Russland mit und ohne Seele
Nach fast zwei Jahrzehnten in Moskau begab sich die renommierte ORF-Auslandskorrespondentin Susanne Scholl auf die Suche nach dem wahren Russland frei von Klischees. Um zu erfahren, wie die Menschen in diesem Land leben, sprach sie mit Bekannten, Freunden...
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Produktinformationen zu „Russland mit und ohne Seele “
Nach fast zwei Jahrzehnten in Moskau begab sich die renommierte ORF-Auslandskorrespondentin Susanne Scholl auf die Suche nach dem wahren Russland frei von Klischees. Um zu erfahren, wie die Menschen in diesem Land leben, sprach sie mit Bekannten, Freunden und langjährigen Wegbegleitern. Hier gewährt sie uns Einblicke ins Leben in Russland.
Klappentext zu „Russland mit und ohne Seele “
Wenn man in Moskau lebt, aber kein Moskauer ist, wird man im Westen ständig mit der Frage nach der sogenannten russischen Seele konfrontiert. Die gibt es zwar ebenso wenig, wie es eine österreichische oder französische Seele gibt. Als Klischee muss sie aber trotzdem jederzeit als Erklärung dafür herhalten, was man nicht so wirklich erklären zu können glaubt: das Wesen Russlands nämlich. Aber auch Russland selbst liebt das Klischee und antwortet der westlichen Frage nach der russischen Seele gerne mit dem berühmten Zitat des Dichters Fjodor Tjutschew, das da lautet: "Russland kann man mit dem Verstand nicht begreifen, an Russland kann man nur glauben." Nach fast zwei Jahrzehnten in Moskau kommt Susanne Scholl zu dem Schluss, dass beides falsch ist. Und macht sich in Gesprächen mit Freunden und Bekannten, bei zufälligen Begegnungen und mit langjährigen Wegbegleitern auf die Suche nach einem etwas realeren Russland-Bild. Nicht die große politische Analyse ist es, die sie interessiert, sondern die Frage, wie die Menschen in diesem Land leben, das nie das Mittelmaß findet. Alltagsgeschichten stehen neben geschönten Erinnerungen Prominenter - und am Ende stellt sich Russland dann hoffentlich doch etwas weniger bedrohlich unverständlich dar als bisher.
Lese-Probe zu „Russland mit und ohne Seele “
Russland mit und ohne Seele von Susanne SchollUnruhige Zeiten
Der Zug vom Flughafen in die Stadt ist eine Errungenschaft - wenn er fährt. An diesem verregneten Herbsttag hat er so viel Verspätung, dass ich überlege, ein Taxi zu nehmen. Auf dem Bahnsteig drängen sich die Massen, das Wasser fällt in Sturzbächen vom Himmel, und natürlich gibt es keine Erklärung dafür, warum der Zug, der vor fünf Minuten abfahren sollte, noch gar nicht da ist.
Ein Taxi zu nehmen wirkt aber auch nicht gerade einladend. Freitagnachmittag steht ganz Moskau im Stau. Egal, ob man hineinfährt oder aus der Stadt Richtung Datscha unterwegs ist, alles ist paralysiert. Wenn ich jetzt ein Taxi nehme, bin ich frühestens in drei Stunden zu Hause. Mit dem Zug brauche ich vierzig Minuten bis zum Pawelezki-Bahnhof und von diesem selbst bei schlimmstem Verkehrschaos höchstens zehn Minuten. (Da täusche ich mich. Später an diesem verregneten Freitagnachmittag werde ich eine Stunde für die Strecke brauchen, weil eben wirklich ganz Moskau buchstäblich still steht.) Aber wo bleibt der Zug?
Als ich schon alle Hoffnung aufgegeben habe und bereits beinahe am Ausgang des Bahnhofs angelangt bin, fährt der Zug ein. Also zurück in das unbeschreibliche Gedränge. Die Bitte an einen jungen Mann, ob er mir wohl helfen könnte, meinen großen, schweren Koffer über den ziemlich breiten Spalt zwischen Bahnsteig und Zug zu hieven, wird mit einem verächtlichen Lachen abgelehnt. Er habe selbst einen Koffer, sagt er und deutet auf ein winziges Boardcase neben sich. Willkommen zu Hause in Moskau.
Von der Menge geschoben, schaffe ich es trotzdem samt Koffer in den Zug, und dank langjährigen Moskau-Trainings ergattere ich sogar einen Sitzplatz, gegenüber von zwei jungen Männern. Der
eine hat meinen Koffer ins Gepäcknetz gehoben und auf meine Klage,
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dass niemand einem gesagt habe, warum der Zug sich um eine halbe Stunde verspätet hat, resigniert die Achseln gezuckt. Den Rest der Fahrt verbringt er abwechselnd mit Gesprächen an seinem Mobiltelefon - wie drei Viertel aller anderen Passagiere im Zug - und gemeinsam mit seinem Freund vor seinem Laptop. In Moskau hebt er wortlos meinen Koffer wieder herunter und ist dann sofort verschwunden.
Während der Fahrt schaue ich hinaus auf die Hochhäuser und Blechgaragen, an denen der Zug vorbeifährt. An einer langen, grün gestrichenen Mauer leuchten farbenprächtige Graffiti durch den Regen. Dazwischen in schwarzen Buchstaben die Aufschrift: „Der Kreml wird russisch!" Unterschrift: „Nazbol". Die Nationalbolschewisten also, eine Formation, die das Schlimmste an russischem Nationalismus und sowjetischem Hegemoniegehabe in sich vereint. Eine Organisation, die sich als Opposition zur derzeitigen politischen Elite versteht. Viele ihrer Mitglieder sitzen wegen provokanter Aktionen im Gefängnis. Während des Georgien-Krieges haben sie dazu aufgerufen, für Südossetien und Abchasien in die Schlacht zu ziehen. Mit einem Wort: eine Gruppe sehr verwirrter, sehr radikal russisch-nationalistisch eingestellter Menschen, die finden, der Kreml sei nicht russisch.
Als ich später eine Freundin frage, was sie damit wohl meinten, zuckt sie die Achseln und sagt: „Na, die meinen, dass dort lauter Juden sitzen." Und in Russland sind eben immer noch die Juden für alles verantwortlich, was schlecht ist. Gemeinsam mit den Tschetschenen und überhaupt allen Kaukasiern, Usbeken, Tadschiken und wie sie heißen mögen, die eben keine „echten Russen" sind. Auch damit heißt Moskau jeden willkommen, der mit dem Zug vom Flughafen in die Stadt fährt. Zum Glück können die wenigen Ausländer, die dieses Transportmittel wählen, in der Regel zu wenig Russisch, um die Aufschrift zu verstehen.
Der Bahnsteig am Bahnhof in Moskau ist aufgerissen, nur ein ganz schmales Band ist frei geblieben für die ankommenden Pas
sagiere und ihr Gepäck. Aber worüber wundere ich mich eigentlich? Während der Zugfahrt kam die übliche Hostess mit einem Einkaufswagen, wie aus dem Supermarkt, voll mit Zeitungen, Zeitschriften, Mineralwasser und Limonade vorbei und staunte über die vielen Koffer. „Na ja, wir kommen vom Flughafen", meinte ich etwas genervt, und sie antwortete mir mit freundlichem Lächeln und ebenso erstaunt: „Aber bei der Fahrt hinaus hatten auch alle so viel Gepäck ..." Ein Gepäckabteil aber gibt es in diesem Zug nicht. Würde auch keiner benützen, sagen meine Moskauer Freunde, da wäre der Koffer ja gleich weg.
Ein viele Male in ähnlichen Situationen gehörter Ausspruch eines Moskauer Freundes fällt mir ein: Das ist alles nicht für Menschen gemacht.
Der Bahnsteig also. Ich bin im vorletzten Waggon gesessen und habe die ganze Länge des aufgerissenen und nur am Rand benutzbaren Bahnsteigs vor mir. Rund um mich Menschen, die Koffer und Taschen schleppen, öfter aber hinter sich herziehen. Auf dem begehbaren Teil des Bahnsteigs steht das Wasser knöcheltief. Und so ziehen wir unsere Koffer verbissen durch die Lachen und füllen unsere Schuhe bei jedem Schritt mit Wasser. Nicht für die Menschen gemacht, denke ich und schwindle mich dann schnell zu jener Sperre, bei der eine Bahnangestellte im dicken dunkelblauen Stoffmantel Dienst tut. Das dünne Stück Papier, das man als Fahrkarte ausgehändigt bekommt, in den dafür vorhandenen Schlitz zu stecken, damit die Sperre aufgeht und man hinaus kann, ist nämlich eine eigene Wissenschaft, die nur die wenigsten beherrschen. Die Frau im dunkelblauen Mantel und dem feschen roten Hütchen kann das, weshalb es bei ihr sehr viel schneller geht als an den anderen Sperren.
Ich bin zu Hause. In einem Moskau, das eine normale Weltmetropole sein will und trotzdem immer noch Seiten hat, die an die provinzielle sowjetische Vergangenheit erinnern.
Eine Stunde später bin ich dann daheim in meiner Wohnung und schaue hinunter auf den Gartenring. Oder das, was zwischen den Tausenden Autos vom Gartenring zu sehen ist. Weiter hinten zwinkert mir ein roter Stern von einem Kremlturm entgegen, die goldene Kuppel der Christ-Erlöser-Kathedrale glänzt im Dauerregen. Stünde davor nicht der klobige weiße Kasten des Innenministeriums, vor dem sich dunkelgrüne Mannschaftsautos aneinanderreihen, ich wäre wieder einmal in einer Märchenstadt angekommen. Denn das ist Moskau an manchen Orten auch - märchenhaft.
Am nächsten Tag fällt mir in der Metro - genauer: auf der ewig langen Rolltreppe, die zur Metro hinunterführt - ein offizielles Werbeplakat auf. Vor hellblauem Hintergrund ist eine Gruppe von Matrjoschkas versammelt, jene berühmten Holzpuppen mit den Kopftüchern, den aufgemalten Grübchen um die Mundwinkel und den süß lächelnden Kirschmündchen. Matrjoschkas in verschiedenen Größen und daneben ein Bacon-Zitat: „Die Liebe zum Vaterland beginnt in der Familie."
