Schauergeschichten vom Schwarzen Schiff
Ein mysteriöser Seemann füttert zwei Kinder mit Geschichten, die besser im Dunkel der Tiefe verborgen geblieben wären...
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Produktinformationen zu „Schauergeschichten vom Schwarzen Schiff “
Klappentext zu „Schauergeschichten vom Schwarzen Schiff “
Ein mysteriöser Seemann füttert zwei Kinder mit Geschichten, die besser im Dunkel der Tiefe verborgen geblieben wären...
The Old Inn steht gefährlich nah am Rand einer Klippe über dem Ozean, auf dem ein schwerer Sturm tobt. Als ein geheimnisvoller junger Mann an die Tür des unheimlichen alten Hauses klopft und bittet, sich während des Unwetters unterstellen zu dürfen, bringen die Kinder es nicht übers Herz, ihn draußen stehen zu lassen. Während draußen der Sturm immer heftiger tobt, entdeckt drinnen der Fremde, dass die Kinder eine Vorliebe für schaurige Geschichten haben - und sein Vorrat scheint unerschöpflich zu sein. Die grausigste Entdeckung machen die beiden jedoch, als der Sturm sich gelegt hat und der neue Tag anbricht ...
Lese-Probe zu „Schauergeschichten vom Schwarzen Schiff “
Schauergeschichten Vom schwarzen Schiff von Chris PriestleyDrei Tage und drei Nächte fegte ein heftiger, unerbittlicher
Sturm über die Küste. Die Wellen zerschellten
mit einer Gewalt an den alten Felsen, die nur
wenige zuvor erlebt hatten, ich zumindest hatte mit
meinen dreizehn Jahren nie etwas Vergleichbares gesehen,
und ich hatte mein ganzes Leben hier verbracht.
Der alte Gasthof, in dem ich zu Hause war, klammerte
sich hoch oben auf den Klippen wie eine Napfschnecke
bei Flut am Felsen fest. Er stand auf einem
zerklüfteten Felsvorsprung, der, seit Hunderten von
Jahren von den Gezeiten zerfressen, nur noch mit
einem dünnen Pfad mit dem Rest von Cornwall verbunden
war. Wie ein Apfelstrunk von beiden Seiten
angenagt, drohte der schmale, zu einer Brücke unterspülte
Pfad, bald vollständig abzureißen, was den
Gasthof zu einer Insel und mich und meine Familie
zu Inselbewohnern gemacht hätte.
Der Sturm war unbeschreiblich. Wie ein wildes,
gieriges Tier kam er ohne jede Vorwarnung über den
Atlantik gefegt. Entlang der ganzen Küste waren Fischer
in seine Fänge geraten, und nun geisterten ihre
fahlgesichtigen Witwen auf den Quais und in den
Hafen buchten umher.
Am ersten Tag war ein Klipper, der versucht hatte,
dem Sturm davonzusegeln, gut eine Meile vor der
Küste an den Felsenriffen zerschellt und mit allen
Mann an Bord gesunken, die See war zu hoch und die
Wellen zu gewaltig, und so konnten die Rettungs boote
sie nicht erreichen.
... mehr
Am Tag darauf war zwischen den tief hängenden
dunklen Wolken und der hohen Gischt, wenn auch
nur schemenhaft erkennbar, ein seltsam antikes Schiff
in der Bucht gesichtet worden und bald wieder verschwunden,
und die Menschen an Land beteten,
es hätte den Winden widerstanden und wäre dem
Schicksal der gesunkenen Brigg entkommen. Und
auch ich hoffte es, als ich in unserem sturmgepeitschten
Garten stand und aufs Meer hinausblickte.
Trotz seiner abgeschiedenen und gefährlichen Lage
war der alte Gasthof immer ein beliebter und freundlicher
Ort gewesen, was sicher auch an meinem Vater
lag, der nie zu beschäftigt war, um sich die Nöte seiner
Gäste anzuhören, einen Witz zu erzählen oder seine
Gäste an seinen Weisheiten teilhaben zu lassen, die
mit dem Beruf des Gastwirts so einhergehen.
Obwohl ein Gasthof nicht der beste Ort für Kinder
sein mag, hätten Cathy und ich mit keinem Kind
in England tauschen mögen.
