steak essen gegangen.«
Am Himmel fielen Sternschnuppen. Im Bett hörte Raymond vor dem Einschlafen, wie sich sein Bruder auf der nahen Matratze hin und her warf. »Marcel?«, sagte er.
Aus dem Dunkel: »Hmmm.«
»Ich könnte mit dir mitfahren. Nach Montreal. Ich würde mir Arbeit suchen. Mich um deine Wohnung kümmern, kochen und sauber machen. Dich in Ruhe lassen.«
»Du könntest meine Frau sein, mit anderen Worten.«
»Mit anderen Worten?«
»Genau das sagst du doch.«
»Das sage ich nicht. Ich frage bloß.«
»Ich dachte, dir gefällt es hier.«
»Tut's auch. Meistens.«
»Reenie sagt, du hättest ein Mädchen.«
»Reenie ist ein Klatschmaul.«
»Wie heißt sie?«
»Alice. Hart.«
Es entstand eine Stille, die sich dehnte und streckte und dann in sich zusammenfiel.
Ein Grunzen und dann: »Etwa verwandt mit Hart, dem Polizisten, seine Tochter?«
»Seine Nichte.«
»Sie ist die Nichte.«
»Sag ich doch.«
»Meine Güte. Für wen hältst du dich? Herrgott, Ray. Wir sind hier nicht im Himmel.«
»Sie hat mich gern.«
Ein Lachen, spöttisch und ungläubig. »Sie hat mich gern. Was du nicht sagst. Hör zu, kleiner Bruder. Hart steckt in Nottinghams Tasche, und diese Alice steckt bei ihrem Vater in der Tasche, und selbst wenn's so scheint, als wär sie aus der Tasche ihres Vaters in deine gehüpft, ist deine Tasche nicht groß genug für sie. Jedenfalls nicht, um sie drinzubehalten. Oder was auch immer du vorhast. Vielleicht möchtest du sie heiraten.«
»Vergiss es.«
Marcel lachte. Ein leises Schnauben und dann ein Brüllen, und das Geräusch kreiste durchs Zimmer. Als er sprach, war seine Stimme weicher, schmeichelnd und mütterlich. »Was würdest du denn kochen?«
»Nudeln. Mit Käse. Hamburger.« Dann redete er über Mrs. Kennedy und sagte, dass sie ihm von ihrem Exmann erzählt habe und von dem Mann, den sie bald heiraten werde und dass sie rosa Röcke bis kurz überm Knie trage und wirklich gut rieche. »Der Wind kommt aus ihrer Richtung und weht an mir vorbei, und ich rieche Seife. Sie gibt mir jedes Mal zehn Dollar.«
»Sie will dich heiraten.«
»Hab ich das gesagt?«
»Du denkst es. Du stellst dir's vor. Es ist alles Täuschung, Ray, wie mit Alice.«
»Das ist keine Täuschung.«
»Ach nein?«
Dann Stille. Die Plastikfolie in den Fenstern beulte sich knallend nach innen und dann nach außen. Marcel sagte, Muscheln und Bier wären schön. Davon könne er sich ernähren. »Weißt du, wie man Muscheln zubereitet?« Dann sagte er, sich einen blasen zu lassen wäre auch eine schöne Sache. »Gibt nichts Schöneres im Leben.« Er sagte, er hätte seit Wochen nicht mehr gevögelt.
Raymond sagte, er spreche ein bisschen Französisch. Er habe es auf der Highschool belegt.
»Parlez-vous?«, sagte Marcel und lachte.
Am Morgen rasierte sich Marcel draußen an der Pumpe. Dann wusch er sich die Haare und unter den Armen und trocknete sich mit einem T-Shirt ab. Er stand da, zog ein sauberes Hemd an und knöpfte es zu, während er in die Sonne im Osten blickte. Er trug eine dunkelbraune Hose und schwarze Budapester. Sein Kleidersack lag auf dem Rücksitz. Sein Gesicht war flach im Morgenlicht. Er knuffte Raymond gegen die Brust, stieg in seinen Wagen und fuhr davon. Die Sonne spiegelte sich im Dach des Monte Carlo, als der Wagen die Hügelspitze erklomm. Dann war er weg.
Ende Oktober ging Raymond, seinen Lohn in der Tasche, ins Kenricia, setzte sich hinten an einen Tisch und bestellte ein Bier und einen Whisky pur. Der Whisky ging stark und heiß runter, und das Bier folgte langsam. Seine Füße lagen auf dem Stuhl neben ihm. Er trug seine besten Stiefel, die, die Alice mochte, dunkles Leder mit gelben Nähten. Das angenehm warme Gefühl, dass alles gut war; die Arbeit beendet, die Greens mit Stroh abgedeckt, die Schläger verstaut, »Für die Saison geschlossen « im Clubhausfenster, während ein scharfer Wind vom See he raufkam, die Vorfreude auf Alice und ihre dünnen Arme. Leona brachte noch einen Whisky. Sie stellte ihn auf den Untersetzer, und Raymond holte kurz sein Geld hervor, zog einen Schein raus und winkte ab, als sie ihm das Wechselgeld geben wollte. »Vorsicht, junger Mann«, sagte Leona. Sie wischte den Tisch ab. Der scharfe Duft ihres Parfüms, das Flüstern einer Billardkugel. Raymond spielte hervorragend Pool. Er war begabt. Mr. Knight, sein Mathelehrer in der Lakewood High, hatte ihm gesagt, er sei begabt. Er könne machen, was er wolle. »Du kannst Arzt werden«, hatte Mr. Knight gesagt. Im Moment war er Golfwart. Immer noch achtzehn. Noch Jahre Zeit.
