Schattenturm
Thriller
Eine Kindesentführung in New York entwickelt sich zur Katastrophe, und Joe Lucchesi, der ermittelnde Beamte, zieht sich mit seiner Frau und seinem Sohn in einen Ort an der irischen Küste zurück, um die schrecklichen Ereignisse zu vergessen. Joes Sohn Shaun...
Leider schon ausverkauft
Buch
Produktdetails
Produktinformationen zu „Schattenturm “
Eine Kindesentführung in New York entwickelt sich zur Katastrophe, und Joe Lucchesi, der ermittelnde Beamte, zieht sich mit seiner Frau und seinem Sohn in einen Ort an der irischen Küste zurück, um die schrecklichen Ereignisse zu vergessen. Joes Sohn Shaun fühlt sich nach anfänglichen Schwierigkeiten in der kleinen Gemeinde sehr wohl, was vor allem auf seine Freundschaft zu einem jungen Mädchen, Katie Lawson, zurückzuführen ist. Als Katie eines Tages spurlos verschwindet, verwandelt sich die friedliche Gemeinde in einen Ort des Schreckens. Joes Ermittlerinstinkte werden geweckt, zumal sein Sohn durch die Beziehung zum Opfer in den Kreis der Verdächtigen gerät und seinen Eltern manches verheimlicht. Doch auch Joes Frau hat ein Geheimnis, das sie mit allen Mitteln vor ihrem Mann zu verbergen sucht. Und Joe muss schließlich erkennen, dass er die albtraumhaften Ereignisse in New York nicht hinter sich gelassen hat ...
Lese-Probe zu „Schattenturm “
Eine Kindesentführung in New York entwickelt sich zur Katastrophe, und Joe Lucchesi, der ermittelnde Beamte, zieht sich mit seiner Frau und seinem Sohn in einen Ort an der irischen Küste zurück, um die schrecklichen Ereignisse zu vergessen.Joes Sohn Shaun fühlt sich nach anfänglichen Schwierigkeiten in der kleinen Gemeinde sehr wohl, was vor allem auf seine Freundschaft zu einem jungen Mädchen, Katie Lawson, zurückzuführen ist. Als Katie eines Tages spurlos verschwindet, verwandelt sich die friedliche Gemeinde in einen Ort des Schreckens.
Joes Ermittlerinstinkte werden geweckt, zumal sein Sohn durch die Beziehung zum Opfer in den Kreis der Verdächtigen gerät und seinen Eltern manches verheimlicht. Doch auch Joes Frau hat ein Geheimnis, das sie mit allen Mitteln vor ihrem Mann zu verbergen sucht. Und Joe muss schließlich erkennen, dass er die albtraumhaften Ereignisse in New York nicht hinter sich gelassen hat ...
Prolog
New York City
Seine Hände glitten fahrig über den schmalen Gürtel, als er ihn um die Taille des achtjährigen Mädchens legte. Donald Riggs zeigte auf das Kästchen am Gürtel.
"Das ist ein Pieper, Kleine, damit die Polizei dich findet", sagte er. "Weil du nämlich gleich nach Hause darfst, wenn deine Mama ein braves Mädchen ist. Deine Mama ist doch ein braves Mädchen, Hayley?"
Hayleys Mundwinkel zuckten, doch sie brachte kein Wort hervor. Sie biss sich auf die Lippe, schaute mit ängstlichem Blick zu Riggs auf und nickte zögernd. Riggs lächelte und strich ihr übers dunkle Haar.
Der vierte Tag ohne ihre Tochter Hayley war der letzte Tag, an dem Elise Gray einen kaum erträglichen Schmerz aushalten musste. Wut stieg in ihr auf, und sie atmete tief durch. Elise machte sich bittere Vorwürfe, denn es war wohl eher die Schuld ihres Mannes als die des Fremden, der ihr das Kind weggenommen hatte. Gordon Grays Unternehmen war kürzlich an die Börse gegangen. Das hatte ihn zu einem sehr wohlhabenden Mann und zu einer bevorzugten Zielscheibe
... mehr
für Kidnapper gemacht.