Wenige Wochen später wird Stanislaw Markelow ermordet. Vierunddreißig Jahre jung, Vater von zwei kleinen Kindern, denen er vielleicht nicht die Liebe zum Vaterland, aber sicher die Hochachtung vor den Menschen beibringen wollte. Was er jetzt nicht mehr tun kann.
Stanislaw Markelow war Anwalt. Bis zu seinem Tod kannten ihn nur Eingeweihte, die wussten, womit er sich beschäftigte: mit dem Kampf gegen rassistische, faschistische Gruppierungen, deren es in Moskau nur allzu viele gibt. Aber auch mit dem Kampf für die Familien von Opfern russischer Willkür in Tschetschenien.
Nach seinem Tod versammeln sich in Moskau um die zweihundert Menschen vor dem Haus, in dem er seine letzte Pressekonferenz gegeben hat, bevor ihn die Kugeln des Auftragskillers trafen. In Grosny gehen zur gleichen Zeit fünfzehnhundert Menschen auf die Straße. Sie wissen, was es bedeutet, dass man Markelow getötet hat. So wie sie wussten, was es hieß, als man Anna Politkowskaja ermordete, die ihnen eine Stimme gegeben hatte. Wie Markelow die Hoffnung auf Gerechtigkeit.
Wieder einmal ist mein Moskau - das Moskau jener, die so denken, wie Anna Politkowskaja dachte, wie Stanislaw Markelow dachte - wie gelähmt. Alla Gerber, die Vorsitzende des Moskauer Holocaust-Fonds, sagt mir am Telefon, was viele hier denken: „Wer ist der Nächste?" Und wieder einmal spürt man Ohnmacht. Präsident und Regierungschef schweigen.
Besser so, sagt der Doyen der Menschenrechtsaktivisten, Sergej Kowaljow, bei einem Abendessen. „Wisst ihr nicht mehr, was Putin nach dem Mord an Politkowskaja gesagt hat? Dass sie ihm als Tote mehr schadet denn als Lebende? Da ist es schon besser, wenn sie gar nichts sagen."
Und trotzdem ist dieses Land eben so, sind seine Intellektuellen eben so: Man erwartet sich mitfühlende, einfühlsame, „große" Worte angesichts der Tragödie. Die eine doppelte ist. Denn als Markelow erschossen wurde, kam er mit der blutjungen Journalistin Anastasia Baburowa aus dem Gebäude, wo die Pressekonferenz stattgefunden hatte. Sie hatte den Killer gesehen und offenbar versucht, ihn aufzuhalten. Der Killer aber hatte keine Skrupel. Die fünfundzwanzigjährige Anastasia lebte noch, als man sie ins Spital brachte. Sie starb auf dem Operationstisch. Die vierte Journalistin der „Nowaja Gaseta", die innerhalb der vergangenen zehn Jahre gewaltsam zu Tode kam. Alexander Lebedew, Mitbesitzer der „Nowaja Gaseta", sollte wenige Tage später vor die Presse treten und erklären: „Wenn der Geheimdienst nicht in der Lage ist, unsere Journalisten zu schützen, dann werden wir ihn bitten, uns Waffen zu geben, damit wir das selbst tun können!" Eine absurde Idee: Journalisten, die mit der Waffe in der Hand zu Recherchen aufbrechen, denke ich - und beschließe, sofort Galina Mursaliewa anzurufen. Galina ist Armenierin aus Aserbaidschan, arbeitet seit zehn Jahren für die „Nowaja Gaseta" und hat dort ihr Zimmer mit Anna Politkowskaja geteilt.
Nach Annas Ermordung kamen wir in die Redaktion, um Interviews zu machen. Die Türe zu ihrem Zimmer stand offen, ihr Schreibtisch war so voller dunkelroter Rosen, dass man ihn kaum
noch sah. Und hinter dem Blumenberg auf Annas Schreibtisch saß Galina geduckt vor ihrem Laptop und versuchte zu arbeiten. So habe ich sie kennengelernt.
Galina Mursaliewa
Als ich sie kennenlernte, dachte ich, sie sei Aserbaidschanerin. Dass sie aus einer armenischen Familie in Baku stammt, hat sie mir erst viel später erzählt.
Galina ist eine schöne Kaukasierin, wie aus einem Film entsprungen. Sie hat große dunkle, etwas melancholisch blickende Augen, langes rötliches Haar und leichte, fließende Bewegungen. Nach außen hin wirkt sie ruhig, gelassen - aber sie raucht. Kette. Ist also nicht ganz so gelassen, wie sie wirkt.
Galinas Mann ist ebenfalls ein bekannter Moskauer Journalist. Und Aserbaidschaner. Erst als sie mir ihre unterschiedliche Nationalität - und damit die politische Problematik, die in ihrer Beziehung liegt - verraten hatte, begann ich langsam zu begreifen, wieso Galina in Moskau lebt und nicht in Baku im Süden, direkt am Kaspischen Meer.
Damals, als sie ein kleines armenisches Mädchen in Baku war, gab es noch die Sowjetunion. Im Hof ihres Wohnhauses versammelten sich regelmäßig Kinder siebzehn verschiedener Ethnien, um miteinander zu spielen, erzählt Galina, die inzwischen zur perfekten Moskauerin mutiert ist. Wenn sie mit ihrer Mutter die Hauptstraße von Baku entlangging, konnte man nie sagen, wer einem entgegenkam: ein Armenier, eine Aserbaidschanerin, ein Jude, ein Georgier, eine Russin? Galina jedenfalls hat nie darüber nachgedacht, welche nationalen Wurzeln ihre Spielgefährten hatten, damals, im Baku der heißen Sommernächte, der Feigenbäume am Meerufer, der Ferien in den kühlen Bergdörfern von Karabach.
Wir sitzen in der Kantine der „Nowaja Gaseta". Ein geräumiger, etwas ungemütlicher Saal mit einer Theke, an der zwei ältliche Frauen Tee und Kaffee ausschenken. Jetzt, am späten Nachmittag, haben sie kaum noch Kunden. Trotzdem bekommen wir unsere Plastikbecher - ich mit Tee, Galina mit
Kaffee - und haben den Raum dann für uns allein. Draußen liegt schmutziger Schnee auf den Dächern vor den hohen Fenstern des Speisesaales. Der Himmel ist moskauerisch winterlich trüb, durch die Fensterritzen zieht es empfindlich. Galina, die Armenierin, die Südländerin, scheint das weniger zu stören als mich, die nur eines an Moskau wirklich verabscheut: das Klima.
Während wir über ihre armenische Kindheit in Baku sprechen, erinnere ich mich an meine einzige Reise in diese Stadt. Eine Reise in einem friedlichen Moment, als sich Armenier und Aseris gerade nicht gegenseitig die Köpfe einschlugen und es an der Front deshalb relativ ruhig war. Waffenstillstand hieß das. Nicht nur der unsinnige Krieg um die armenische Enklave Karabach machte gerade Pause, auch das schlimme Erdbeben, das so viele armenische Leben gekostet hatte, war fast schon vergessen. Wir landeten irgendwann in den frühen Morgenstunden in Baku, und unser aserischer Betreuer eröffnete uns, dass wir jetzt - um zwei Uhr morgens - nicht in die Stadt hineinfahren könnten, weil Ausgangssperre herrsche. Wir waren am Abend zuvor mit stundenlanger Verspätung in Moskau gestartet und saßen nun übermüdet und ratlos am Flughafen fest. Unser Betreuer aber wusste Abhilfe. Er verfrachtete uns kurzerhand in seinen kleinen alten Schiguli und brachte uns zu seinem Haus am Meer. Er nannte es seine Datscha, tatsächlich aber war es ein geräumiges, einladendes Haus mit einem wunderbaren Garten voller Feigenbäume. Und während wir darauf warteten, dass die Ausgangssperre endete, damit wir zu unserem Ziel nahe der iranischen Grenze - wo gerade die Front zwischen Armeniern und Aseris verlief - fahren konnten, saßen wir im Garten dieser Datscha am Ufer des Kaspischen Meeres, tranken Tee und aßen frisch gepflückte Feigen. Ein Erlebnis.
Der unsägliche Krieg um Karabach hat auch Galinas Leben durcheinandergeworfen. Als er begann, gab es die Sowjetunion
noch, als er vorbei war, hatte Baku sich vollkommen verändert Nach blutigen Pogromen an den dort lebenden Armeniern warer jene, die überlebt hatten, ebenso geflüchtet wie Juden, Russen und Georgier. Und plötzlich war Baku nicht mehr Galinas multi nationales Zuhause. Plötzlich zogen aserische Bauern aus den vor der armenischen Armee besetzten Gebieten rund um Karabach in die Hauptstadt am Meer, dorthin, wo die Ölbohrtürme aus dem Wasser ragten und es für die Flüchtlinge kaum Arbeit gab. Da war Galina aber schon gegangen.
Geboren wurde sie mitten ins Chruschtschowsche Tau wetter hinein. Stalin war tot, und viele dachten, dass es nur besser werden würde. Als sie die Schule beendet hatte, war allerdings auch dieses Tauwetter schon wieder Geschichte und Leonid Breschnjew und sein Politbüro der alten Männer noch an der Macht. Galina siegte damals bei einem Wettbewerb, der es ihr erlauben sollte, an der Moskauer Literaturfakultät zu studieren.
Genau zwei Wochen durfte sie die große sowjetische Hauptstadt damals erleben, erzählt sie ohne Ressentiment. Dann wurde ihre Mutter schwer krank. Als klar wurde, dass sie sich einer Operation werde unterziehen müssen, beschloss die Tochter schweren Herzens, Moskau den Rücken zu kehren. Die Eltern waren ohnehin wenig begeistert gewesen, dass Galina allein in der großen Hauptstadt lebte; gerade die Mutter hatte sich sehr gesorgt um die ferne Tochter. Galina ging also zurück nach Baku, an die dortige Philologische Fakultät, und begann gleichzeitig bei der „Molodjoschka", der Zeitung des Zentralkomitees des Komsomol, also des kommunistischen Jugendverbandes, zu arbeiten.