Alice schneite herein. Ein kurzer dunkler, zweireihig geknöpfter Mantel, das Haar glatt und lang, die Wangen rot vom Wind. Sie setzte sich und zog ihren Mantel aus. Sie hatte einen karierten Trägerrock an, eine weiße Bluse, schwarze Kniestrümpfe und halbhohe Stiefel mit dicken Absätzen. Die Träger ihres Rocks kreuzten sich auf ihrem Rücken. Sie zog die Nase kraus und zündete sich eine Zigarette an. »Was spendierst du mir?« Sie verlangte dasselbe, indem sie mit den Fingern zu Leona hinüberwedelte und auf den Tisch deutete. Dann drehte sie sich herum und zielte mit der Zigarette auf Raymonds Nase. »Ich bin heute Nacht bei Jenny, du musst also auf mich aufpassen. Okay?« Sie schlug die Beine übereinander. Die schwarzen Kniestrümpfe gingen ihr bis über die Waden. Ihre Knie waren knochig, nackt und trocken.
Sie spielten eine Runde Pool, und Raymond ließ sie gewinnen. Irgendwann stand er hinter ihr, seinen Schritt an ihrem Hintern, und zeigte ihr, in welchem Winkel sie stoßen müsse. »Verstehst du?« Sie lachte, und die Vibration ihrer Stimme setzte sich von ihrem Rücken in seinen Brustkorb fort. Ein Mann mit öligen Haaren sah von der Bar aus zu. »Hey, Chef«, rief er. Raymond antwortete nicht. Die Achterkugel fiel. Alice quiekte und umarmte ihn. Sie gingen zum Tisch zurück und tranken.
»Er macht sich Sorgen«, sagte Alice. Sie sprach von ihrem Vater. Raymond betrachtete ihre nackten Arme. Sie presste gern ihre kleinen Brüste gegen seinen Mund. Das Rosa ihrer Brustwarzen. Wo er schamhaft sein konnte, war sie stolz. Breit daliegend wie der herabgestürzte Ast einer Birke, zog sie ihre Rinde ab. Ihr Mangel an Scham machte ihn scheu.
Leona kam zu ihnen und sagte, Ed Farber sei betrunken und stoße Drohungen aus, und weil sie heute Abend allein sei, wolle sie keinen Ärger, und es wäre ihr lieb, wenn Raymond und Alice gingen. Vielleicht könnten sie sich ja einen Sechserpack mitnehmen. Okay?
Alice sagte, sie wolle noch einen Whisky, nur noch einen, und Farber könne sie am Arsch lecken.
»Das finde ich nicht, Alice, du bist minderjährig, und falls es Ärger gibt, möchte ich nicht, dass dein Vater hier reingerannt kommt, verstehst du, also rappel dich einfach hoch und hau ab, und ich kümmer mich um Farber.«
Raymond stand auf. Er langte in seine Tasche, aber Leona winkte ab. »Der Winter ist noch lang«, sagte sie.
Alice zog ihren Mantel an, nahm ihre Zigaretten und die Handtasche und klapperte auf ihren dicken Absätzen zur Tür. Raymond folgte ihr, vorbei an einem Mann und einer Frau, die Pool spielten, und, danach, an Farbers breitem Gesicht, dann durch die Tür in einen heftigen Graupelschauer. Sie suchten unter einem Vordach Schutz, wo sich bleiches gelbes Licht im nassen Gehweg spiegelte. Alice griff in ihre Handtasche, holte einen Joint raus und zündete ihn an. Sie hielt ihm den Joint hin. Raymond drehte den Rücken zum Wind und rauchte schwankend. Alice hakte sich bei ihm unter, drückte ihr kleines Gesicht an seine Brust und sagte, das Wasserflugzeug ihres Vaters liege unten am Kai, und sie könnten hingehen und es sich dort bequem machen, wenn er wolle. Zumindest wären sie vor dem
Deutsch von Benjamin Schwarz
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Er hatte ein fünf Meter langes Lund-Aluminiumboot mit einem 20-PS-Johnson, und eines Abends fuhr Raymond mit Alice in der Dämmerung auf den See hinaus, und sie beobachteten, wie ein Gewitter aus Westen aufzog. Das Wetterleuchten war hoch und bewegte sich seitwärts über den Himmel, es sah aus, als striche jemand Streichhölzer an, schaffte es aber nicht, sie zum Brennen zu bringen. Alice trug eine orangefarbene Schwimmweste. Sie saß da, trank Bier und blickte zu Raymond zurück, und er sah seine Zukunft, und Alice kam darin nicht vor. Sie lächelte. Hob ihr Bier und trank. Der Himmel erhellte sich hinter ihrem Kopf.