Die Seemänner, die zu dem Gasthof kamen, waren
wie unsere Familie. Es gab sicher auch solche, die
schlecht gelaunt und grob sein konnten. Wir fanden
aber immer jemanden, der uns bereitwillig Geschichten
von seinen Abenteuern und Reisen erzählte. Wie
gebannt saßen wir im Schankraum, bis unsere Mutter
uns hinauf in unsere Betten scheuchte, taub gegen unser
Flehen, noch ein paar Minuten bleiben zu dürfen.
Kein Kind auf der Welt hatte mehr Liebe als wir;
und die Erinnerung an das Gefühl ist wie ein gleißendes
Licht, so hell und strahlend, dass ich kaum hineinsehen
kann. Aber leider war es nicht von Dauer.
Nachdem unsere Mutter bei der Geburt unseres
kleinen Bruders gestorben war, den sie mit sich in den
Himmel nahm, versank unser Vater, der immer der
beste aller Väter und der edelmütigste aller Männer
gewesen war, mehr und mehr in einem Tal der Verzweiflung,
die er großzügig mit Brandy und Portwein
oder jedem anderen Gesöff, das er in die Finger bekam,
zu betäuben versuchte.
Er verstand keine Witze mehr, und es gab kein
Leid, das größer war als seins. Die Weisheiten, die er
so oft gestreut hatte, schienen aufgebraucht. Er war
unwirsch und schlecht gelaunt, und das selbst zu alten
Freunden, die vergeblich versuchten, ihn zu ermutigen,
doch Trost im Leben seiner Kinder zu finden.
Aber Cathy und ich waren kein Trost für ihn; weit
davon entfernt. Wir erinnerten ihn an die Liebe, die er
für immer verloren hatte. Cathy war das Abbild unserer
Mutter (in klein), und ihr Anblick schien ihn oft
zu quälen. Doch wie sehr er uns auch missachtete und
zurückwies, er war immer noch unser Vater, und wir
liebten ihn von Herzen. Er war immer mein Vorbild
gewesen; und ich war in dem alleinigen Wunsch aufgewachsen,
als Mann genau so zu werden wie er.
Unsere Gäste waren hingegen weniger versöhnlich.
Nach und nach wurde der Gasthof immer leerer. Sogar
langjährige Stammgäste und Freunde der Familie,
die früher nichts dagegen hatten, den steilen Pfad zu
unserem Gasthof hinaufzustapfen, blieben jetzt im
Dorf, und Fremde, die durch den Ort kamen, zogen,
von dem ungastlichen Temperament meines Vaters
gewarnt, ohne Halt zu machen, weiter.
Seine geistige Verfassung verschlechterte sich zusehends.
Immer öfter verfiel er in unkontrollierbaren
Wutausbrüchen, bei denen Cathy und ich uns in unseren
Zimmern versteckten, bis wir glaubten, es sei
sicher, herauszukommen, und unseren armen Vater
betrunken und schluchzend vor dem Kamin vorfanden.
Welches Band uns auch mit ihm verbunden hatte,
unser Vater schien jeden Tag mehr von uns fortzudriften,
er starrte an uns vorbei, wollte oder konnte
unseren Blicken nicht begegnen, stieß uns von sich
und sehnte sich nach einer Ruhe, die für ihn auf immer
verloren schien und somit auch für uns.
Der Sturm schien einen besonders schlechten Einfluss
auf ihn zu haben. Als hätten drei Tage tobender
Winde den Geist meines Vaters vollkommen zerrüttet,
wirkten seine Gedanken zerrissen und wirr. Gleichzeitig
verlieh ihm das stürmische Wetter eine merkwürdige
Energie, er war noch reizbarer als zuvor, und
seine Reaktionen wurden immer heftiger.
Ich beobachtete ihn vom Fenster in meinem Schlafzimmer
aus, wie er im Blumengarten stand, den meine
Mutter so liebevoll gepflegt hatte und der jetzt mit
Disteln und Unkraut übersät und vom Sturm fast platt
gedrückt war. Er lehnte sich gegen den Wind und riss
wie ein Verrückter blaue Blumen aus dem Beet, bis er
einen traurigen Strauß beisammenhatte, und ich erschrak,
als ich sah, dass er hemmungslos weinte. Es
tat mir im Herzen weh, ihn so zu sehen.