Und dann kam Gorbatschow. Die Leute in ihrem Baku, sagt Galina, hatten schon lange genug von der allgegenwärtigen Lüge. Und nun eröffneten sich neue Perspektiven. In Galinas Schubladen häuften sich damals die nicht gedruckten Artikel. Von Anfang an nämlich hatte sie sich der Schwachen, der Erniedrigten.
der Waisen und der Kranken angenommen, zeigte Missstände auf. Die Leute hatten Vertrauen zu ihr, erzählten ihr von ihren Sorgen, und sie engagierte sich, schrieb über Bürokratie und den menschenverachtenden Umgang der Mächtigen mit den Bürgern ihres Landes. Wenn sie aber dann ihre Artikel dem Chefredakteur vorlegte, geschah es oft, dass jemand anrief - und Galinas Arbeit verschwand in der Schreibtischschublade.
Nein, mit Politik habe sie sich nicht beschäftigt, beschäftige sie sich bis heute nicht, sagt Galina. Wenn aber einer sich mit einem Problem an sie persönlich wendet, dann will sie helfen, dann lässt sie nicht locker.
Als vier Männer 2008 wegen möglicher Beteiligung am Mord an Anna Politkowskaja vor Gericht standen, musste Galina als Zeugin aussagen und war danach fast jeden Tag im Gerichtssaal, als Reporterin und Anna Politkowskajas langjährige Kollegin. Aber auch, weil Sohn und Tochter der Ermordeten tagein, tagaus in diesem Gerichtssaal saßen und verbissen verfolgten, was gesagt wurde, obwohl von Anfang an klar war, dass hier weder der tatsächliche Mörder noch die Auftraggeber der niederträchtigen Tat vor Gericht standen.
Auf diese Weise hat Galina auch im sowjetischen Baku ihrer Jugend, in den unruhigen achtziger und neunziger Jahren des furchtbaren 20. Jahrhunderts, gearbeitet. Hat sich dabei wenig Freunde unter den lokalen Mächtigen gemacht und trotzdem nicht aufgegeben. Das erklärt, warum sie heute ausgerechnet bei der „Nowaja Gaseta" arbeitet, der einzigen Zeitung, die keine Kompromisse kennt. So wie Galina keine Kompromisse kennt, wenn es um die Ärmsten der Armen geht.
Gorbatschow also. Die Zeiten waren aufregend. Man schrieb gegen das Regime an und hoffte auf die Hilfe jenes Mannes, der dieses System gleichzeitig auch repräsentierte. Man spürte eine kleine frische Brise und tat alles, um sie in einen wilden, alles hinwegfegenden Orkan zu verwandeln. Mit den Mitteln, die man hatte. Mit dem Schreiben.
Galinas Ehemann wurde damals zum Korrespondenten der „Komsomolskaja Prawda" in Aserbaidschan ernannt. Und seine Frau schrieb gegen das System, auch gegen den Komsomol.
Kennengelernt hatten sie sich in einer Arbeitspause. Ihrer beider Zeitungen waren im selben Gebäude untergebracht, in dem es nur eine Kantine gab. Dort trank Galina Kaffee mit einer Freundin, als diese plötzlich auf einen jungen Mann zeigte, der gerade den Raum betrat, und ihr zuflüsterte: „Schau nur, was der für Sportschuhe trägt!" Sehr moderne Sportschuhe waren das, westliche, und die fielen auf in der mangelgeplagten Sowjetunion, wo solche Schuhe bedeuteten, dass man irgendwelche besonderen Möglichkeiten haben musste. In Wirklichkeit aber hatte Galinas späterer Ehemann gerade sein Studium im damaligen Leningrad beendet. Und auch wenn dieses Leningrad sehr viel provinzieller war als die Hauptstadt Moskau, war es doch dort einfacher, bestimmte Konsumgüter aufzutreiben, als im kleinen Aserbaidschan am Kaspischen Meer noch viel weiter hinten in den unendlichen Provinzweiten dieser Sowjetunion.
Wirklich gut angezogen sei er, entschieden Galina und die Freundin. Und sie fanden auch, dass der junge Mann zu Galinas Schwester passen würde. Die aber sollte der aufstrebende junge Journalist erst sehr viel später kennenlernen und keineswegs als potenzieller Partner. Bevor die Mädchen nämlich die von ihnen ausgedachte Begegnung organisieren konnten, hatte er schon seine spätere Frau Galina auf sehr spezielle Art und Weise erobert. Er könne ihr das hebräische Alphabet beibringen, brüstete er sich, und Galina war gebührend beeindruckt.
„Warum ausgerechnet das hebräische Alphabet?", frage ich. Galina sucht eine Erklärung. Er habe viele jüdische Freunde gehabt dort in Leningrad während des Studiums, sagt sie. Eine sehr sowjetische Situation, in der der aserische Muslim vor allem mit russischen jüdischen Studenten verkehrte.
Eine Episode aus jener Zeit, als zwischen ihnen schon alles klar war: Galinas Damals-schon-Ehemann wurde von einem Komsomol-Funktionär zum Gespräch gebeten. Seine Einstellung unterschied sich wohl nicht von jener seiner Frau, aber als Korrespondent der „Komsomolskaja Prawda" habe er eben mit diesen Leuten verkehren müssen, lächelt Galina. Als man sich gegenübersaß, sagte der Funktionär, Galinas Mann möge ein bisschen warten. Er wolle erst in der „Molodjoschka" nachsehen, was Galina wieder einmal gegen ihn und die Partei geschrieben habe, danach könne man sich in Ruhe unterhalten. So waren die Zeiten damals, sagt Galina. Es klingt nicht traurig. Damals war man jung und kämpferisch. Und überzeugt, dass das System besiegt werden könnte.
Heute, meint Galina, stehe sie nicht mehr in der ersten Reihe der Kämpfer für eine bessere Welt und habe großes Mitgefühl für jene Kollegen, die sich noch immer „mitten im Feuer" befänden. Heute beschäftige sie sich mit der Frage, was in der Gesellschaft vor sich gehe, mit sozialen Themen, mit Psychologie. Ruhiger sei sie geworden, viel ruhiger. Heute, wo sie schon lange nicht mehr in ihrem Baku lebt.
Und dann sind wir an diesem heiklen Punkt angelangt. Wie war das damals, als zuerst der Krieg um Karabach ausbrach und dann die Pogrome in Baku begannen? Wie war das für sie, die gefährdete Armenierin, die mit einem Aseri verheiratet ist? Zum Glück habe sie das nicht mehr direkt erlebt, sagt Galina. Ihr Mann habe das Angebot bekommen, in Moskau zu arbeiten. Der Krieg bedrohte ihre Familie, sie als Armenierin, ihn als Aseri. Und erstaunlicherweise gab es Leute in der Redaktion der „Komsomolskaja Prawda" in Moskau, die das begriffen und die Übersiedlung nach Moskau forcierten. Was nicht nur den Familienzusammenhalt, sondern Galina und ihren Eltern vermutlich auch das Leben rettete.
Die Flucht ins relativ sichere Moskau gestaltete sich nicht einfach. Für Galinas Mann fand die Zeitung ein Zimmer in der Wohnung eines Kollegen, Galina, ihre Eltern und die beiden Kleinkinder aber kamen auf dem Land unter. Der Sohn war gerade zwei
Monate alt geworden, die Tochter drei Jahre. In Baku war sie vor der Flucht stellvertretende Chefredakteurin der größten lokalen Tageszeitung gewesen. In dem Holzhaus in der Kleinstadt jarzewo, vier Stunden Fahrt von Moskau entfernt, musste sie nun das Wasser vom Brunnen holen, und die Nachbarinnen schimpften, weil sie es nicht schaffte, das Kartoffelfeld zu bestellen, wie sich das gehörte. Damals waren Lebensmittel überall in der Sowjetunion knapp, nicht nur im kriegsgeschüttelten Aserbaidschan. In Moskau sprach der Präsident in der Öffentlichkeit davon, auch er bearbeite ein Kartoffelfeld. Die Nachbarinnen in der Kleinstadt konnten die junge Frau mit den zwei kleinen Kindern und den alten Eltern, die nicht wusste, wie man Kartoffeln setzte, wohl nicht verstehen. Und Galinas Mann war weit weg in Moskau. Seither weiß sie, wie man sich fühlt als Flüchtling.
Warum sie mit Kindern und Eltern ausgerechnet in Jarzewo strandete, ist gar nicht so schwer zu verstehen, sagt Galina. Viele aus Baku fanden sich dort wieder, weil es eine Autozulieferfabrik für den sowjetischen Prestigeautofabrikanten SIL und daher auch Arbeit gab. Galinas Schwester und deren Mann hatte es ebenfalls hierher verschlagen. Galinas Eltern kauften mit ihren Ersparnissen die Hälfte eines alten Holzhauses, und dort lebten sie nun: Galina, die Kinder und die alten Eltern.
Die Eltern waren Intellektuelle, nicht nur von Berufs wegen, sondern von ihrer gesamten Lebenseinstellung her. Der Vater arbeitete zwar bei einer großen Organisation, bei der man viel Geld machen konnte, begnügte sich aber mit dem bloßen Gehalt. Die Mutter war Chefärztin im Gesundheitsamt. Auch sie hätte Geld scheffeln können, aber auch sie begnügte sich mit ihrem Gehalt. Zu Hause in Baku gab es viele Bücher, aber keine wertvollen Kristallvasen. Intellektuelle eben. Auf die Flucht nahmen sie Bücher mit - und dann lebten sie im Holzhäuschen. Zu mehr reichte das Geld nicht.
Eine Reise in eine fremde Welt war das für Galina, die zwar Moskau gut kannte, weil sie als Journalistin immer wieder in
die Hauptstadt gefahren war, Russland aber nicht. Und Moskau ist nicht Russland, sagt Galina. Das finde auch ich, die das jedes Mal aufs Neue entdeckt. Immer wenn mich mein Beruf in die russischen Weiten führt, immer wenn ich danach nach Moskau zurückkomme, weiß ich, wie recht Galina mit dieser Feststellung hat.
Und es war so kalt im kleinen Jarzewo weit weg von Moskau.