Jetzt saß Elise vor ihrem Haus, am Steuer des BMW ihres Mannes, und wartete darauf, dass dieser Scheißkerl sie auf dem Handy anrief, das er mitsamt den Lösegeldforderungen zurückgelassen hatte. Doch es war ihr Mann Gordon, an den Elise denken musste. Die Versicherungsgesellschaft hatte dem Ehepaar geraten, den Tagesablauf zu ändern. Mein Gott, Gordon hatte ja keine Ahnung, was es hieß, Abwechslung in die alltägliche Routine zu bringen. Dieser Mann kochte sich Kaffee, machte sich einen Toast und legte sich dann einen Apfel, eine Banane und einen Pfirsichjoghurt fürs Frühstück zurecht - jeden Morgen in derselben Reihenfolge. Jeden Morgen.
Dein dummer Mann, dachte Elise. Dein dummer, dummer Mann und seine dummen Rituale. Kein Wunder, dass ihm draußen vor dem Haus jemand aufgelauert hatte. Natürlich bist du schließlich aufgetaucht, weil du jeden Tag zur selben Zeit auftauchst, um Hayley von der Schule abzuholen. Keine Umwege, keine Stopps, um irgendwo Süßigkeiten zu kaufen, jeden Tag pünktlich auf die Minute.
Verzweifelt schlug sie die Stirn gegen das Lenkrad, als plötzlich das Handy auf dem Beifahrersitz klingelte. Als Elise die Taste suchte, um die Verbindung herzustellen, wurde ihr klar, dass das Handy die Melodie der Sesamstraße spielte.
Dieser kranke Scheißkerl hatte tatsächlich die Melodie der Sesamstraße aufgespielt.
"Fahr los, Miststück", sagte er bedächtig.
"Und wohin?"
"Dahin, wo du deine Tochter zurückbekommst, wenn du dich anständig benommen hast." Der Mann unterbrach die Verbindung.
Elise Gray ließ den Motor an und fädelte den BMW in den Verkehr ein. Ihr Herz klopfte laut. Das Kabel des Abhörgeräts scheuerte an ihrem verschwitzten Rücken. Indem sie die Polizei eingeschaltet hatte, würde sie dieser Sache ein anderes Ende bereiten, als dieser Hurensohn erwartete. Elise wusste nur nicht, ob es das Ende war, das sie sich erhoffte.
Detective Joe Lucchesi saß auf dem Fahrersitz des Streifenwagens und beobachtete. Zum wiederholten Mal fragte er sich, ob Elise Gray die Nerven hatte, die Anspannung, dass sie verkabelt war, bis zum Ende durchzustehen. Zumal niemand sagen konnte, wohin der Kidnapper sie bestellen und wie Elise reagieren würde, wenn sie es nicht bloß am Handy, sondern leibhaftig mit dem Kerl zu tun bekam.
Auf dem Beifahrersitz saß Detective Danny Markey, mit dem Joe seit fünf Jahren als Partner zusammenarbeitete. Alles an Danny war blass - seine Haut, seine Sommersprossen, sogar seine blauen Augen.
"Gehst du hin, wenn Old Nic nächsten Monat seinen Ausstand gibt?", fragte Danny. Victor "Nic" Nicotero hatte sein Leben lang bei der Verkehrspolizei gearbeitet und ging in einem Monat in den Ruhestand.
Joe schüttelte den Kopf und atmete tief ein, um den Schmerz zu bekämpfen, der in seinen Schläfen hämmerte. "Ach ja, das hatte ich ganz vergessen", sagte Danny. "An dem Tag sind deine Schwiegereltern aus Paris da, nicht wahr?" Er lachte. "Ein sechsstündiges Essen mit Leuten, die du nicht verstehst."
Joe erwiderte nichts. Sein Blick ruhte auf Elise Grays Wagen, der sich jetzt in Bewegung setzte. Joe kämpfte gegen den Schmerz an, der in seinen Schläfen hämmerte, griff in die Ablage an der Fahrertür und nahm das Aspirin sowie die Pillen mit der abschwellenden Wirkung heraus. Er schluckte jeweils zwei Tabletten mit dem blauen Energy-Drink herunter, der in der Sonne lauwarm geworden war. Dann ließ er den Motor an und scherte hinter Elise Grays BMW aus.
Drei Fahrzeuge hinter ihnen folgte ein marineblauer Crown Vic mit den FBI-Agenten Maller und Holmes.
Elise fuhr ziellos durch die Stadt. Auf der Suche nach Hayley ließ sie den Blick über die Bürgersteige schweifen, als würde ihre Tochter an irgendeiner Ecke stehen und darauf warten, in den Wagen springen zu können.