Earl Hart, einer der Constables der städtischen Polizei und ein Onkel von Alice, stattete Raymond an einem Dienstagabend, als gerade geschlossen wurde, am Golfplatz einen Besuch ab. Er parkte neben Raymonds Pick-up, und während Raymond näher kam, kurbelte Hart sein Fenster herunter und sagte: »Seymour.« Raymond nickte und öffnete die Beifahrertür seines Pick-ups. Er warf seine Jacke und die Lunchbox hinein, schloss die Tür und sah Hart an, der sagte, er solle in den Streifenwagen steigen.
»Ich möchte dich kurz sprechen.«
Raymond blickte über das Dach des Streifenwagens zum Clubhaus hinüber. Er steckte die Hände in die Taschen, ging zur Beifahrertür herum und stieg ein.
»Spielst du Golf?«, fragte Hart.
Raymond verneinte. Er kümmere sich bloß um den Platz, mähe die Greens und die Fairways. Aber er spiele Basketball, sagte er. Point Guard. Er lächelte ein bisschen.
»Ach ja? Bist du gut?«
Raymond zuckte die Schultern. Er sagte, das könne er nicht wissen. Sein Trainer, Roger, müsse das sagen.
»So, du bist bescheiden.«
»Könnte sein«, sagte Raymond.
»Du bist dir nicht sicher.«
»Ich glaube nicht.«
»Pah. Er glaubt, er ist sich nicht sicher. Himmelherrgott.« Hart rutschte auf dem Sitz herum und klopfte mit einem dicken Finger aufs Lenkrad. »Und über Golf weißt du auch nichts. Komisch. Das ist, als würde ich für jemanden die Pistole reinigen, damit er sie benutzen kann, hätte aber nie mit einer geschossen.« Er tätschelte die Pistole an seiner rechten Hüfte. »Findest du das nicht seltsam?« Dann sagte er, ohne eine Antwort abzuwarten, er habe früher mal Golf gespielt, sei aber ein schlechter Spieler, vor allem bei den langen Schlägen. »Auf hundert Meter bin ich gut. Aber wenn ich vom Abschlag spiele, landet der Ball im Aus. Schrecklich, den Ball ins Aus zu schlagen, findest du nicht? Man verliert einen Schlag, den Ball und seinen Stolz. Alles geht den Bach runter.« Er gluckste in sich hinein, aber es war kein richtiges Lachen, eher das Abbild eines Lachens, als wäre er lange Zeit unglücklich gewesen und hätte gelernt, Freude zu imitieren.
Er sagte: »Alice Hart, meine Nichte. Sie ist siebzehn. Du kennst sie.«
Raymond sagte ja.
»Mein Bruder, Alices Vater, wollte mit dir reden, aber ich hab ihm vorgeschlagen, mich das machen zu lassen. Mein Bruder ist impulsiv. Er will Alice schützen. Sie ist seine einzige Tochter. Verstehst du? Und Alice ist genauso impulsiv wie ihr Vater, der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm, und es ist beschlossene Sache, dass sich Alice nicht mehr mit dir treffen wird. Es ist zu Ende. Keine Abende mit Alice mehr, was immer ihr da auch treibt. Was dich angeht, so existiert sie nicht. Und was sie angeht, so existierst du nicht. Raymond Seymour existiert nicht mehr. Kapiert?«
Es nisteten Falken in den Rottannen gleich neben dem Club haus. Sie stiegen auf und ließen sich nieder, und einer kreiste hoch oben in der Luft, ein schwarzer Punkt, kaum sichtbar gegen den sich verdunkelnden Himmel. Am Tag zuvor hatte man eine Bärin mit ihren Jungen in den Büschen zwischen dem fünften und sechsten Fairway beobachtet. Eine Rotwildfamilie kam auf das neunte Green und verschwand wieder; jeden Morgen fand er ihre zarten Hufabdrücke auf dem weichen Gras. Das war die Ordnung der Welt. Niemand hatte Raymond Seymour gebeten, die Tiere zu verscheuchen. Raymond fragte Hart, ob Alice einverstanden sei. Wusste sie, dass er nicht mehr existierte?
Hart rutschte auf seinem Sitz herum und bedeckte mit der rechten Hand seinen Schritt, als wollte er die unerhörte Frechheit dieser Frage andeuten. Er war ein kleiner Mann mit einem dicken Bauch, und seine Hand verschwand darunter und tauchte dann wieder auf. Er sagte, Alice habe in dieser Sache nichts zu sagen. Das Mädchen sei naiv. »Sie ist kein Fressen für einen Jungen wie dich.« Er hob die Hand und streckte einen kurzen Finger in die Luft. »Du bist Indianer. Bleib bei dem, was du kennst. Ich habe gehört, du bist klug. Beweis es.« Er entließ ihn mit einer Handbewegung und sagte: »Raus.«
Raymond stieg aus dem Wagen und sah dem wegfahrenden Hart hinterher. Es war dunkel geworden. Die Rücklichter des Streifenwagens leuchteten auf und verschwanden. Raymond fuhr in die Stadt, kaufte sich an der Shell-Tankstelle eine Cola und parkte dann in der Nähe des Paramount. Er ging hinein und bat um eine Eintrittskarte für die Spätvorstellung von Leben und sterben lassen. Das Mädchen in der Kasse sagte, der Film habe schon vor einer Stunde angefangen. Er könne so rein. Er kaufte sich Popcorn, ging hinein und setzte sich weit hinten hin. Das Kino war halb leer. Eine Ansammlung von Paaren, einige einzelne Köpfe zeichneten sich vor der Leinwand ab.