Als wir damals an die Frontlinie fuhren, lag in Moskau schon Schnee, in Aserbaidschan aber war noch Sommer. Die Dörfer waren verlassen, in den wunderbaren Gärten blühten die Blumen, und die Weintrauben hingen prall in den Pergolen. Mittendrin saßen aserbaidschanische Offiziere und Soldaten und aßen tiefrote Wassermelonen. Die Häuser waren sicher nicht bequemer als jenes Holzhaus, in dem Galina ihre erste Zeit im Exil verbrachte, aber der warme Wind und die Sonne ließen sie einladend erscheinen - nur die Waffen, die achtlos hingeworfen im Gras lagen, nahmen der Idylle etwas von ihrer Schönheit.
Das Holzhaus in Jarzewo hatte nichts Idyllisches an sich. Galina kämpfte dort ums Überleben. Um das ihrer Kinder, ihrer Eltern, um ihr eigenes. Auch um ihr geistiges Überleben. Die Eltern, so sagt sie, litten am schwersten unter der Flucht. Der Vater sei ein alteingesessener Bewohner Bakus gewesen, der noch die alten, vorrevolutionären Straßennamen benutzt habe. Die Verwandten der Mutter wiederum hatten in Karabach gelebt. Als Galina sie mit sanfter Gewalt zwang, mit ihr wegzugehen aus der Heimat im Süden, zeigte die Mutter keine Gefühlsregung, wurde aber wieder krank. So lebten sie in dem Holzhaus, bis es mit Hilfe der „Komsomolskaja Prawda" gelang, eine Wohnung in Moskau zu finden. Die „Komsomolskaja Prawda" von damals, meint Galina nebenbei, war eine Zeitung, die die Leute verschlangen, von Anfang bis Ende; nicht vergleichbar mit dem heutigen Boulevardblatt gleichen Namens. Noch war Gorbatschow an der Macht, noch genoss man die Aufbruchstimmung nach Jahrzehnten der Breschnjewschen Stagnation.
Obwohl Galina meint, dass es zu Sowjetzeiten weniger Hass zwischen Menschen verschiedener Nationalitäten gegeben habe erzählt sie doch, dass man ihr als Kaukasierin in Russland mit Misstrauen begegnete. Im provinziellen Jarzewo war der Rassismus etwas milder, sagt sie auch. „Na, die überfluten uns jetzt" hätten die Menschen dort gesagt, beinahe gutmütig klang das. Das sei nicht weiter schlimm gewesen. Doch die Zeiten waren hart. Es gab kaum etwas zu kaufen, vor den Lebensmittelgeschäften standen lange Schlangen. Und in diesen Schlangen nährte sich der Hass. Der Hass auf die Fremden - und manchmal auch auf die Eigenen. Die Kriegsveteranen zum Beispiel, die das Recht hatten. an der Schlange vorbeizugehen und als Erste bedient zu werden.
Die Schlangen. Ich erinnere mich an meine Studentenzeit im Leningrad der Breschnjew-Zeit. Nach wenigen Tagen hatten mir meine neuen russischen Freunde beigebracht, wie man sich zu verhalten hatte, wenn man eine Schlange vor einem Geschäft sah. Zwei Fragen und eine Feststellung waren laut auszusprechen: „Wer ist der Letzte? Ich komme nach Ihnen! Was gibt es hier?" Und ich erinnere mich auch an eine sehr viel weniger weit zurückliegende Erfahrung in einer Schlange. Moskau 1991. In den Geschäften ist das Schwarzbrot nicht nur knapp, sondern an diesem Tag gerade wieder einmal empfindlich teurer geworden. Trotzdem nehme ich die vorhandenen drei Laibe, für mich und meine Kinder und für meine Arbeitskollegen. Wie man das eben so macht in einem Land, wo immer noch Mangel herrscht. Ich hamstere sozusagen. In der Schlange an der Kasse höre ich die Frauen hinter mir murren: Ja, die Ausländer, die könnten sich das gute Brot leisten ... Ich schäme mich - und kaufe die drei Laibe trotzdem. Meine Kinder und die Arbeitskollegen müssen schließlich auch essen.
Galina aber war nicht einfach Ausländerin. Sie kam aus dem Kaukasus, war dunkelhaarig und deutlich als Nichtrussin erkennbar. Und so bekam sie sehr schnell zu spüren, was das auch damals schon in Russland hieß. Vor allem aber hatte sie zunächst Schwierigkeiten, sich an das russische Leben zu gewöhnen.
Eine Begebenheit. Galina kam vom Einkaufen und tratschte mit einer Frau, die sie dabei kennengelernt hatte. Und diese Frau fluchte ununterbrochen. Galina war irritiert: In Baku, sagt sie, gab es das nicht, eine Frau, die auf der Straße laut Mutterflüche, eine besonders ordinäre Art der Verwünschung, ausstieß. Wenn in Baku jemand vor einer Frau Mutterflüche benutzte, konnte er aus dem Autobus geworfen werden. Warum tut sie das, fragte sich Galina. Will sie mich kränken? Es brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass die Frau nichts gegen sie hatte, dass sie einfach gewohnt war zu fluchen. Viele seien auch sehr hilfsbereit gewesen im kleinen Jarzewo, hätten Kleider und Haushaltsgeräte gebracht. Aber verstanden hätten sie sie nicht.
Als sie endlich zu ihrem Mann nach Moskau ziehen konnte, wollte Galina die Eltern nicht so allein in dem unbequemen Holzhaus ohne Fließwasser und Telefon zurücklassen. Also kämpfte sie um eine Telefon- und eine Wasserleitung. Die Leute verstanden das nicht, erzählt sie. Man sah sie verständnislos an und sagte: „Wir leben hier schon Jahrzehnte ohne Wasserleitung. Es sind doch nur ein paar Schritte von Ihrem Haus bis zum Brunnen. Wozu die Erde aufgraben, wozu all diese Mühen, wozu braucht Ihr eine Wasserleitung?" Als dann die Arbeiter kamen, um die Leitung zu legen, schimpften die Nachbarn, dieselben, die vorher Kleider und Haushaltsgegenstände gebracht hatten. Sie glaube wohl, sie sei etwas Besseres, diese Fremde da aus dem Süden ... So jedenfalls hat Galina das damals erlebt und sich ihren Reim darauf gemacht, wie man als Fremder in Russland zu leben hat. Dass sie ihre alten Eltern nicht in einem Haus ohne Fließwasser zurücklassen wollte, interessierte nicht; man sah nur, dass sie sich etwas erkämpfte, was alle anderen nicht hatten.
Diese „russische Seele", über die so viel geredet werde; nach dem ersten Glas Wodka könne es durchaus sein, dass sie zum Vorschein komme, sagt Galina und beweist damit, wie erstaunlich leicht Vorurteile auch von jenen aufgenommen werden, die es besser wissen sollten. Diese Seele sei aber meist ganz tief irgendwo
versteckt. Die Menschen in Russland lebten in ständiger Anspannung, mit stets vorgehaltenem Schild und geschlossenem Visier. Man könne ja nie wissen, was einem drohe, von einem, den man nicht kenne.
Sie selbst meint, sich nicht an direkte rassistische Angriffe erinnern zu können. Aber nach einigem Nachdenken fällt ihr dann ein, was ihr Sohn erlebt hat. Beim Schulausflug wurde eine russisch-orthodoxe Kirche besucht. Er war der einzige „Dunkle" in einer durch und durch russischen Klasse. Als sie die Kirche betraten, kamen plötzlich ein paar ältere Frauen auf ihn zu und zischten ihn an: „Was machst du hier? Das ist eine russische Kirche, eine christliche. Es ist eine Sünde, dass du da bist, raus hier!" Galinas Sohn war damals vielleicht sieben Jahre alt und fürchtete sich vor den aggressiven alten Frauen. „Und die Lehrerin?", frage ich. Die Lehrerin habe ihren Sohn angesehen und gesagt: „Ja, Timur, es ist wirklich besser, wenn du hinausgehst."
Am Abend fragte der Kleine Galina: „Bin ich schlechter als die anderen?"
Galina ist nicht die Frau, die eine solche Angelegenheit unwidersprochen hinnimmt. Natürlich ging sie sofort zur Lehrerin und stellte sie zur Rede. Es sei nun einmal eine christliche Kirche gewesen, verteidigte sich diese. Galina hielt ihr einen Vortrag über Toleranz und Kindererziehung, und weil sie damals bereits bei der „Nowaja Gaseta" arbeitete, schrieb sie auch einen Artikel. Was die Lehrerin in wohlverdiente Schwierigkeiten brachte, dem Sohn aber sein kleines Trauma wohl nicht nehmen konnte.
Die „Nowaja Gaseta" also. Galina sagt, wenn sie das Haus betrete, in dem die Redaktion untergebracht ist, betrete sie einen anderen Planeten. Die Kollegen, die technischen Mitarbeiter, die Besucher, alle hätten andere Gesichter, wenn sie hierher kämen. Gefunden hat sie diesen ihren anderen Planeten aber nicht sofort.
Als sie endlich mit den Kindern nach Moskau ziehen konnte, bekam sie gleich Arbeit. Sie war schließlich keine Unbekannte im sowjetischen Journalismus. Die Zeitschrift „Ogonjok", zu Deutsch „Feuerchen", rollte ihr den roten Teppich aus, und sie war dort so lange zufrieden, solange der Eigentümer nicht wechselte. Der neue Eigentümer aber berief eine Vollversammlung ein und setzte die Mitarbeiter umgehend davon in Kenntnis, dass er aus der politischen Zeitschrift „Ogonjok" ein leichtes Boulevardblättchen machen werde. Da packte Galina ihre Sachen und ging. Es war das Jahr 1999. Die „Nowaja Gaseta" existierte schon einige Jahre. Galinas Frage, ob sie wohl hier arbeiten könnte, wurde mit Begeisterung bejaht. Wenige Tage später tauchte auch Anna Politkowskaja auf. Und so landeten die beiden in dem Zimmer, das sie bis zu Annas Ermordung teilten. Ganz einfach, sagt Galina.