Wieder erklang die Melodie aus der Sesamstraße. Elise drückte sich das Handy ans Ohr.
"Ja?"
"Wo bist du jetzt, Mutti?" Die ruhige Stimme des Mannes jagte Elise einen kalten Schauer über den Rücken.
"Ecke Zweite Avenue und Dreiundsechzigste."
"Dann fährst du jetzt Richtung Süden, biegst links auf die Neunundfünfzigste ab und fährst über die Brücke."
"Links auf die Neunundfünfzigste und über die Brücke", sagte Elise. "Ist gut."
"Braves Mädchen." Der Mann unterbrach die Verbindung.
Elises BMW, gefolgt von den zwei Polizeiwagen, fuhr über die Brücke zum Northern Boulevard East - das Schicksal eines jeden, der Donald Riggs in die Hände fiel.
Er rief Elise ein letztes Mal an. "Bieg links auf den Francis Lewis Boulevard ein", sagte er, "dann auf die Neunundzwanzigste. Ich sehe dich dann schon. Und immer schön allein bleiben, kapiert?"
Elise bestätigte.
Joe und Danny, die mitgehört hatten, schauten sich an.
"Bowne Park", sagte Joe und rief übers Handy den Chef der Sonderkommission an, Lieutenant Crane. "Sieht so aus, als würde er das Mädchen im Bowne Park absetzen. Kannst du ein paar Kollegen aus dem hundertneunten Distrikt hinschicken?"
Donald Riggs fuhr zügig; sein Blick glitt über die Straßen und die Menschen, während seine linke Hand über die rauen Narben auf seiner Wange strich, die mittlerweile verblasst waren und sich nur noch als helle Flecken von der gebräunten Haut abhoben. Die dunklen Augen weit aufgerissen, betrachtete er sich im Innenspiegel und strich mit den Fingern über die Rillen, die der breit gezinkte Kamm in sein mit Gel und Spray gestyltes Haar gezogen hatte. Im Nacken hatte er das Haar, das dicht über dem Hemdkragen endete, zur Mitte hin frisiert. Außerdem hatte er Aftershave aufgetragen und mit Zimtmundwasser gegurgelt.
Riggs nickte zufrieden und drehte sich zu dem Mädchen um, das hinten im Wagen unter einer stinkenden Decke auf dem Boden lag.
Es war 16.30 Uhr. In der Wache des zwanzigsten Distrikts, die Lieutenant Terry Crane leitete, saßen fünf Detectives, als Old Nic zur Tür schlurfte und sein ergrautes Haar glatt strich. Vielleicht reden sie gerade über meine Verabschiedung, überlegte Nic, kniff die grauen Augen zusammen und lauschte den leisen Stimmen, die aus dem Büro drangen.
Wenn diese Kerle ihm zur Pensionierung eine Stiluhr schenkten, würde er sie umbringen. Eine schicke Armbanduhr wäre ja noch okay; noch besser würde es Nic allerdings gefallen, wenn Joe Lucchesi seine Andeutungen aufgeschnappt und weitererzählt hätte: Old Nic hatte vor, seine Memoiren zu schreiben, und zwar mit einem teuren Kugelschreiber aus Silber.
Als Nic nun seine knöcherne Schulter gegen die Tür drückte, verrutschte die Dienstmütze auf seinem schmalen Kopf. Er hörte, wie Crane die Detectives instruierte.
"... haben soeben erfahren, dass der Täter in Richtung Bowne Park in Queens fährt, haben aber noch keine Informationen über die Identität des Mannes. Unsere Befragungen in der Gegend haben nichts ergeben, und am Tatort wurde nichts Aufschlussreiches gefunden. Der Kerl ist aus dem Wagen gesprungen, hat sich das Mädchen geschnappt und ist davongerast. Wir wissen nicht einmal, was für einen Wagen er gefahren hat. Der Vater des Mädchens hielt sich in der Eingangshalle seines Hauses auf, als es passierte, und hat nur noch das Kreischen der Reifen gehört. Auch die Untersuchung des Pakets, das der Bursche am nächsten Tag abgeliefert hat, hat nichts ergeben. Die Jungs im Labor haben bloß ein paar Fasern von der Kassette gefunden. Keine Fingerabdrücke, kein nichts."
Old Nic öffnete die Tür und steckte den Kopf ins Zimmer. "Wo wurde das Mädchen entführt?"
