Russlands hoher Norden
Russlands hoher Norden vonDirk Sager
LESEPROBE
Auf den Spuren des Mythos
Unsere Reise beginnt in der Hauptstadt Moskau, wo die Geschickedes großen Landes gesteuert werden, obwohl sie den Provinzen fern ist wie einanderer Stern. Der Aufbruch folgt einem Ritual, dessen Regeln nirgendwofestgelegt sind, dennoch erscheint es wie die Ouvertüre zu einem langen Weg.Schon jetzt begegnen wir einem anderen Russland, ihm sind die Hast undUnverbindlichkeit der Metropole ebenso fremd wie die zielstrebige Planung, mitder westliche Reisende meinen, ihre Routen im Voraus festlegen zu können.
Auf der Vorderseite des Hauses an der Dorogomilowskajastraße,in dem das ZDF-Studio seit über dreißig Jahren untergebracht ist, pulsiert derGroßstadtverkehr. Auf der Rückseite aber, im Innenhof des schmucklosenWohnblocks, halten uralte dörfliche Sitten Einzug. Wir reisen zu viert: dreiRussen und ein Deutscher. Der Wichtigste in der Gruppe ist ein untersetzterMann, der schon mit seiner langen Mähne, die ihm weit in den Nacken fällt,Protest gegen jede fremde Autorität anmeldet. Kameramann Slawa wird im Kreisder Mitreisenden geschätzt wegen seiner geduldigen Art. Er hat den sanftenBlick eines kultivierten Menschen. Aber er kann auch Respekt verbreiten, weiler sein Handwerk mit Leidenschaft betreibt und weder sich noch andere schont.Wenn wir mit ihm unterwegs sind, fallen wir nicht als Exoten auf - trotz derKofferberge, die auf einen gestrandeten Wanderzirkus verweisen. Wir sind dann keinfremdes Fernsehteam, sondern gewöhnliche, geplagte Reisende.
Slawa steht auf dem Hof und zählt die Gepäckstücke, damit keinesvon ihnen auf den späteren Stationen der Reise übersehen und zurückgelassenwird. Und als warte nicht ein Kleinbus, der uns zum Flughafen fährt, sonderneine Kutsche oder ein Schlitten, um den widrigen Weg über Land anzutreten,fordert Slawa zu einem Moment des Innehaltens auf. So ist es heute noch auf demLand in russischen Familien üblich. Die einen rauchen, die anderen beten, einjeder in der Hoffnung, ungeschoren über die Runden zu kommen. Oben aber, imvierten Stock, in dem das Studio untergebracht ist, winken die Zurückbleibendenaus den Fenstern - schwer zu deuten, ob dies Ausdruck von Abschiedsschmerz istoder das Adieu nicht eher Freude signalisiert, weil es im Studio endlichruhiger wird.
Unser Ziel ist der Norden Russlands. Anfang der neunziger Jahrehatte eine Reise nach Archangelsk Neugierde und wohl auch Sehnsucht geweckt.Wir entdeckten, dass im Norden die Menschen einander offener begegnen als inden großen Städten des südlichen Russlands. Und wir stießen auf Spurenrussischer Geschichte, die noch heute lesbar sind.
Wie immer, wenn es um die russische Vergangenheit geht, istdie Begegnung mit Peter dem Großen unausweichlich. Er wollte nicht nur dasFenster nach Europa öffnen, er stieß auch das Tor zum Norden auf. Der rastloseHerrscher, der seinem Land eine radikale Kur verordnete, um es aus seinerRückständigkeit zu befreien, wusste, dass Russland, um als starke Machtanerkannt zu werden, zunächst sich selbst entdecken musste. Zu seiner Zeithatte man in Moskau und St. Petersburg nur eine vage Ahnung von der Weite undden Grenzen des Landes.
Peter der Große gab den Anstoß, die Küsten des riesigenReiches im Norden und Osten zu erkunden. Er riss das Land aus seinemMoskowiter Dämmerzustand. Doch seine Pionierleistungen hatten ihren grausamenPreis, wie es dem Herrscherstil seiner Zeit entsprach - er schonte das Wohlseiner Untertanen nicht. Diese Tatsache warf lange Schatten. Denn alle seine Nachfolger,ob Zaren oder Diktatoren, maßen sich an dem großen Vorbild, wobei auch ihnendas Glück der Bürger herzlich gleichgültig war. Selbst die Präsidenten desneuen Russlands sind anfällig für diese Tradition.
Der Aufbruch nach Norden wurde so etwas wie eine Schicksalsmissionfür Russland, wie die Eroberung des weiten Westens für die Vereinigten Staatenvon Amerika. Doch der jungen amerikanischen Nation wies der Ruf nach «ManifestDestiny» den Weg zur Weltmacht. In Amerika folgten freie Siedler dem Lockrufvon Land und von Gold. In Russland blieb der Norden nur eine Verheißung - undwurde zum Grab für Millionen Menschen. Der Schriftsteller Anton Tschechowkommentierte sarkastisch: «Das russische Leben schlägt den russischen Menschen,dass kein Auge trocken bleibt.»