Dann, am dritten Abend des Sturms, wurden Cathy
und ich mit einem Mal furchtbar krank. Zuerst traf es
Cathy, doch nur etwa eine Stunde vor mir. Die Krankheit
kam mit erschreckender Plötzlichkeit, zuerst war
da diese merkwürdige Taubheit in Gesicht und Hals,
gefolgt von furchtbarer Übelkeit mit heftigem und
andauerndem Erbrechen. Wir beide waren sicher, dass
wir sterben mussten, und riefen wie kleine Kinder um
Hilfe, Rufe, bei denen unsere Mutter sofort die Treppen
heraufgerannt wäre.
Unsere Not schien unseren Vater endlich zur Besinnung
zu bringen. Er war wie ausgewechselt. Er
tröstete uns so liebevoll, wie es einem Vater nur möglich
war, und sagte, dass alles gut würde: Er wolle den
Doktor holen gehen, wir sollten nur im Haus bleiben
und unter keinen Umständen nach draußen gehen
oder jemanden hereinlassen. Ich hatte ihn noch nie so
verstört gesehen. Er schien halb wahnsinnig vor Sorge,
und wir liebten ihn dafür.
Dann ging er aus dem Haus und versicherte uns,
schneller zurück zu sein, als wir es für möglich hielten.
Unser Vater hatte Cathy und mich in sein eigenes
Bett gesteckt, und dort lagen wir nebeneinander im
Dunkeln. Ich konnte Cathys Atem hören - der wie
der meine ungeheuer schnell ging, sich mit der Zeit
aber immer mehr beruhigte. Dann schlief ich endlich
ein.
Ich kann nicht sagen, wie lange ich geschlafen habe.
Der Wind um das Haus fauchte wie ein Drache, und
wie zu erwarten, hatte ich sehr unruhig geschlafen,
denn ich erwachte keuchend wie ein Seemann, der aus
dem Sog der Tiefe an die Wasseroberfläche auftaucht,
während unter ihm sein Schiff im schwarzen Ozean
versinkt, und schnappte im Dunkeln nach Luft. Doch
waren zu meiner großen Erleichterung zumindest die
Schmerzen verschwunden.
»Cathy«, flüsterte ich. »Bist du wach?«
»Ja«, sagte sie nach einem Moment. »Ich fühle
mich aber komisch.«
Ich wusste, was sie meinte. Die Krankheit war
einem seltsamen Schwindel gewichen. Ich sagte, dass
wir vielleicht aufstehen und unten am Kaminfeuer auf
Vater warten sollten, und Cathy stimmte zu.
Wir zogen uns an und gingen hinunter in den
Schankraum, der bis vor kurzem noch mit Stimmengewirr,
dem Klirren von Gläsern und dem Klappern
von Zinntellern erfüllt gewesen wäre, jetzt aber vollkommen
leer war. Die nervösen Schatten der Stühle,
die im Licht des Feuers über die Wände flackerten,
waren die einzige Bewegung im Raum.
Ich fragte Cathy, ob ich ihr etwas vorlesen sollte,
und sie sagte ja, also machten wir es uns wie so oft vor
dem Kaminfeuer bequem. Ich wollte ihr ein einfaches
Kindermärchen vorlesen, etwas Leichtes zur Unterhaltung,
um sie während Vaters Abwesenheit ein wenig
abzulenken. Aber ich hätte es besser wissen können.
Seit ich denken kann, hatten Cathy und ich einen
unstillbaren Hunger nach Geschichten der makabren
Art, vor allem nach Geschichten, die sich auf sturmgepeitschten
Meeren oder an fremden und einsamen
Küsten abspielten. Es war eine Vorliebe, die sicher von
den vielen Seemannsgeschichten unserer Gäste herrührte,
Geschichten, die selten auf unser zartes Alter
Rücksicht nahmen und unsere Mutter mit Sicherheit
veranlasst hätten, uns noch früher zu Bett zu schicken,
hätte sie davon gewusst.