"An der Ecke Zweiundsiebzigste und Central Park West", sagte Crane.
"Wenn der Kerl jetzt zum Bowne Park unterwegs ist", sagte Nic, "dürfte ihm die Gegend vertraut sein. Ich war früher im siebzehnten Distrikt. An der Ecke Zweiundvierzigste und Zweite ist eine Radarfalle. Falls der Hurensohn eine rote Ampel überfahren hat, haben wir vielleicht ein Foto von ihm. Ich würde es überprüfen lassen."
"Vergesst die Stiluhr, Jungs", sagte Crane grinsend. "Ein guter Tipp, Nic." Old Nic hob eine Hand und schlurfte davon.
"Der alte Knabe ist unbezahlbar", sagte Crane, bevor er bei der Verkehrspolizei anrief.
Dreißig Minuten später hatte er fünf Treffer, drei mit Vorstrafen, davon eine wegen versuchter Entführung.
Joe Lucchesi spürte die angenehme Linderung im Kiefer, als die Wirkung der Medikamente einsetzte. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. In seinen Ohren knackte es. Er atmete durch die Nase ein und langsam durch den Mund wieder aus. Vor sechs Jahren hatte diese Sache angefangen. Seitdem wurde es immer schlimmer. Er bekam Kopfschmerzen, Ohrensausen und dermaßen starke Schmerzen im Kiefer, dass er an manchen Tagen weder essen noch sprechen konnte. Und Fremde reagierten nicht gerade begeistert auf einen stummen Cop.
Hayley dachte an Die Schöne und das Biest. Alle hielten das Biest für böse, dabei war es richtig nett. Es gab der Schönen Suppe, und es spielte mit ihr im Schnee. Vielleicht war auch der Mann gar nicht so böse. Vielleicht stellte sich ja heraus, dass er so nett war wie das Biest.
Der Wagen blieb stehen. Hayley war kalt.
Plötzlich hörte sie ihre Mama schreien.
"Hayley! Hayley!" Dann: "Wo ist meine Tochter? Sie haben Ihr Geld bekommen. Geben Sie mir meine Tochter zurück, Sie Scheißkerl!"
Mama hörte sich schrecklich wütend an. Hayley hatte sie noch nie so schreien oder so böse Worte sagen hören. Sie schlug gegen das Fenster. Plötzlich fuhr der Wagen weiter, diesmal sehr schnell, und Sekunden später konnte Hayley ihre Mutter nicht mehr hören.
Donald Riggs riss den Rucksack auf und strich mit der rechten Hand über die sorgfältig gebündelten Banknoten.
Joe ergriff das Funkgerät, um das Kennzeichen des Chevy Impala durchzugeben, der sich von Elise Gray entfernte. "Morddezernat Nord an Zentrale." Er wartete auf die Bestätigung, ehe er die Nummer durchgab. "Adam David Larry, vier-acht-fünf-sechs. Ein Chevy Impala, 84er oder 85er Baujahr."
Joe und Danny waren über Citywide One, einen Funkkanal, mit den FBI-Leuten Maller und Holmes sowie mit den Detectives des 109. Distrikts verbunden. Joe sprach schnell und deutlich. "Der Kerl hat das Geld, hat aber nicht gesagt, wo er das Mädchen freilässt. Wir müssen uns gedulden. Schließlich wissen wir nicht, wo er die Kleine versteckt hält. Alle sollen sich bereithalten."
Danny sah ihn an und gab seinen üblichen Kommentar: "Und seine Stimme war wiederhergestellt, und die Freude war groß."
Nachdem Donald Riggs die Neunundzwanzigste Avenue etwa fünfzig Meter weit gefahren war, stoppte er, drehte sich um und hob die schmuddelige Decke von dem Mädchen.
"Hau ab. Na los!"
Hayley zog sich am Sitz hoch. "Danke", sagte sie leise. "Ich wusste, dass Sie ein netter Mann sind."
Sie öffnete die Tür, stieg aus und schaute sich um, bis sie ihre Mutter sah. Dann rannte sie zu ihr, so schnell ihre kurzen Beine sie trugen.