Er stemmte seine Füße gegen den Sitz vor ihm und sah James Bond zu, wie er die Welt rettete. Später stand er unter dem Vordach auf dem Gehweg und wartete darauf, dass Alice auftauchte. Er stellte sich vor, sie käme in Sandalen und Jeans und einem geblümten ärmellosen Top auf ihn zu, sagte seinen Namen und nähme seine Hand. Sie würde Kreolen am Ohr tragen. Er würde mit ihr ins Kenricia gehen. Sie würden Steaks essen. Dann würden sie zu ihm fahren, einen Schlummertrunk nehmen und ins Bett kriechen, und am Morgen würden sie einander gegenübersitzen und Toaste essen.
Stattdessen fuhr Raymond die 71 bis zu seiner Abzweigung hoch und dann über die Schotterstraße zu seiner Hütte, wo er Kerzen anzündete, sich an seinen einzigen Tisch setzte und Ravioli aus der Dose aß. Dann fütterte er die Hühner und setzte sich auf die Schaukel, die er sich aus der Vordersitzbank eines Studebaker gebaut hatte. Vier Ketten und ein Stahlrahmen. Ein Moskito landete auf seinem Unterarm. Er erschlug ihn. Zündete sich eine Zigarette an.
Am Morgen wusch er sich und kleidete sich für Mrs. Kennedy an. Saubere Jeans, Button-down-Hemd. Neun Löcher an jedem Mittwoch um neun Uhr morgens, Raymond als ihr Caddy, obwohl er wenig über Golf wusste und andere Golfer keine Caddys hatten. Aber die Geschäftsleitung wünschte, dass Lisa Kennedy zufrieden war, und am zufriedensten war sie mit Raymond an ihrer Seite. Sie spielte allein. An diesem Morgen trug sie einen pinkfarbenen Faltenrock, der ihr bis zu den Knien reichte, und eine weiße kurzärmelige Bluse. Die Ärmel eines weißen Pullovers um die Taille gebunden. Raymond trug ihre Schläger und ihren Kaffee. Den ersten Abschlag kriegte sie sauber hin, wenn auch nicht sehr weit. Sie gingen nebeneinander her, und die Schlägertasche schlug gegen Raymonds linkes Bein. Die Morgensonne hatte den Rasen vom Tau getrocknet. Mrs. Kennedy streckte die Hand nach dem Kaffee aus, und Raymond reichte ihn ihr. Sie trank im Gehen und sagte, dass sie am nächsten Tag nach Texas fliegen werde, um sich mit einem Mann zu treffen, der sie heiraten wolle. »Er hat sein Geld mit Öl verdient«, sagte sie. »Man muss doch gespannt sein auf einen Mann, der reich wird, indem er schwarzes Zeug aus dem Boden pumpt.« Sie bat um ein Dreier-Eisen. Raymond zog es aus der Tasche und gab es ihr in die Hand. Sie stellte sich in Positur und machte einen Probeschwung, dann drehte sie sich zu Raymond herum und fragte, ob er vorhabe, eines Tages zu heiraten. Raymond grinste und zuckte die Schultern. »Tu's nicht des Geldes wegen«, sagte sie. »Das macht nicht glücklich. Ein Paar kann glücklicher sein, wenn's die Ablenkung durch Geld nicht gibt. Es zu verdienen. Es auszugeben. Es zusammenzuhalten. « Sie verstummte, sah hinunter auf den Ball und holte aus.
Als sie am dritten Abschlag darauf wartete, dass ein Viererspiel fertig wurde, setzte sie sich auf eine Bank, schlug die sonnengebräunten Beine übereinander und sagte, der Texaner wolle, dass sie Amerikanerin werde. »Es ist ein verrücktes Land. Sie wählen ihre Präsidenten, und dann schmeißen sie sie weg wie Abfall. Ich habe ihm das gesagt. Er sagte, die Freiheit hat manchmal auch Nachteile. Trotzdem denke ich drüber nach. Zu den Flitterwochen will er nach Ägypten. Wo die Pyramiden sind.«
Raymond sagte, er wisse über die Pyramiden Bescheid.