Diese Geschichten, so schauerlich sie auch sein
mochten, waren uns in ihrer Vertrautheit ebenso ein
Trost wie vielleicht anderen Kindern ein Kinderreim,
und so wendeten wir uns diesen Geschichten zu, um
uns von unserem gegenwärtigen Kummer abzulenken.
Sie versetzten uns wieder in die glückliche Zeit,
als im Gasthof noch alles gut war, eine Zeit, als Tod
und Kummer sich nur in Geschichten oder im Leben
der anderen abspielten.
Der Wind heulte so laut um das Haus und verfing
sich mit solch klagevollem Stöhnen im Kamin, dass
ich die Stimme über die Maßen heben musste, damit
Cathy mich auch verstand. Sie aber beschwerte sich
nicht, sondern saß einfach nur gebannt neben mir und
hing an meinen Lippen.
»Es folgten Minuten der blutigsten Barbarei«, las
ich. »Die gefesselten Seemänner wurden zur Leitplanke
geschleift. Dort wartete der Koch mit einer Axt in den
Händen und schlug jedem Opfer über den Schädel,
während die anderen Meuterer sie über die Schiffsreling
beförderten ...«
Der Sturm hatte die Stalltür aufgerissen, die nun
seit gut einer Stunde immerzu auf- und zuschlug, und
so dauerte es eine Weile, bis wir bemerkten, dass das
Klopfen, das wir hörten, nicht von der Stalltür kam,
sondern von der Haustür.
Ich rannte, um aufzumachen, da ich glaubte, es
wäre mein Vater, der zurückgekommen war. Der Eingang
zum Gasthaus lag am Ende eines dunklen, mit
Steinen gefliesten Flurs mit einem runden Fenster in
der Tür aus dickem Glas mit Schlieren wie von einem
Flaschenboden. Schon an den Umrissen erkannte ich,
dass es nicht Vater war.
»He da!«, rief der Mann vor der Tür. »Wollt ihr
einen armen Seemann nicht einlassen, bis der Sturm
vorbei ist?«
»Wir haben geschlossen«, war alles, was mir einfiel,
da ich an Vaters mahnende Worte dachte, niemanden
hereinzulassen und selber im Haus zu bleiben, bis er
wiederkehrte.
»Fass dir ein Herz, Junge«, rief der Fremde, der
mein jugendliches Alter sicher an meiner nervösen
Stimme erkannt hatte, kaum hörbar im Heulen des
Sturms. »Ich will nur kurz verweilen, dann werde ich
wieder gehen. Du willst einen Mann hier draußen
doch nicht umkommen lassen, Junge?«
Bei diesen Worten hob der Sturm zu einem so wilden
Getöse an, dass es grausam schien, selbst einen
Fremden auch nur eine Minute länger vor der Tür zu
lassen. Der Wind blies so heftig und hatte einen Moment
vor der Ankunft des Mannes eine Schubkarre in
die Luft gehoben und ins Meer geschleudert. Dasselbe
konnte er auch mit einem Mann tun, das stand
außer Zweifel. Was immer Vater gesagt hatte, bevor er
das Haus verließ, ich war mir sicher, auch er hätte den
Mann eingelassen, wäre er hier gewesen.
Als ich den Riegel hob, drückte mich die Kraft der
aufschlagenden Tür fast vollständig gegen die Wand,
und das Tosen von Wind und Meer, das gegen die Felsen
brach, war ein solcher Angriff auf meine Sinne,
dass es eine Weile dauerte, bis ich die Gestalt im Türrahmen
wahrnahm. Erst als ein Blitz auftauchte, der
so hell war, dass er fast durch sie hindurchschien,
konnte ich die schwarze Silhouette erkennen.
Ich konnte keine Gesichtszüge ausmachen - er
blieb ein Schatten im Türrahmen -, doch funkelte
etwas in seinem Gesicht wie ein kleiner Stern.
»Ich werde dir und deiner Familie keinen Ärger
machen, darauf hast du mein Wort.«
Ein neuer Donnerschlag zerbarst über unseren
Köpfen, und guten Gewissens hätte ich in einer solchen
Nacht tatsächlich niemandem die Tür verwehren
können.
»Also gut«, sagte ich, wenn auch widerstrebend.