Es war das Jahr, in dem in Moskau zwei Wohnhäuser in die Luft flogen. Es war das Jahr, in dem Putins unaufhaltsamer Aufstieg an die Macht, in dem der zweite Tschetschenien-Krieg begann. Anna reiste ins Kriegsgebiet, Galina aber schrieb gegen die immer deutlicher zutage tretenden rassistischen, xenophoben, antikaukasischen Ressentiments in Moskau an. Timur, Galinas Sohn, hatte aus seinen Erlebnissen als Kaukasier in Moskau derweil eine interessante Konsequenz gezogen: Er wurde Psychologe. Galina glaubt, dass er auf diese Art viele davon überzeugen kann, wie unsinnig ihr Fremdenhass ist. Sie ist nämlich eine unverbesserliche Optimistin.
Obwohl es da auch ein Erlebnis gibt.
Galina und ihr Mann haben inzwischen ein Häuschen in einer Siedlung am Stadtrand von Moskau gekauft. Mit den Parkplätzen ist es nicht ganz einfach hier, die öffentlichen Verbindungen ins Zentrum sind schlecht, also hat jeder dort ein Auto. Eines Tages vergaß Galina das ihre vor der Einfahrt des Nachbarhauses, wo sie es eigentlich nur für ein paar Minuten hatte abstellen wollen. Doch dann hatte das Telefon geläutet, die Kinder dringend etwas von der Mutter benötigt - kurz, sie hatte ihr Auto nicht weggefahren. Schließlich läutete es an der Haustüre. Draußen stand eine offensichtlich wohlhabende dickliche Dame,
die zunächst noch recht höflich fragte, ob das Galinas Auto sei das da vor ihrer Einfahrt parke. Galina bejahte. „Saujüdin du" fuhr die dickliche Dame Galina daraufhin an. Die aber hatte eine rasche Antwort parat: „Ich bin etwas noch viel Schlimmeres Kaukasierin!"
© 2009 Ecowin Verlag, Salzburg
Während der Fahrt schaue ich hinaus auf die Hochhäuser und Blechgaragen, an denen der Zug vorbeifährt. An einer langen, grün gestrichenen Mauer leuchten farbenprächtige Graffiti durch den Regen. Dazwischen in schwarzen Buchstaben die Aufschrift: „Der Kreml wird russisch!" Unterschrift: „Nazbol". Die Nationalbolschewisten also, eine Formation, die das Schlimmste an russischem Nationalismus und sowjetischem Hegemoniegehabe in sich vereint. Eine Organisation, die sich als Opposition zur derzeitigen politischen Elite versteht. Viele ihrer Mitglieder sitzen wegen provokanter Aktionen im Gefängnis. Während des Georgien-Krieges haben sie dazu aufgerufen, für Südossetien und Abchasien in die Schlacht zu ziehen. Mit einem Wort: eine Gruppe sehr verwirrter, sehr radikal russisch-nationalistisch eingestellter Menschen, die finden, der Kreml sei nicht russisch.
Als ich später eine Freundin frage, was sie damit wohl meinten, zuckt sie die Achseln und sagt: „Na, die meinen, dass dort lauter Juden sitzen." Und in Russland sind eben immer noch die Juden für alles verantwortlich, was schlecht ist. Gemeinsam mit den Tschetschenen und überhaupt allen Kaukasiern, Usbeken, Tadschiken und wie sie heißen mögen, die eben keine „echten Russen" sind. Auch damit heißt Moskau jeden willkommen, der mit dem Zug vom Flughafen in die Stadt fährt. Zum Glück können die wenigen Ausländer, die dieses Transportmittel wählen, in der Regel zu wenig Russisch, um die Aufschrift zu verstehen.
Der Bahnsteig am Bahnhof in Moskau ist aufgerissen, nur ein ganz schmales Band ist frei geblieben für die ankommenden Pas
sagiere und ihr Gepäck. Aber worüber wundere ich mich eigentlich? Während der Zugfahrt kam die übliche Hostess mit einem Einkaufswagen, wie aus dem Supermarkt, voll mit Zeitungen, Zeitschriften, Mineralwasser und Limonade vorbei und staunte über die vielen Koffer. „Na ja, wir kommen vom Flughafen", meinte ich etwas genervt, und sie antwortete mir mit freundlichem Lächeln und ebenso erstaunt: „Aber bei der Fahrt hinaus hatten auch alle so viel Gepäck ..." Ein Gepäckabteil aber gibt es in diesem Zug nicht. Würde auch keiner benützen, sagen meine Moskauer Freunde, da wäre der Koffer ja gleich weg.
Ein viele Male in ähnlichen Situationen gehörter Ausspruch eines Moskauer Freundes fällt mir ein: Das ist alles nicht für Menschen gemacht.
Der Bahnsteig also. Ich bin im vorletzten Waggon gesessen und habe die ganze Länge des aufgerissenen und nur am Rand benutzbaren Bahnsteigs vor mir. Rund um mich Menschen, die Koffer und Taschen schleppen, öfter aber hinter sich herziehen. Auf dem begehbaren Teil des Bahnsteigs steht das Wasser knöcheltief. Und so ziehen wir unsere Koffer verbissen durch die Lachen und füllen unsere Schuhe bei jedem Schritt mit Wasser. Nicht für die Menschen gemacht, denke ich und schwindle mich dann schnell zu jener Sperre, bei der eine Bahnangestellte im dicken dunkelblauen Stoffmantel Dienst tut. Das dünne Stück Papier, das man als Fahrkarte ausgehändigt bekommt, in den dafür vorhandenen Schlitz zu stecken, damit die Sperre aufgeht und man hinaus kann, ist nämlich eine eigene Wissenschaft, die nur die wenigsten beherrschen. Die Frau im dunkelblauen Mantel und dem feschen roten Hütchen kann das, weshalb es bei ihr sehr viel schneller geht als an den anderen Sperren.
Ich bin zu Hause. In einem Moskau, das eine normale Weltmetropole sein will und trotzdem immer noch Seiten hat, die an die provinzielle sowjetische Vergangenheit erinnern.
Eine Stunde später bin ich dann daheim in meiner Wohnung und schaue hinunter auf den Gartenring. Oder das, was zwischen den Tausenden Autos vom Gartenring zu sehen ist. Weiter hinten zwinkert mir ein roter Stern von einem Kremlturm entgegen, die goldene Kuppel der Christ-Erlöser-Kathedrale glänzt im Dauerregen. Stünde davor nicht der klobige weiße Kasten des Innenministeriums, vor dem sich dunkelgrüne Mannschaftsautos aneinanderreihen, ich wäre wieder einmal in einer Märchenstadt angekommen. Denn das ist Moskau an manchen Orten auch - märchenhaft.
Am nächsten Tag fällt mir in der Metro - genauer: auf der ewig langen Rolltreppe, die zur Metro hinunterführt - ein offizielles Werbeplakat auf. Vor hellblauem Hintergrund ist eine Gruppe von Matrjoschkas versammelt, jene berühmten Holzpuppen mit den Kopftüchern, den aufgemalten Grübchen um die Mundwinkel und den süß lächelnden Kirschmündchen. Matrjoschkas in verschiedenen Größen und daneben ein Bacon-Zitat: „Die Liebe zum Vaterland beginnt in der Familie."
Wenige Wochen später wird Stanislaw Markelow ermordet. Vierunddreißig Jahre jung, Vater von zwei kleinen Kindern, denen er vielleicht nicht die Liebe zum Vaterland, aber sicher die Hochachtung vor den Menschen beibringen wollte. Was er jetzt nicht mehr tun kann.
Stanislaw Markelow war Anwalt. Bis zu seinem Tod kannten ihn nur Eingeweihte, die wussten, womit er sich beschäftigte: mit dem Kampf gegen rassistische, faschistische Gruppierungen, deren es in Moskau nur allzu viele gibt. Aber auch mit dem Kampf für die Familien von Opfern russischer Willkür in Tschetschenien.
Nach seinem Tod versammeln sich in Moskau um die zweihundert Menschen vor dem Haus, in dem er seine letzte Pressekonferenz gegeben hat, bevor ihn die Kugeln des Auftragskillers trafen. In Grosny gehen zur gleichen Zeit fünfzehnhundert Menschen auf die Straße. Sie wissen, was es bedeutet, dass man Markelow getötet hat. So wie sie wussten, was es hieß, als man Anna Politkowskaja ermordete, die ihnen eine Stimme gegeben hatte. Wie Markelow die Hoffnung auf Gerechtigkeit.
Wieder einmal ist mein Moskau - das Moskau jener, die so denken, wie Anna Politkowskaja dachte, wie Stanislaw Markelow dachte - wie gelähmt. Alla Gerber, die Vorsitzende des Moskauer Holocaust-Fonds, sagt mir am Telefon, was viele hier denken: „Wer ist der Nächste?" Und wieder einmal spürt man Ohnmacht. Präsident und Regierungschef schweigen.
Besser so, sagt der Doyen der Menschenrechtsaktivisten, Sergej Kowaljow, bei einem Abendessen. „Wisst ihr nicht mehr, was Putin nach dem Mord an Politkowskaja gesagt hat? Dass sie ihm als Tote mehr schadet denn als Lebende? Da ist es schon besser, wenn sie gar nichts sagen."
Und trotzdem ist dieses Land eben so, sind seine Intellektuellen eben so: Man erwartet sich mitfühlende, einfühlsame, „große" Worte angesichts der Tragödie. Die eine doppelte ist. Denn als Markelow erschossen wurde, kam er mit der blutjungen Journalistin Anastasia Baburowa aus dem Gebäude, wo die Pressekonferenz stattgefunden hatte. Sie hatte den Killer gesehen und offenbar versucht, ihn aufzuhalten. Der Killer aber hatte keine Skrupel. Die fünfundzwanzigjährige Anastasia lebte noch, als man sie ins Spital brachte. Sie starb auf dem Operationstisch. Die vierte Journalistin der „Nowaja Gaseta", die innerhalb der vergangenen zehn Jahre gewaltsam zu Tode kam. Alexander Lebedew, Mitbesitzer der „Nowaja Gaseta", sollte wenige Tage später vor die Presse treten und erklären: „Wenn der Geheimdienst nicht in der Lage ist, unsere Journalisten zu schützen, dann werden wir ihn bitten, uns Waffen zu geben, damit wir das selbst tun können!" Eine absurde Idee: Journalisten, die mit der Waffe in der Hand zu Recherchen aufbrechen, denke ich - und beschließe, sofort Galina Mursaliewa anzurufen. Galina ist Armenierin aus Aserbaidschan, arbeitet seit zehn Jahren für die „Nowaja Gaseta" und hat dort ihr Zimmer mit Anna Politkowskaja geteilt.