Die Erschließung Sibiriens folgte anderen Gesetzmäßigkeitenals auf dem amerikanischen Kontinent. Die Mehrheit der Menschen, die in denrussischen Norden kamen, wurden als Arbeitssklaven und Verbannte dorthingeschafft. Schon die Zaren missbrauchten die unwirtliche Weite des Hinterlandesals Gefängnis und Verbannungsort. Im 20. Jahrhundert wurde daraus Stalinsmonströses System des Gulag - «Glawnoje Uprawlenie Lagerej». (...)
© 2005 by Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin
Interview mit Dirk Sager
Russland pur: Von St. Petersburg bis Murmansk, vom Polarmeer biszum östlichsten Zipfel Sibiriens reiste der renommierte ZDF-Korrespondent Dirk Sager. Sein Reisebericht gleicht einer Reportage, die nichtnur auf die politischen Hintergründe und Sehenswürdigkeiten eingeht, sondernGeschichte erzählt. Die große Geschichte von Russland und viele kleineGeschichten der Menschen am Straßenrand. Russlands hoher Norden" ist aktuellim Rowohlt-Verlag erschienen.
Weshalb haben Sie als Fernseh-Journalist entschieden,über Ihre Reise ein Buch zu schreiben?
Das Buch ist die Summe einer ganzen Reihe von Reisen inden russischen und sibirischen Norden. Weil das Fernsehen ein flüchtiges Mediumist, habe ich die Eindrücke und Begegnungen festhalten wollen, die mich selbstnachhaltig bewegen. Ich denke sie bieten einen Einblick in einen Extrembereichrussischen Lebens, in dem sich gleichwohl viel von der Wirklichkeit des neuenRusslands spiegelt, das schwer trägt an seiner Vergangenheit.
An welchen Leserkreis wendet sich Ihr Buch?
Das Buch wendet sich anall jene, die offen sind für eine Annäherung an Russland und die mehr erfahrenwollen als aus der Hauptstadt Moskau berichtet wird. Es führt auf teilweiseabenteuerlichen Wegen zu den Kernproblemen der Gegenwart.
Welche Begegnunghat Sie am meisten beeindruckt?
Es sind viele Begegnungen mit Menschen, die inunvergesslicher Weise das Herz anrühren. Der Pilot Kostja, der uns mit einemuralten Hubschrauber ohne Schaden über viele tausend Kilometer in Tschukotka - an der östlichen Grenze des Imperiums -transportierte, bis auf die Insel Großer Diomed in der Beringstraße, ist ein Held in unseremLeben geworden.
Welche politische Stimmung herrschte in den Regionen, dieSie durchquerten?
Es war die Trauer übereinen verlorenen neuen Anfang für Russland.
Was fasziniert Sie selbst an Russland?
Der Reichtum, den das Land in seinen Menschen hat, diegrenzenlose Weite und die Natur, die diese Menschen prägen, das Unglück desLandes in seiner Geschichte, die Frage, wann und wie sich dieses Schicksal fürdie Menschen zum Besseren wenden wird.
Immer wieder ziehen Sie Parallelen zu Peter dem Großen.Welche Rolle spielte er für Sie während Ihrer Reisen?
Zar Peter war der erste, der die Rückständigkeit seinesLandes erkannte und es zu einem Teil Europas machen wollte. Er war auch, wasdem Stil seiner Zeit entsprach, ein Herrscher, der die Modernisierung mitGewalt betrieb. Fast alle nachfolgenden Herrscher bis in die Gegenwart nahmenihn sich zum Vorbild, was ihnen zumeist nur als Pose gelang. Auf den Reisenstößt man immer wieder auf Peter, weil die Kernfrage, die ModernisierungRusslands, bis heute nicht gelöst ist. Und man stößt auf die Spuren und Folgender Gewalt, mit der die kommunistischen Nachfolger an der Spitze des Staates -vor allen Dingen Stalin - das Land entwickeln wollten.
Welche drei Dinge wären Ihre ersten Handlungen alsrussischer Präsident?
Ein unheimliche Vorstellung. Alserste würde ich wohl den Kreml räumen und für mein Büro eine zivilere Kulissesuchen. Ein Beleg dafür, dass nicht der Ruhm und die Macht Russlands daswichtigste Staatsziel wären, sondern die Linderung der wirtschaftlichen Not inden Städten und Dörfern. Dazu gehört das Eingeständnis, dass die Menschen nichtUntertanen sondern Bürger im Land sein sollen. Schließlich der Versuch, diesenBürgern die Aufgaben in der Gegenwart dadurch begreiflich zu machen, dass diegrauenhaften Irrwege in der Vergangenheit offen diskutiert werden, wie dies inder Zeit Gorbatschows schon einmal geschah. Dann verbietet sich, dass Leninweiter auf seinem Sockel bleibt: Putins insistierenauf einem zentralistischen Staat, die Missachtung der Gewaltenteilung und die unkontrollierte Macht desGeheimdienstes. Die Fragen stellte Regina Buckreus / lorenzspringermedien
- Autor: Dirk Sager
- 2005, 1, 256 Seiten, 20 farbige Abbildungen, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 387134513X
- ISBN-13: 9783871345135
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