»Natürlich. Du bist nicht dumm.«
Sie puttete mit einem Vierer auf dem sechsten Grün und stieß einen leisen Fluch aus, als beim zweiten Putt der Ball übers Loch hinausrollte. Als sie fertig war, steckte Raymond die Fahne zurück, und zusammen spazierten sie weiter zum siebten Abschlag. Sie war kleiner als er, und er blickte auf sie hinunter. Die Windung ihres Ohrs, modellierter Marmor. Ihr kleiner zarter Kopf. Sie wohnte allein in einem großen Haus auf Coney Island. Ihr Mann hatte es ihr nach einer gütlichen Scheidung geschenkt. Ihre Worte. Manchmal kam er abends herüber zum Sex. Ihre Worte. Das hatte sie Raymond erzählt, gleich nachdem die Scheidung durch war. Sie sagte: »Ich hätte nie gedacht, dass Sex mit meinem Exehemann so gut sein könnte.« Sie sah Raymond nicht an, als sie das sagte. Sie sah an ihm vorbei, und so schien es, als spräche sie mit jemand anderem, mit jemandem, der direkt hinter Raymond stand, mit jemandem, der wirklich existierte.
Eine Woche verging, und er hörte nichts von Alice. Er fuhr eines Nachts an ihrem Haus vorbei, aber es war dunkel. Er wartete drauf, dass sie ihn wie gewöhnlich im Clubhaus anrief, aber es kamen keine Anrufe. Eines Abends besuchte er seine Großmutter und sah mit ihr fern. Dann spielten sie Karten, und er ließ sie gewinnen. An der Wand hinter seiner Großmutter hing ein Bild von Jesus, der sich zu einem Mann herabbeugt und ihn an seinem verkrüppelten Bein berührt. Auf einer Vitrine daneben standen Schulabgangsfotos von Raymonds Brüdern und Schwestern. Auf dem Tisch, an dem sie saßen, lag eine orangefarbene Plastiktischdecke, die mit grünen Blumen in braunen Blumentöpfen bedruckt war. Die Hände seiner Großmutter lagen über einem dieser Töpfe. Ihre Hände waren dunkel und faltig, und der linke kleine Finger war krumm, weil sie sich ihn vor Jahren gebrochen hatte und er nie richtig zusammengewachsen war. Seine Großmutter stand auf, ging in die Küche und kam mit einem überbackenen Käsesandwich auf einem rosa Teller zurück und goss ihm Tee ein.
Seine Schwester Reenie und ihre vier Kinder kamen von einer Missionskampagne im städtischen Stadion zurück. Ein Prediger aus Kansas war die Woche über in Kenora, und Ree nie liebte die Musik, das Predigen, die Aufforderung an die Sünder vorzutreten, und sie trat unwillkürlich vor, weil sie sich als Sünderin sah. Sie liebte die Berührung des Predigers, wenn er ihr seine Hände auflegte. Lee, Reenies vierzehnjährige Tochter, kam zur Tür herein, setzte sich neben Raymond und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Onkel Ray«, sagte sie.
Reenie ging in die Küche und kam mit einem Erdnussbuttersandwich zurück. Sie sagte, Pastor Rudy sei der tollste Mensch. »Er ist auf einer höheren Ebene«, meinte sie. »Als er mich an der Schulter berührt hat, genau hier, war's, als fließt Strom von ihm in mich.« Sie sah ihre Tochter an und sagte, sie hätte auch vortreten sollen.
Lee schüttelte den Kopf.
»Niemand ist was Besonderes«, sagte Reenie. »Hättest auch kommen sollen, Ray. Du könntest ein Wörtchen mit Gott gebrauchen. Hier, ich habe ein Neues Testament gekriegt.«
Das Buch war klein und blau, und Reenies große Hand umschloss es völlig. Sie reichte es Lee. »Es ist jetzt deins«, sagte Reenie. Lee hielt es lose und etwas zweifelnd in der Hand.
Reenie erzählte Raymond, dass sie vor ungefähr einer Woche zu ihm raufgefahren sei, um ihn in der Hütte zu besuchen. Er war nicht da, aber Alice Hart war dort. »Sie saß im Wagen ihres Vaters und tat ganz selbstsicher, und als sie mich gesehen hat, fragte sie mich nach dir. Wo warst du? Als ob, weil sie da war, auch du da sein solltest. Ihre Augen stehen zu dicht beieinander. Findest du nicht auch?«
Raymond nahm Lee das Neue Testament aus der Hand und blätterte mit dem Daumen die Seiten durch, roch das Neue. Reichte es zurück und stellte sich Alices Augen vor. Er spürte einen Schmerz im Magen.
Reenie sagte, jedes Mädchen, das in diesem Alter einen Cadillac fahre, würde viel zu viel vom Leben erwarten. »Hat sie dir an deinen Schwanz gefasst?« Reenie lachte. Lee kicherte. Im Herbst käme Lee auf die Schule, die Raymond gerade verlassen hatte, ein monströses Gebäude, das Kinder unfertig schluckte und vier Jahre später größer und trauriger und manchmal klüger wieder ausspuckte. Lee war bereits klug. Sie hielt das Neue Testament mit einem gewissen Zweifel in der Hand. Raymond stand auf, ging hinaus und fuhr hinauf zu seiner Hütte. Die Wagenfenster waren offen, und Luft wehte herein, und der Himmel über ihm war weit, und Sternschnuppen fielen, und es roch nach Herbst.