Jetzt saß Elise vor ihrem Haus, am Steuer des BMW ihres Mannes, und wartete darauf, dass dieser Scheißkerl sie auf dem Handy anrief, das er mitsamt den Lösegeldforderungen zurückgelassen hatte. Doch es war ihr Mann Gordon, an den Elise denken musste. Die Versicherungsgesellschaft hatte dem Ehepaar geraten, den Tagesablauf zu ändern. Mein Gott, Gordon hatte ja keine Ahnung, was es hieß, Abwechslung in die alltägliche Routine zu bringen. Dieser Mann kochte sich Kaffee, machte sich einen Toast und legte sich dann einen Apfel, eine Banane und einen Pfirsichjoghurt fürs Frühstück zurecht - jeden Morgen in derselben Reihenfolge. Jeden Morgen.
Dein dummer Mann, dachte Elise. Dein dummer, dummer Mann und seine dummen Rituale. Kein Wunder, dass ihm draußen vor dem Haus jemand aufgelauert hatte. Natürlich bist du schließlich aufgetaucht, weil du jeden Tag zur selben Zeit auftauchst, um Hayley von der Schule abzuholen. Keine Umwege, keine Stopps, um irgendwo Süßigkeiten zu kaufen, jeden Tag pünktlich auf die Minute.
Verzweifelt schlug sie die Stirn gegen das Lenkrad, als plötzlich das Handy auf dem Beifahrersitz klingelte. Als Elise die Taste suchte, um die Verbindung herzustellen, wurde ihr klar, dass das Handy die Melodie der Sesamstraße spielte.
Dieser kranke Scheißkerl hatte tatsächlich die Melodie der Sesamstraße aufgespielt.
"Fahr los, Miststück", sagte er bedächtig.
"Und wohin?"
"Dahin, wo du deine Tochter zurückbekommst, wenn du dich anständig benommen hast." Der Mann unterbrach die Verbindung.
Elise Gray ließ den Motor an und fädelte den BMW in den Verkehr ein. Ihr Herz klopfte laut. Das Kabel des Abhörgeräts scheuerte an ihrem verschwitzten Rücken. Indem sie die Polizei eingeschaltet hatte, würde sie dieser Sache ein anderes Ende bereiten, als dieser Hurensohn erwartete. Elise wusste nur nicht, ob es das Ende war, das sie sich erhoffte.
Detective Joe Lucchesi saß auf dem Fahrersitz des Streifenwagens und beobachtete. Zum wiederholten Mal fragte er sich, ob Elise Gray die Nerven hatte, die Anspannung, dass sie verkabelt war, bis zum Ende durchzustehen. Zumal niemand sagen konnte, wohin der Kidnapper sie bestellen und wie Elise reagieren würde, wenn sie es nicht bloß am Handy, sondern leibhaftig mit dem Kerl zu tun bekam.
Auf dem Beifahrersitz saß Detective Danny Markey, mit dem Joe seit fünf Jahren als Partner zusammenarbeitete. Alles an Danny war blass - seine Haut, seine Sommersprossen, sogar seine blauen Augen.
"Gehst du hin, wenn Old Nic nächsten Monat seinen Ausstand gibt?", fragte Danny. Victor "Nic" Nicotero hatte sein Leben lang bei der Verkehrspolizei gearbeitet und ging in einem Monat in den Ruhestand.
Joe schüttelte den Kopf und atmete tief ein, um den Schmerz zu bekämpfen, der in seinen Schläfen hämmerte. "Ach ja, das hatte ich ganz vergessen", sagte Danny. "An dem Tag sind deine Schwiegereltern aus Paris da, nicht wahr?" Er lachte. "Ein sechsstündiges Essen mit Leuten, die du nicht verstehst."
Joe erwiderte nichts. Sein Blick ruhte auf Elise Grays Wagen, der sich jetzt in Bewegung setzte. Joe kämpfte gegen den Schmerz an, der in seinen Schläfen hämmerte, griff in die Ablage an der Fahrertür und nahm das Aspirin sowie die Pillen mit der abschwellenden Wirkung heraus. Er schluckte jeweils zwei Tabletten mit dem blauen Energy-Drink herunter, der in der Sonne lauwarm geworden war. Dann ließ er den Motor an und scherte hinter Elise Grays BMW aus.
Drei Fahrzeuge hinter ihnen folgte ein marineblauer Crown Vic mit den FBI-Agenten Maller und Holmes.
Elise fuhr ziellos durch die Stadt. Auf der Suche nach Hayley ließ sie den Blick über die Bürgersteige schweifen, als würde ihre Tochter an irgendeiner Ecke stehen und darauf warten, in den Wagen springen zu können.