Nach Annas Ermordung kamen wir in die Redaktion, um Interviews zu machen. Die Türe zu ihrem Zimmer stand offen, ihr Schreibtisch war so voller dunkelroter Rosen, dass man ihn kaum
noch sah. Und hinter dem Blumenberg auf Annas Schreibtisch saß Galina geduckt vor ihrem Laptop und versuchte zu arbeiten. So habe ich sie kennengelernt.
Galina Mursaliewa
Als ich sie kennenlernte, dachte ich, sie sei Aserbaidschanerin. Dass sie aus einer armenischen Familie in Baku stammt, hat sie mir erst viel später erzählt.
Galina ist eine schöne Kaukasierin, wie aus einem Film entsprungen. Sie hat große dunkle, etwas melancholisch blickende Augen, langes rötliches Haar und leichte, fließende Bewegungen. Nach außen hin wirkt sie ruhig, gelassen - aber sie raucht. Kette. Ist also nicht ganz so gelassen, wie sie wirkt.
Galinas Mann ist ebenfalls ein bekannter Moskauer Journalist. Und Aserbaidschaner. Erst als sie mir ihre unterschiedliche Nationalität - und damit die politische Problematik, die in ihrer Beziehung liegt - verraten hatte, begann ich langsam zu begreifen, wieso Galina in Moskau lebt und nicht in Baku im Süden, direkt am Kaspischen Meer.
Damals, als sie ein kleines armenisches Mädchen in Baku war, gab es noch die Sowjetunion. Im Hof ihres Wohnhauses versammelten sich regelmäßig Kinder siebzehn verschiedener Ethnien, um miteinander zu spielen, erzählt Galina, die inzwischen zur perfekten Moskauerin mutiert ist. Wenn sie mit ihrer Mutter die Hauptstraße von Baku entlangging, konnte man nie sagen, wer einem entgegenkam: ein Armenier, eine Aserbaidschanerin, ein Jude, ein Georgier, eine Russin? Galina jedenfalls hat nie darüber nachgedacht, welche nationalen Wurzeln ihre Spielgefährten hatten, damals, im Baku der heißen Sommernächte, der Feigenbäume am Meerufer, der Ferien in den kühlen Bergdörfern von Karabach.
Wir sitzen in der Kantine der „Nowaja Gaseta". Ein geräumiger, etwas ungemütlicher Saal mit einer Theke, an der zwei ältliche Frauen Tee und Kaffee ausschenken. Jetzt, am späten Nachmittag, haben sie kaum noch Kunden. Trotzdem bekommen wir unsere Plastikbecher - ich mit Tee, Galina mit
Kaffee - und haben den Raum dann für uns allein. Draußen liegt schmutziger Schnee auf den Dächern vor den hohen Fenstern des Speisesaales. Der Himmel ist moskauerisch winterlich trüb, durch die Fensterritzen zieht es empfindlich. Galina, die Armenierin, die Südländerin, scheint das weniger zu stören als mich, die nur eines an Moskau wirklich verabscheut: das Klima.
Während wir über ihre armenische Kindheit in Baku sprechen, erinnere ich mich an meine einzige Reise in diese Stadt. Eine Reise in einem friedlichen Moment, als sich Armenier und Aseris gerade nicht gegenseitig die Köpfe einschlugen und es an der Front deshalb relativ ruhig war. Waffenstillstand hieß das. Nicht nur der unsinnige Krieg um die armenische Enklave Karabach machte gerade Pause, auch das schlimme Erdbeben, das so viele armenische Leben gekostet hatte, war fast schon vergessen. Wir landeten irgendwann in den frühen Morgenstunden in Baku, und unser aserischer Betreuer eröffnete uns, dass wir jetzt - um zwei Uhr morgens - nicht in die Stadt hineinfahren könnten, weil Ausgangssperre herrsche. Wir waren am Abend zuvor mit stundenlanger Verspätung in Moskau gestartet und saßen nun übermüdet und ratlos am Flughafen fest. Unser Betreuer aber wusste Abhilfe. Er verfrachtete uns kurzerhand in seinen kleinen alten Schiguli und brachte uns zu seinem Haus am Meer. Er nannte es seine Datscha, tatsächlich aber war es ein geräumiges, einladendes Haus mit einem wunderbaren Garten voller Feigenbäume. Und während wir darauf warteten, dass die Ausgangssperre endete, damit wir zu unserem Ziel nahe der iranischen Grenze - wo gerade die Front zwischen Armeniern und Aseris verlief - fahren konnten, saßen wir im Garten dieser Datscha am Ufer des Kaspischen Meeres, tranken Tee und aßen frisch gepflückte Feigen. Ein Erlebnis.
Der unsägliche Krieg um Karabach hat auch Galinas Leben durcheinandergeworfen. Als er begann, gab es die Sowjetunion
noch, als er vorbei war, hatte Baku sich vollkommen verändert Nach blutigen Pogromen an den dort lebenden Armeniern warer jene, die überlebt hatten, ebenso geflüchtet wie Juden, Russen und Georgier. Und plötzlich war Baku nicht mehr Galinas multi nationales Zuhause. Plötzlich zogen aserische Bauern aus den vor der armenischen Armee besetzten Gebieten rund um Karabach in die Hauptstadt am Meer, dorthin, wo die Ölbohrtürme aus dem Wasser ragten und es für die Flüchtlinge kaum Arbeit gab. Da war Galina aber schon gegangen.
Geboren wurde sie mitten ins Chruschtschowsche Tau wetter hinein. Stalin war tot, und viele dachten, dass es nur besser werden würde. Als sie die Schule beendet hatte, war allerdings auch dieses Tauwetter schon wieder Geschichte und Leonid Breschnjew und sein Politbüro der alten Männer noch an der Macht. Galina siegte damals bei einem Wettbewerb, der es ihr erlauben sollte, an der Moskauer Literaturfakultät zu studieren.
Genau zwei Wochen durfte sie die große sowjetische Hauptstadt damals erleben, erzählt sie ohne Ressentiment. Dann wurde ihre Mutter schwer krank. Als klar wurde, dass sie sich einer Operation werde unterziehen müssen, beschloss die Tochter schweren Herzens, Moskau den Rücken zu kehren. Die Eltern waren ohnehin wenig begeistert gewesen, dass Galina allein in der großen Hauptstadt lebte; gerade die Mutter hatte sich sehr gesorgt um die ferne Tochter. Galina ging also zurück nach Baku, an die dortige Philologische Fakultät, und begann gleichzeitig bei der „Molodjoschka", der Zeitung des Zentralkomitees des Komsomol, also des kommunistischen Jugendverbandes, zu arbeiten.
Und dann kam Gorbatschow. Die Leute in ihrem Baku, sagt Galina, hatten schon lange genug von der allgegenwärtigen Lüge. Und nun eröffneten sich neue Perspektiven. In Galinas Schubladen häuften sich damals die nicht gedruckten Artikel. Von Anfang an nämlich hatte sie sich der Schwachen, der Erniedrigten.
der Waisen und der Kranken angenommen, zeigte Missstände auf. Die Leute hatten Vertrauen zu ihr, erzählten ihr von ihren Sorgen, und sie engagierte sich, schrieb über Bürokratie und den menschenverachtenden Umgang der Mächtigen mit den Bürgern ihres Landes. Wenn sie aber dann ihre Artikel dem Chefredakteur vorlegte, geschah es oft, dass jemand anrief - und Galinas Arbeit verschwand in der Schreibtischschublade.
Nein, mit Politik habe sie sich nicht beschäftigt, beschäftige sie sich bis heute nicht, sagt Galina. Wenn aber einer sich mit einem Problem an sie persönlich wendet, dann will sie helfen, dann lässt sie nicht locker.
Als vier Männer 2008 wegen möglicher Beteiligung am Mord an Anna Politkowskaja vor Gericht standen, musste Galina als Zeugin aussagen und war danach fast jeden Tag im Gerichtssaal, als Reporterin und Anna Politkowskajas langjährige Kollegin. Aber auch, weil Sohn und Tochter der Ermordeten tagein, tagaus in diesem Gerichtssaal saßen und verbissen verfolgten, was gesagt wurde, obwohl von Anfang an klar war, dass hier weder der tatsächliche Mörder noch die Auftraggeber der niederträchtigen Tat vor Gericht standen.
Auf diese Weise hat Galina auch im sowjetischen Baku ihrer Jugend, in den unruhigen achtziger und neunziger Jahren des furchtbaren 20. Jahrhunderts, gearbeitet. Hat sich dabei wenig Freunde unter den lokalen Mächtigen gemacht und trotzdem nicht aufgegeben. Das erklärt, warum sie heute ausgerechnet bei der „Nowaja Gaseta" arbeitet, der einzigen Zeitung, die keine Kompromisse kennt. So wie Galina keine Kompromisse kennt, wenn es um die Ärmsten der Armen geht.
Gorbatschow also. Die Zeiten waren aufregend. Man schrieb gegen das Regime an und hoffte auf die Hilfe jenes Mannes, der dieses System gleichzeitig auch repräsentierte. Man spürte eine kleine frische Brise und tat alles, um sie in einen wilden, alles hinwegfegenden Orkan zu verwandeln. Mit den Mitteln, die man hatte. Mit dem Schreiben.
Galinas Ehemann wurde damals zum Korrespondenten der „Komsomolskaja Prawda" in Aserbaidschan ernannt. Und seine Frau schrieb gegen das System, auch gegen den Komsomol.