Am nächsten Abend kam Alice im Cadillac ihres Vaters zu seiner Hütte, parkte, und ihre Scheinwerfer leuchteten durch seine Haustür. Zuerst wusste er nicht, wer es war, und er hätte möglicherweise die Scheinwerfer mit seiner .22er ausgeschossen, aber Alices Stimme schwebte durch die Dunkelheit heran, als sie seinen Namen rief. Er ging zu ihr, beugte sich durchs Seitenfenster hinein und legte ihr seine Hände wie eine lose Halskette um den mageren Hals. Es regnete an diesem Abend, ein heftiger, von Donner und Blitz begleiteter Guss, und draußen auf dem Highway 17 sahen sie, als ein Blitz von links nach rechts über den Himmel fegte, einen Elch mitten auf dem Mittelstreifen stehen. Raymond verlor kein Wort über die Geschichte mit ihrem Onkel, auch nicht, als sie aus heiterem Himmel sagte, dass ihr Onkel manchmal ein Arschloch sein könne. Die Aussage schien das Eingeständnis von etwas zu sein; Zustimmung vielleicht oder die Einsicht, dass dies hier ein geheimes und spannendes Spiel war. Als sie ihn absetzte, wies er sie darauf hin, dass Matsch an den Reifen und den Radschächten hänge, sein Matsch, und sie solle den Wagen in die Waschanlage fahren. Und das tat sie auch. Fuhr hinüber zum Wand Wash, wo sie den Wagen innen und außen sauber putzte und von allen Hinweisen auf Raymond Seymour befreite.
Im Oktober blieb sein Bruder Marcel eine Nacht bei ihm in der Hütte, als er auf der Durchreise von Vancouver nach Montreal war, wo er für eine Anwaltskanzlei zu arbeiten beabsichtigte, die auf Landrechtsklagen spezialisiert war. Marcel brachte einen Zwölferpack Bier mit, und die Brüder setzten sich in die Schaukel und tranken, während ihm Marcel noch mal erzählte, wie seine acht Monate im Gefängnis seine Wahl beeinflusst hatten, Jurist zu werden. »Lieber nach außen hin ein Arsch sein«, sagte er. »So kann man wenigstens rauskommen.« Er sagte, sie hätten einfach schlechte Karten. »Ich will nicht jammern, aber es ist doch so, Ray, du kannst dich entweder hinlegen und von dem Mann immer wieder überrollen lassen oder aber selber am Steuer sitzen. Das genau ist es, was ich tue, am Steuer sitzen.« Er verstummte und machte noch ein Bier auf. »Ich hab da in Vancouver ein Mädchen getroffen, wir haben zusammen Jura studiert. Ihr Vater ist da ein hohes Tier am Gericht. Wohnt in 'nem Riesenhaus mit Blick auf den Hafen, bloß hat ihm ein Baum des Nachbarn, eine riesige verdammte Zeder, die Aussicht versperrt, darum hat er jemand angeheuert, den Baum zu vergiften. Seine Tochter Naomi, ich war eine Weile mit ihr zusammen, hat mir das erzählt. Sie hat's erzählt, als wär's völlig in Ordnung. Unser Problem ist, wir sind zu nett. Verstehst du? Zu verdammt nett. Wenn die meisten Leute was haben wollen, gehen sie einfach hin und holen sich's. Da kann man viel von lernen.«
Marcel trug ein dunkelblaues Jackett und hatte den Kragen seines Hemds über den Jackenkragen geschlagen. Die obersten drei Hemdknöpfe waren offen, und er trug eine Goldkette mit einem schweren Anhänger. Seine Uhr, die ziemlich teuer wirkte, rutschte ihm immer über das Handgelenk und wieder zurück, wenn er den Arm hob. Er sagte, er genieße es, nach Hause zu kommen. »Du solltest mal weg, Ray. Dann wüsstest du das hier mehr zu schätzen.«
»Mir geht's gut«, sagte Raymond. »Ich muss hier nicht weg.«
»Ich sag dir mal was. Ich bin zwölf Jahre älter als du. Wenn du irgend'ne Dummheit vorhast, ruf mich an, und ich red sie dir aus.« Er zeigte auf seinen Brustkorb. »Ich bin dreißig. Da hat sich eine Menge Wissen angesammelt, das ich meinem kleinen Bruder vermitteln kann. Ich leite dich, damit du nicht vor irgend so 'm Arschloch von Richter wie Nottingham landest, der dich mit Freuden einlochen und den Schlüssel verschlucken würde. Der Kerl ist so fett, er würde Jahre brauchen, bis er ihn wieder ausscheißt. Weißt du, was er zu mir gesagt hat? Er sagte: ›Mäuse verdienen was Besseres, als Sie es kriegen, Mr. Seymour.‹ Und dann hat er den Hammer auf den Richtertisch geknallt und ist 'n Steak essen gegangen.«
Am Himmel fielen Sternschnuppen. Im Bett hörte Raymond vor dem Einschlafen, wie sich sein Bruder auf der nahen Matratze hin und her warf. »Marcel?«, sagte er.