Wieder erklang die Melodie aus der Sesamstraße. Elise drückte sich das Handy ans Ohr.
"Ja?"
"Wo bist du jetzt, Mutti?" Die ruhige Stimme des Mannes jagte Elise einen kalten Schauer über den Rücken.
"Ecke Zweite Avenue und Dreiundsechzigste."
"Dann fährst du jetzt Richtung Süden, biegst links auf die Neunundfünfzigste ab und fährst über die Brücke."
"Links auf die Neunundfünfzigste und über die Brücke", sagte Elise. "Ist gut."
"Braves Mädchen." Der Mann unterbrach die Verbindung.
Elises BMW, gefolgt von den zwei Polizeiwagen, fuhr über die Brücke zum Northern Boulevard East - das Schicksal eines jeden, der Donald Riggs in die Hände fiel.
Er rief Elise ein letztes Mal an. "Bieg links auf den Francis Lewis Boulevard ein", sagte er, "dann auf die Neunundzwanzigste. Ich sehe dich dann schon. Und immer schön allein bleiben, kapiert?"
Elise bestätigte.
Joe und Danny, die mitgehört hatten, schauten sich an.
"Bowne Park", sagte Joe und rief übers Handy den Chef der Sonderkommission an, Lieutenant Crane. "Sieht so aus, als würde er das Mädchen im Bowne Park absetzen. Kannst du ein paar Kollegen aus dem hundertneunten Distrikt hinschicken?"
Donald Riggs fuhr zügig; sein Blick glitt über die Straßen und die Menschen, während seine linke Hand über die rauen Narben auf seiner Wange strich, die mittlerweile verblasst waren und sich nur noch als helle Flecken von der gebräunten Haut abhoben. Die dunklen Augen weit aufgerissen, betrachtete er sich im Innenspiegel und strich mit den Fingern über die Rillen, die der breit gezinkte Kamm in sein mit Gel und Spray gestyltes Haar gezogen hatte. Im Nacken hatte er das Haar, das dicht über dem Hemdkragen endete, zur Mitte hin frisiert. Außerdem hatte er Aftershave aufgetragen und mit Zimtmundwasser gegurgelt.
Riggs nickte zufrieden und drehte sich zu dem Mädchen um, das hinten im Wagen unter einer stinkenden Decke auf dem Boden lag.
Es war 16.30 Uhr. In der Wache des zwanzigsten Distrikts, die Lieutenant Terry Crane leitete, saßen fünf Detectives, als Old Nic zur Tür schlurfte und sein ergrautes Haar glatt strich. Vielleicht reden sie gerade über meine Verabschiedung, überlegte Nic, kniff die grauen Augen zusammen und lauschte den leisen Stimmen, die aus dem Büro drangen.
Wenn diese Kerle ihm zur Pensionierung eine Stiluhr schenkten, würde er sie umbringen. Eine schicke Armbanduhr wäre ja noch okay; noch besser würde es Nic allerdings gefallen, wenn Joe Lucchesi seine Andeutungen aufgeschnappt und weitererzählt hätte: Old Nic hatte vor, seine Memoiren zu schreiben, und zwar mit einem teuren Kugelschreiber aus Silber.
Als Nic nun seine knöcherne Schulter gegen die Tür drückte, verrutschte die Dienstmütze auf seinem schmalen Kopf. Er hörte, wie Crane die Detectives instruierte.
"... haben soeben erfahren, dass der Täter in Richtung Bowne Park in Queens fährt, haben aber noch keine Informationen über die Identität des Mannes. Unsere Befragungen in der Gegend haben nichts ergeben, und am Tatort wurde nichts Aufschlussreiches gefunden. Der Kerl ist aus dem Wagen gesprungen, hat sich das Mädchen geschnappt und ist davongerast. Wir wissen nicht einmal, was für einen Wagen er gefahren hat. Der Vater des Mädchens hielt sich in der Eingangshalle seines Hauses auf, als es passierte, und hat nur noch das Kreischen der Reifen gehört. Auch die Untersuchung des Pakets, das der Bursche am nächsten Tag abgeliefert hat, hat nichts ergeben. Die Jungs im Labor haben bloß ein paar Fasern von der Kassette gefunden. Keine Fingerabdrücke, kein nichts."
Old Nic öffnete die Tür und steckte den Kopf ins Zimmer. "Wo wurde das Mädchen entführt?"