Kennengelernt hatten sie sich in einer Arbeitspause. Ihrer beider Zeitungen waren im selben Gebäude untergebracht, in dem es nur eine Kantine gab. Dort trank Galina Kaffee mit einer Freundin, als diese plötzlich auf einen jungen Mann zeigte, der gerade den Raum betrat, und ihr zuflüsterte: „Schau nur, was der für Sportschuhe trägt!" Sehr moderne Sportschuhe waren das, westliche, und die fielen auf in der mangelgeplagten Sowjetunion, wo solche Schuhe bedeuteten, dass man irgendwelche besonderen Möglichkeiten haben musste. In Wirklichkeit aber hatte Galinas späterer Ehemann gerade sein Studium im damaligen Leningrad beendet. Und auch wenn dieses Leningrad sehr viel provinzieller war als die Hauptstadt Moskau, war es doch dort einfacher, bestimmte Konsumgüter aufzutreiben, als im kleinen Aserbaidschan am Kaspischen Meer noch viel weiter hinten in den unendlichen Provinzweiten dieser Sowjetunion.
Wirklich gut angezogen sei er, entschieden Galina und die Freundin. Und sie fanden auch, dass der junge Mann zu Galinas Schwester passen würde. Die aber sollte der aufstrebende junge Journalist erst sehr viel später kennenlernen und keineswegs als potenzieller Partner. Bevor die Mädchen nämlich die von ihnen ausgedachte Begegnung organisieren konnten, hatte er schon seine spätere Frau Galina auf sehr spezielle Art und Weise erobert. Er könne ihr das hebräische Alphabet beibringen, brüstete er sich, und Galina war gebührend beeindruckt.
„Warum ausgerechnet das hebräische Alphabet?", frage ich. Galina sucht eine Erklärung. Er habe viele jüdische Freunde gehabt dort in Leningrad während des Studiums, sagt sie. Eine sehr sowjetische Situation, in der der aserische Muslim vor allem mit russischen jüdischen Studenten verkehrte.
Eine Episode aus jener Zeit, als zwischen ihnen schon alles klar war: Galinas Damals-schon-Ehemann wurde von einem Komsomol-Funktionär zum Gespräch gebeten. Seine Einstellung unterschied sich wohl nicht von jener seiner Frau, aber als Korrespondent der „Komsomolskaja Prawda" habe er eben mit diesen Leuten verkehren müssen, lächelt Galina. Als man sich gegenübersaß, sagte der Funktionär, Galinas Mann möge ein bisschen warten. Er wolle erst in der „Molodjoschka" nachsehen, was Galina wieder einmal gegen ihn und die Partei geschrieben habe, danach könne man sich in Ruhe unterhalten. So waren die Zeiten damals, sagt Galina. Es klingt nicht traurig. Damals war man jung und kämpferisch. Und überzeugt, dass das System besiegt werden könnte.
Heute, meint Galina, stehe sie nicht mehr in der ersten Reihe der Kämpfer für eine bessere Welt und habe großes Mitgefühl für jene Kollegen, die sich noch immer „mitten im Feuer" befänden. Heute beschäftige sie sich mit der Frage, was in der Gesellschaft vor sich gehe, mit sozialen Themen, mit Psychologie. Ruhiger sei sie geworden, viel ruhiger. Heute, wo sie schon lange nicht mehr in ihrem Baku lebt.
Und dann sind wir an diesem heiklen Punkt angelangt. Wie war das damals, als zuerst der Krieg um Karabach ausbrach und dann die Pogrome in Baku begannen? Wie war das für sie, die gefährdete Armenierin, die mit einem Aseri verheiratet ist? Zum Glück habe sie das nicht mehr direkt erlebt, sagt Galina. Ihr Mann habe das Angebot bekommen, in Moskau zu arbeiten. Der Krieg bedrohte ihre Familie, sie als Armenierin, ihn als Aseri. Und erstaunlicherweise gab es Leute in der Redaktion der „Komsomolskaja Prawda" in Moskau, die das begriffen und die Übersiedlung nach Moskau forcierten. Was nicht nur den Familienzusammenhalt, sondern Galina und ihren Eltern vermutlich auch das Leben rettete.
Die Flucht ins relativ sichere Moskau gestaltete sich nicht einfach. Für Galinas Mann fand die Zeitung ein Zimmer in der Wohnung eines Kollegen, Galina, ihre Eltern und die beiden Kleinkinder aber kamen auf dem Land unter. Der Sohn war gerade zwei
Monate alt geworden, die Tochter drei Jahre. In Baku war sie vor der Flucht stellvertretende Chefredakteurin der größten lokalen Tageszeitung gewesen. In dem Holzhaus in der Kleinstadt jarzewo, vier Stunden Fahrt von Moskau entfernt, musste sie nun das Wasser vom Brunnen holen, und die Nachbarinnen schimpften, weil sie es nicht schaffte, das Kartoffelfeld zu bestellen, wie sich das gehörte. Damals waren Lebensmittel überall in der Sowjetunion knapp, nicht nur im kriegsgeschüttelten Aserbaidschan. In Moskau sprach der Präsident in der Öffentlichkeit davon, auch er bearbeite ein Kartoffelfeld. Die Nachbarinnen in der Kleinstadt konnten die junge Frau mit den zwei kleinen Kindern und den alten Eltern, die nicht wusste, wie man Kartoffeln setzte, wohl nicht verstehen. Und Galinas Mann war weit weg in Moskau. Seither weiß sie, wie man sich fühlt als Flüchtling.
Warum sie mit Kindern und Eltern ausgerechnet in Jarzewo strandete, ist gar nicht so schwer zu verstehen, sagt Galina. Viele aus Baku fanden sich dort wieder, weil es eine Autozulieferfabrik für den sowjetischen Prestigeautofabrikanten SIL und daher auch Arbeit gab. Galinas Schwester und deren Mann hatte es ebenfalls hierher verschlagen. Galinas Eltern kauften mit ihren Ersparnissen die Hälfte eines alten Holzhauses, und dort lebten sie nun: Galina, die Kinder und die alten Eltern.
Die Eltern waren Intellektuelle, nicht nur von Berufs wegen, sondern von ihrer gesamten Lebenseinstellung her. Der Vater arbeitete zwar bei einer großen Organisation, bei der man viel Geld machen konnte, begnügte sich aber mit dem bloßen Gehalt. Die Mutter war Chefärztin im Gesundheitsamt. Auch sie hätte Geld scheffeln können, aber auch sie begnügte sich mit ihrem Gehalt. Zu Hause in Baku gab es viele Bücher, aber keine wertvollen Kristallvasen. Intellektuelle eben. Auf die Flucht nahmen sie Bücher mit - und dann lebten sie im Holzhäuschen. Zu mehr reichte das Geld nicht.
Eine Reise in eine fremde Welt war das für Galina, die zwar Moskau gut kannte, weil sie als Journalistin immer wieder in
die Hauptstadt gefahren war, Russland aber nicht. Und Moskau ist nicht Russland, sagt Galina. Das finde auch ich, die das jedes Mal aufs Neue entdeckt. Immer wenn mich mein Beruf in die russischen Weiten führt, immer wenn ich danach nach Moskau zurückkomme, weiß ich, wie recht Galina mit dieser Feststellung hat.
Und es war so kalt im kleinen Jarzewo weit weg von Moskau.
Als wir damals an die Frontlinie fuhren, lag in Moskau schon Schnee, in Aserbaidschan aber war noch Sommer. Die Dörfer waren verlassen, in den wunderbaren Gärten blühten die Blumen, und die Weintrauben hingen prall in den Pergolen. Mittendrin saßen aserbaidschanische Offiziere und Soldaten und aßen tiefrote Wassermelonen. Die Häuser waren sicher nicht bequemer als jenes Holzhaus, in dem Galina ihre erste Zeit im Exil verbrachte, aber der warme Wind und die Sonne ließen sie einladend erscheinen - nur die Waffen, die achtlos hingeworfen im Gras lagen, nahmen der Idylle etwas von ihrer Schönheit.
Das Holzhaus in Jarzewo hatte nichts Idyllisches an sich. Galina kämpfte dort ums Überleben. Um das ihrer Kinder, ihrer Eltern, um ihr eigenes. Auch um ihr geistiges Überleben. Die Eltern, so sagt sie, litten am schwersten unter der Flucht. Der Vater sei ein alteingesessener Bewohner Bakus gewesen, der noch die alten, vorrevolutionären Straßennamen benutzt habe. Die Verwandten der Mutter wiederum hatten in Karabach gelebt. Als Galina sie mit sanfter Gewalt zwang, mit ihr wegzugehen aus der Heimat im Süden, zeigte die Mutter keine Gefühlsregung, wurde aber wieder krank. So lebten sie in dem Holzhaus, bis es mit Hilfe der „Komsomolskaja Prawda" gelang, eine Wohnung in Moskau zu finden. Die „Komsomolskaja Prawda" von damals, meint Galina nebenbei, war eine Zeitung, die die Leute verschlangen, von Anfang bis Ende; nicht vergleichbar mit dem heutigen Boulevardblatt gleichen Namens. Noch war Gorbatschow an der Macht, noch genoss man die Aufbruchstimmung nach Jahrzehnten der Breschnjewschen Stagnation.
Obwohl Galina meint, dass es zu Sowjetzeiten weniger Hass zwischen Menschen verschiedener Nationalitäten gegeben habe erzählt sie doch, dass man ihr als Kaukasierin in Russland mit Misstrauen begegnete. Im provinziellen Jarzewo war der Rassismus etwas milder, sagt sie auch. „Na, die überfluten uns jetzt" hätten die Menschen dort gesagt, beinahe gutmütig klang das. Das sei nicht weiter schlimm gewesen. Doch die Zeiten waren hart. Es gab kaum etwas zu kaufen, vor den Lebensmittelgeschäften standen lange Schlangen. Und in diesen Schlangen nährte sich der Hass. Der Hass auf die Fremden - und manchmal auch auf die Eigenen. Die Kriegsveteranen zum Beispiel, die das Recht hatten. an der Schlange vorbeizugehen und als Erste bedient zu werden.