Aus dem Dunkel: »Hmmm.«
»Ich könnte mit dir mitfahren. Nach Montreal. Ich würde mir Arbeit suchen. Mich um deine Wohnung kümmern, kochen und sauber machen. Dich in Ruhe lassen.«
»Du könntest meine Frau sein, mit anderen Worten.«
»Mit anderen Worten?«
»Genau das sagst du doch.«
»Das sage ich nicht. Ich frage bloß.«
»Ich dachte, dir gefällt es hier.«
»Tut's auch. Meistens.«
»Reenie sagt, du hättest ein Mädchen.«
»Reenie ist ein Klatschmaul.«
»Wie heißt sie?«
»Alice. Hart.«
Es entstand eine Stille, die sich dehnte und streckte und dann in sich zusammenfiel.
Ein Grunzen und dann: »Etwa verwandt mit Hart, dem Polizisten, seine Tochter?«
»Seine Nichte.«
»Sie ist die Nichte.«
»Sag ich doch.«
»Meine Güte. Für wen hältst du dich? Herrgott, Ray. Wir sind hier nicht im Himmel.«
»Sie hat mich gern.«
Ein Lachen, spöttisch und ungläubig. »Sie hat mich gern. Was du nicht sagst. Hör zu, kleiner Bruder. Hart steckt in Nottinghams Tasche, und diese Alice steckt bei ihrem Vater in der Tasche, und selbst wenn's so scheint, als wär sie aus der Tasche ihres Vaters in deine gehüpft, ist deine Tasche nicht groß genug für sie. Jedenfalls nicht, um sie drinzubehalten. Oder was auch immer du vorhast. Vielleicht möchtest du sie heiraten.«
»Vergiss es.«
Marcel lachte. Ein leises Schnauben und dann ein Brüllen, und das Geräusch kreiste durchs Zimmer. Als er sprach, war seine Stimme weicher, schmeichelnd und mütterlich. »Was würdest du denn kochen?«
»Nudeln. Mit Käse. Hamburger.« Dann redete er über Mrs. Kennedy und sagte, dass sie ihm von ihrem Exmann erzählt habe und von dem Mann, den sie bald heiraten werde und dass sie rosa Röcke bis kurz überm Knie trage und wirklich gut rieche. »Der Wind kommt aus ihrer Richtung und weht an mir vorbei, und ich rieche Seife. Sie gibt mir jedes Mal zehn Dollar.«
»Sie will dich heiraten.«
»Hab ich das gesagt?«
»Du denkst es. Du stellst dir's vor. Es ist alles Täuschung, Ray, wie mit Alice.«
»Das ist keine Täuschung.«
»Ach nein?«
Dann Stille. Die Plastikfolie in den Fenstern beulte sich knallend nach innen und dann nach außen. Marcel sagte, Muscheln und Bier wären schön. Davon könne er sich ernähren. »Weißt du, wie man Muscheln zubereitet?« Dann sagte er, sich einen blasen zu lassen wäre auch eine schöne Sache. »Gibt nichts Schöneres im Leben.« Er sagte, er hätte seit Wochen nicht mehr gevögelt.
Raymond sagte, er spreche ein bisschen Französisch. Er habe es auf der Highschool belegt.
»Parlez-vous?«, sagte Marcel und lachte.
Am Morgen rasierte sich Marcel draußen an der Pumpe. Dann wusch er sich die Haare und unter den Armen und trocknete sich mit einem T-Shirt ab. Er stand da, zog ein sauberes Hemd an und knöpfte es zu, während er in die Sonne im Osten blickte. Er trug eine dunkelbraune Hose und schwarze Budapester. Sein Kleidersack lag auf dem Rücksitz. Sein Gesicht war flach im Morgenlicht. Er knuffte Raymond gegen die Brust, stieg in seinen Wagen und fuhr davon. Die Sonne spiegelte sich im Dach des Monte Carlo, als der Wagen die Hügelspitze erklomm. Dann war er weg.
Ende Oktober ging Raymond, seinen Lohn in der Tasche, ins Kenricia, setzte sich hinten an einen Tisch und bestellte ein Bier und einen Whisky pur. Der Whisky ging stark und heiß runter, und das Bier folgte langsam. Seine Füße lagen auf dem Stuhl neben ihm. Er trug seine besten Stiefel, die, die Alice mochte, dunkles Leder mit gelben Nähten. Das angenehm warme Gefühl, dass alles gut war; die Arbeit beendet, die Greens mit Stroh abgedeckt, die Schläger verstaut, »Für die Saison geschlossen « im Clubhausfenster, während ein scharfer Wind vom See he raufkam, die Vorfreude auf Alice und ihre dünnen Arme. Leona brachte noch einen Whisky. Sie stellte ihn auf den Untersetzer, und Raymond holte kurz sein Geld hervor, zog einen Schein raus und winkte ab, als sie ihm das Wechselgeld geben wollte. »Vorsicht, junger Mann«, sagte Leona. Sie wischte den Tisch ab. Der scharfe Duft ihres Parfüms, das Flüstern einer Billardkugel. Raymond spielte hervorragend Pool. Er war begabt. Mr. Knight, sein Mathelehrer in der Lakewood High, hatte ihm gesagt, er sei begabt. Er könne machen, was er wolle. »Du kannst Arzt werden«, hatte Mr. Knight gesagt. Im Moment war er Golfwart. Immer noch achtzehn. Noch Jahre Zeit.