"An der Ecke Zweiundsiebzigste und Central Park West", sagte Crane.
"Wenn der Kerl jetzt zum Bowne Park unterwegs ist", sagte Nic, "dürfte ihm die Gegend vertraut sein. Ich war früher im siebzehnten Distrikt. An der Ecke Zweiundvierzigste und Zweite ist eine Radarfalle. Falls der Hurensohn eine rote Ampel überfahren hat, haben wir vielleicht ein Foto von ihm. Ich würde es überprüfen lassen."
"Vergesst die Stiluhr, Jungs", sagte Crane grinsend. "Ein guter Tipp, Nic." Old Nic hob eine Hand und schlurfte davon.
"Der alte Knabe ist unbezahlbar", sagte Crane, bevor er bei der Verkehrspolizei anrief.
Dreißig Minuten später hatte er fünf Treffer, drei mit Vorstrafen, davon eine wegen versuchter Entführung.
Joe Lucchesi spürte die angenehme Linderung im Kiefer, als die Wirkung der Medikamente einsetzte. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. In seinen Ohren knackte es. Er atmete durch die Nase ein und langsam durch den Mund wieder aus. Vor sechs Jahren hatte diese Sache angefangen. Seitdem wurde es immer schlimmer. Er bekam Kopfschmerzen, Ohrensausen und dermaßen starke Schmerzen im Kiefer, dass er an manchen Tagen weder essen noch sprechen konnte. Und Fremde reagierten nicht gerade begeistert auf einen stummen Cop.
Hayley dachte an Die Schöne und das Biest. Alle hielten das Biest für böse, dabei war es richtig nett. Es gab der Schönen Suppe, und es spielte mit ihr im Schnee. Vielleicht war auch der Mann gar nicht so böse. Vielleicht stellte sich ja heraus, dass er so nett war wie das Biest.
Der Wagen blieb stehen. Hayley war kalt.
Plötzlich hörte sie ihre Mama schreien.
"Hayley! Hayley!" Dann: "Wo ist meine Tochter? Sie haben Ihr Geld bekommen. Geben Sie mir meine Tochter zurück, Sie Scheißkerl!"
Mama hörte sich schrecklich wütend an. Hayley hatte sie noch nie so schreien oder so böse Worte sagen hören. Sie schlug gegen das Fenster. Plötzlich fuhr der Wagen weiter, diesmal sehr schnell, und Sekunden später konnte Hayley ihre Mutter nicht mehr hören.
Donald Riggs riss den Rucksack auf und strich mit der rechten Hand über die sorgfältig gebündelten Banknoten.
Joe ergriff das Funkgerät, um das Kennzeichen des Chevy Impala durchzugeben, der sich von Elise Gray entfernte. "Morddezernat Nord an Zentrale." Er wartete auf die Bestätigung, ehe er die Nummer durchgab. "Adam David Larry, vier-acht-fünf-sechs. Ein Chevy Impala, 84er oder 85er Baujahr."
Joe und Danny waren über Citywide One, einen Funkkanal, mit den FBI-Leuten Maller und Holmes sowie mit den Detectives des 109. Distrikts verbunden. Joe sprach schnell und deutlich. "Der Kerl hat das Geld, hat aber nicht gesagt, wo er das Mädchen freilässt. Wir müssen uns gedulden. Schließlich wissen wir nicht, wo er die Kleine versteckt hält. Alle sollen sich bereithalten."
Danny sah ihn an und gab seinen üblichen Kommentar: "Und seine Stimme war wiederhergestellt, und die Freude war groß."
Nachdem Donald Riggs die Neunundzwanzigste Avenue etwa fünfzig Meter weit gefahren war, stoppte er, drehte sich um und hob die schmuddelige Decke von dem Mädchen.
"Hau ab. Na los!"
Hayley zog sich am Sitz hoch. "Danke", sagte sie leise. "Ich wusste, dass Sie ein netter Mann sind."
Sie öffnete die Tür, stieg aus und schaute sich um, bis sie ihre Mutter sah. Dann rannte sie zu ihr, so schnell ihre kurzen Beine sie trugen.
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Alex Barclay
- 2006, 1, 381 Seiten, Maße: 18,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Karin Meddekis
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785722397
- ISBN-13: 9783785722398
Kommentar zu "Schattenturm"
0 Gebrauchte Artikel zu „Schattenturm“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Schattenturm".
Kommentar verfassen