Die Schlangen. Ich erinnere mich an meine Studentenzeit im Leningrad der Breschnjew-Zeit. Nach wenigen Tagen hatten mir meine neuen russischen Freunde beigebracht, wie man sich zu verhalten hatte, wenn man eine Schlange vor einem Geschäft sah. Zwei Fragen und eine Feststellung waren laut auszusprechen: „Wer ist der Letzte? Ich komme nach Ihnen! Was gibt es hier?" Und ich erinnere mich auch an eine sehr viel weniger weit zurückliegende Erfahrung in einer Schlange. Moskau 1991. In den Geschäften ist das Schwarzbrot nicht nur knapp, sondern an diesem Tag gerade wieder einmal empfindlich teurer geworden. Trotzdem nehme ich die vorhandenen drei Laibe, für mich und meine Kinder und für meine Arbeitskollegen. Wie man das eben so macht in einem Land, wo immer noch Mangel herrscht. Ich hamstere sozusagen. In der Schlange an der Kasse höre ich die Frauen hinter mir murren: Ja, die Ausländer, die könnten sich das gute Brot leisten ... Ich schäme mich - und kaufe die drei Laibe trotzdem. Meine Kinder und die Arbeitskollegen müssen schließlich auch essen.
Galina aber war nicht einfach Ausländerin. Sie kam aus dem Kaukasus, war dunkelhaarig und deutlich als Nichtrussin erkennbar. Und so bekam sie sehr schnell zu spüren, was das auch damals schon in Russland hieß. Vor allem aber hatte sie zunächst Schwierigkeiten, sich an das russische Leben zu gewöhnen.
Eine Begebenheit. Galina kam vom Einkaufen und tratschte mit einer Frau, die sie dabei kennengelernt hatte. Und diese Frau fluchte ununterbrochen. Galina war irritiert: In Baku, sagt sie, gab es das nicht, eine Frau, die auf der Straße laut Mutterflüche, eine besonders ordinäre Art der Verwünschung, ausstieß. Wenn in Baku jemand vor einer Frau Mutterflüche benutzte, konnte er aus dem Autobus geworfen werden. Warum tut sie das, fragte sich Galina. Will sie mich kränken? Es brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass die Frau nichts gegen sie hatte, dass sie einfach gewohnt war zu fluchen. Viele seien auch sehr hilfsbereit gewesen im kleinen Jarzewo, hätten Kleider und Haushaltsgeräte gebracht. Aber verstanden hätten sie sie nicht.
Als sie endlich zu ihrem Mann nach Moskau ziehen konnte, wollte Galina die Eltern nicht so allein in dem unbequemen Holzhaus ohne Fließwasser und Telefon zurücklassen. Also kämpfte sie um eine Telefon- und eine Wasserleitung. Die Leute verstanden das nicht, erzählt sie. Man sah sie verständnislos an und sagte: „Wir leben hier schon Jahrzehnte ohne Wasserleitung. Es sind doch nur ein paar Schritte von Ihrem Haus bis zum Brunnen. Wozu die Erde aufgraben, wozu all diese Mühen, wozu braucht Ihr eine Wasserleitung?" Als dann die Arbeiter kamen, um die Leitung zu legen, schimpften die Nachbarn, dieselben, die vorher Kleider und Haushaltsgegenstände gebracht hatten. Sie glaube wohl, sie sei etwas Besseres, diese Fremde da aus dem Süden ... So jedenfalls hat Galina das damals erlebt und sich ihren Reim darauf gemacht, wie man als Fremder in Russland zu leben hat. Dass sie ihre alten Eltern nicht in einem Haus ohne Fließwasser zurücklassen wollte, interessierte nicht; man sah nur, dass sie sich etwas erkämpfte, was alle anderen nicht hatten.
Diese „russische Seele", über die so viel geredet werde; nach dem ersten Glas Wodka könne es durchaus sein, dass sie zum Vorschein komme, sagt Galina und beweist damit, wie erstaunlich leicht Vorurteile auch von jenen aufgenommen werden, die es besser wissen sollten. Diese Seele sei aber meist ganz tief irgendwo
versteckt. Die Menschen in Russland lebten in ständiger Anspannung, mit stets vorgehaltenem Schild und geschlossenem Visier. Man könne ja nie wissen, was einem drohe, von einem, den man nicht kenne.
Sie selbst meint, sich nicht an direkte rassistische Angriffe erinnern zu können. Aber nach einigem Nachdenken fällt ihr dann ein, was ihr Sohn erlebt hat. Beim Schulausflug wurde eine russisch-orthodoxe Kirche besucht. Er war der einzige „Dunkle" in einer durch und durch russischen Klasse. Als sie die Kirche betraten, kamen plötzlich ein paar ältere Frauen auf ihn zu und zischten ihn an: „Was machst du hier? Das ist eine russische Kirche, eine christliche. Es ist eine Sünde, dass du da bist, raus hier!" Galinas Sohn war damals vielleicht sieben Jahre alt und fürchtete sich vor den aggressiven alten Frauen. „Und die Lehrerin?", frage ich. Die Lehrerin habe ihren Sohn angesehen und gesagt: „Ja, Timur, es ist wirklich besser, wenn du hinausgehst."
Am Abend fragte der Kleine Galina: „Bin ich schlechter als die anderen?"
Galina ist nicht die Frau, die eine solche Angelegenheit unwidersprochen hinnimmt. Natürlich ging sie sofort zur Lehrerin und stellte sie zur Rede. Es sei nun einmal eine christliche Kirche gewesen, verteidigte sich diese. Galina hielt ihr einen Vortrag über Toleranz und Kindererziehung, und weil sie damals bereits bei der „Nowaja Gaseta" arbeitete, schrieb sie auch einen Artikel. Was die Lehrerin in wohlverdiente Schwierigkeiten brachte, dem Sohn aber sein kleines Trauma wohl nicht nehmen konnte.
Die „Nowaja Gaseta" also. Galina sagt, wenn sie das Haus betrete, in dem die Redaktion untergebracht ist, betrete sie einen anderen Planeten. Die Kollegen, die technischen Mitarbeiter, die Besucher, alle hätten andere Gesichter, wenn sie hierher kämen. Gefunden hat sie diesen ihren anderen Planeten aber nicht sofort.
Als sie endlich mit den Kindern nach Moskau ziehen konnte, bekam sie gleich Arbeit. Sie war schließlich keine Unbekannte im sowjetischen Journalismus. Die Zeitschrift „Ogonjok", zu Deutsch „Feuerchen", rollte ihr den roten Teppich aus, und sie war dort so lange zufrieden, solange der Eigentümer nicht wechselte. Der neue Eigentümer aber berief eine Vollversammlung ein und setzte die Mitarbeiter umgehend davon in Kenntnis, dass er aus der politischen Zeitschrift „Ogonjok" ein leichtes Boulevardblättchen machen werde. Da packte Galina ihre Sachen und ging. Es war das Jahr 1999. Die „Nowaja Gaseta" existierte schon einige Jahre. Galinas Frage, ob sie wohl hier arbeiten könnte, wurde mit Begeisterung bejaht. Wenige Tage später tauchte auch Anna Politkowskaja auf. Und so landeten die beiden in dem Zimmer, das sie bis zu Annas Ermordung teilten. Ganz einfach, sagt Galina.
Es war das Jahr, in dem in Moskau zwei Wohnhäuser in die Luft flogen. Es war das Jahr, in dem Putins unaufhaltsamer Aufstieg an die Macht, in dem der zweite Tschetschenien-Krieg begann. Anna reiste ins Kriegsgebiet, Galina aber schrieb gegen die immer deutlicher zutage tretenden rassistischen, xenophoben, antikaukasischen Ressentiments in Moskau an. Timur, Galinas Sohn, hatte aus seinen Erlebnissen als Kaukasier in Moskau derweil eine interessante Konsequenz gezogen: Er wurde Psychologe. Galina glaubt, dass er auf diese Art viele davon überzeugen kann, wie unsinnig ihr Fremdenhass ist. Sie ist nämlich eine unverbesserliche Optimistin.
Obwohl es da auch ein Erlebnis gibt.
Galina und ihr Mann haben inzwischen ein Häuschen in einer Siedlung am Stadtrand von Moskau gekauft. Mit den Parkplätzen ist es nicht ganz einfach hier, die öffentlichen Verbindungen ins Zentrum sind schlecht, also hat jeder dort ein Auto. Eines Tages vergaß Galina das ihre vor der Einfahrt des Nachbarhauses, wo sie es eigentlich nur für ein paar Minuten hatte abstellen wollen. Doch dann hatte das Telefon geläutet, die Kinder dringend etwas von der Mutter benötigt - kurz, sie hatte ihr Auto nicht weggefahren. Schließlich läutete es an der Haustüre. Draußen stand eine offensichtlich wohlhabende dickliche Dame,
die zunächst noch recht höflich fragte, ob das Galinas Auto sei das da vor ihrer Einfahrt parke. Galina bejahte. „Saujüdin du" fuhr die dickliche Dame Galina daraufhin an. Die aber hatte eine rasche Antwort parat: „Ich bin etwas noch viel Schlimmeres Kaukasierin!"
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Autoren-Porträt von Susanne Scholl
Dr. Susanne Scholl hat in Rom Slawistik studiert, das journalistische Handwerk in der Auslandsredaktion der Austria Presse Agentur gelernt und ab 1985 unter Paul Lendvai in der Osteuropa-Redaktion des ORF gearbeitet. Sie hat 1989 als ORF-Korrespondentin in Bonn das Ende der DDR miterlebt und danach von 1991 bis 2009 mit einer kurzen Unterbrechung aus Moskau berichtet. Scholl wurde mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst und zahlreichen Preisen ausgezeichnet, wie dem Axel-Corti-Preis der österreichischen Volksbildung 2007 und dem Concordia-Preis des Presseclubs Concordia. Seit 2009 lebt sie als freie Journalistin und Autorin in Wien. Susanne Scholl hat vier Sachbücher und drei Romane sowie einen Gedichtband veröffentlicht und mehrere Preise und Auszeichnungen für ihre journalistische Arbeit erhalten. Sowohl ihr Buch "Russland mit und ohne Seele", als auch ihr Buch "Allein zu Hause" schafften es in Österreich auf die Bestsellerlisten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Susanne Scholl
- 2009, 3., Neuausg., 188 Seiten, Maße: 15 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: ecoWing
- ISBN-10: 3902404744
- ISBN-13: 9783902404749
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