Alice schneite herein. Ein kurzer dunkler, zweireihig geknöpfter Mantel, das Haar glatt und lang, die Wangen rot vom Wind. Sie setzte sich und zog ihren Mantel aus. Sie hatte einen karierten Trägerrock an, eine weiße Bluse, schwarze Kniestrümpfe und halbhohe Stiefel mit dicken Absätzen. Die Träger ihres Rocks kreuzten sich auf ihrem Rücken. Sie zog die Nase kraus und zündete sich eine Zigarette an. »Was spendierst du mir?« Sie verlangte dasselbe, indem sie mit den Fingern zu Leona hinüberwedelte und auf den Tisch deutete. Dann drehte sie sich herum und zielte mit der Zigarette auf Raymonds Nase. »Ich bin heute Nacht bei Jenny, du musst also auf mich aufpassen. Okay?« Sie schlug die Beine übereinander. Die schwarzen Kniestrümpfe gingen ihr bis über die Waden. Ihre Knie waren knochig, nackt und trocken.
Sie spielten eine Runde Pool, und Raymond ließ sie gewinnen. Irgendwann stand er hinter ihr, seinen Schritt an ihrem Hintern, und zeigte ihr, in welchem Winkel sie stoßen müsse. »Verstehst du?« Sie lachte, und die Vibration ihrer Stimme setzte sich von ihrem Rücken in seinen Brustkorb fort. Ein Mann mit öligen Haaren sah von der Bar aus zu. »Hey, Chef«, rief er. Raymond antwortete nicht. Die Achterkugel fiel. Alice quiekte und umarmte ihn. Sie gingen zum Tisch zurück und tranken.
»Er macht sich Sorgen«, sagte Alice. Sie sprach von ihrem Vater. Raymond betrachtete ihre nackten Arme. Sie presste gern ihre kleinen Brüste gegen seinen Mund. Das Rosa ihrer Brustwarzen. Wo er schamhaft sein konnte, war sie stolz. Breit daliegend wie der herabgestürzte Ast einer Birke, zog sie ihre Rinde ab. Ihr Mangel an Scham machte ihn scheu.
Leona kam zu ihnen und sagte, Ed Farber sei betrunken und stoße Drohungen aus, und weil sie heute Abend allein sei, wolle sie keinen Ärger, und es wäre ihr lieb, wenn Raymond und Alice gingen. Vielleicht könnten sie sich ja einen Sechserpack mitnehmen. Okay?
Alice sagte, sie wolle noch einen Whisky, nur noch einen, und Farber könne sie am Arsch lecken.
»Das finde ich nicht, Alice, du bist minderjährig, und falls es Ärger gibt, möchte ich nicht, dass dein Vater hier reingerannt kommt, verstehst du, also rappel dich einfach hoch und hau ab, und ich kümmer mich um Farber.«
Raymond stand auf. Er langte in seine Tasche, aber Leona winkte ab. »Der Winter ist noch lang«, sagte sie.
Alice zog ihren Mantel an, nahm ihre Zigaretten und die Handtasche und klapperte auf ihren dicken Absätzen zur Tür. Raymond folgte ihr, vorbei an einem Mann und einer Frau, die Pool spielten, und, danach, an Farbers breitem Gesicht, dann durch die Tür in einen heftigen Graupelschauer. Sie suchten unter einem Vordach Schutz, wo sich bleiches gelbes Licht im nassen Gehweg spiegelte. Alice griff in ihre Handtasche, holte einen Joint raus und zündete ihn an. Sie hielt ihm den Joint hin. Raymond drehte den Rücken zum Wind und rauchte schwankend. Alice hakte sich bei ihm unter, drückte ihr kleines Gesicht an seine Brust und sagte, das Wasserflugzeug ihres Vaters liege unten am Kai, und sie könnten hingehen und es sich dort bequem machen, wenn er wolle. Zumindest wären sie vor dem
Deutsch von Benjamin Schwarz
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Autoren-Porträt von David Bergen
David Bergen, 1957 im kleinen Fischerort Port Edward, British Columbia, geboren, ist ein preisgekrönter kanadischer Bestsellerautor. Er wurde mit dem Scotiabank Giller Prize ausgezeichnet, für seinen Roman »Rückzug« erhielt er unter anderem den McNally Robinson Book of the Year Award und den Margaret Laurence Award for Fiction. Der Autor lebt heute in Winnipeg, Manitoba.
Bibliographische Angaben
- Autor: David Bergen
- 2010, 1, 316 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schwarz, Benjamin
- Übersetzer: Benjamin Schwarz
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442752671
- ISBN-13: 9783442752676
Rezension zu „Rückzug “
"David Bergens Sprache wird manchmal mit der von Cormac McCarthy verglichen: dichte, psychologische Prosa, die knapp über einem bedrohlichen Nihilismus schwebt. Sein neuer Roman 'Rückzug' bildet da keine Ausnahme."
Kommentar zu "Rückzug"
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