»Kommen Sie schon herein.«
»Du bist ein guter Junge«, sagte der Fremde mit
einem Lächeln. »Jonah Thackeray vergisst solcherlei
Gefälligkeiten nicht. Erfreut, dich kennenzulernen.«
»Ethan Matthews«, sagte ich und nahm seine
ausge streckte Hand, die sich so kalt und feucht wie
die eines Fischhändlers anfühlte. Er war vollkommen
durchnässt, Wasser tropfte aus seinen Kleidern, als
wäre er soeben aus dem Meer gestiegen.
»Kommen Sie herein«, sagte ich. »Hier draußen
holen Sie sich den Tod.«
»Ich danke dir«, sagte er und trat über die Schwelle.
Ich drückte die Schulter gegen die Tür, und nach kurzem
Kampf auf den Steinfliesen schaffte ich es, sie zu
schließen und gegen den Sturm zu verriegeln. Die relative
Stille, nachdem die Tür geschlossen war, wirkte
Wunder auf die Sinne, und unser kleines Haus schien
mir jetzt sogar noch mehr Schutz und Geborgenheit
zu geben.
Als ich mich zu dem Fremden umdrehte, war ich
sehr überrascht, da er nicht viel älter schien als ich -
siebzehn, höchstens achtzehn Jahre vielleicht. Er trug
die Uniform eines Leutnants zur See (ohne die Mütze
und vom Stil her eher altmodisch), eine schwarze Jacke
mit Messingknöpfen und eine weiße Weste mit weißem
Hemd darunter. Ein Schwert hing an seiner Hüfte.
Um den Hals trug er ein schwarzes Seidentuch,
und das Gesicht darüber war recht gut aussehend:
dunkle Augen wie die eines Seevogels in einem blassen
Gesicht, umrahmt von pechschwarzem Haar, das
ihm in glänzenden, nassen Locken um die Wangen
fiel.
»Und wer mag diese seltene Schönheit sein?«, sagte
er. Cathy wurde rot und verbarg ihr Gesicht.
»Das ist meine Schwester, Sir«, sagte ich ein wenig
steif und wenig erfreut, dass er sie in so aufdringlicher
Weise ansprach. »Ihr Name ist Catherine.«
»Aber alle nennen mich Cathy«, sagte meine
Schwester.
»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss
Cathy«, sagte der Seemann mit einer leichten Verbeugung.
»Ebenfalls sehr erfreut«, sagte Cathy mit einem,
wie ich glaubte, Knicks.
»Seid ihr denn ganz allein hier?«, fragte Thackeray
und sah sich im Raum um.
Ich spürte, wie ich die Hand zur Faust ballte, misstrauisch
gegenüber der Art seiner Befragung. Thackeray
bemerkte es und lächelte.
»Aber, aber, mein Freund«, sagte er. »Ich hab ja nur
gefragt. Ist eure Mutter denn vielleicht zugegen?«
»Unsere Mutter ist schon lange tot, Sir«, sagte
Cathy. »Ethan und mir ging es furchtbar schlecht,
und Vater ist losgegangen, um den Arzt zu holen.«
»Cathy!«, zischte ich, verärgert, dass sie so vertraulich
mit einem Fremden sprach.
»Na und?«, gab sie zurück. »Vater hat uns auch gesagt,
wir sollen niemanden ins Haus lassen, und was
hast du gemacht?«
Dagegen konnte ich nicht viel sagen. Ich spürte
nur, wie meine Wangen glühten. Der Wind rüttelte an
der Tür, fauchend wie ein wildes Tier, das sich Eintritt
verschaffen will. Unser Gast sah uns mit einem
seltsamen Ausdruck an.
»Es ist eine stürmische Nacht dort draußen«, sagte
Thackeray. »Ist euer Vater schon lange fort?«
»Ja«, sagte Cathy. »Er ist schon schrecklich lange
fort. Stimmt doch, Ethan?«
Wieder sah ich Cathy wütend an. Dass sie auch
immer mehr sagen musste, als absolut nötig war.
»Er wird augenblicklich zurück sein, Sir«, sagte
ich. »Seien Sie versichert. Wir erwarten ihn jeden Moment
zurück.«
»Wirklich?«, sagte er in einem Ton, der mir nicht
gefiel.
»Wirklich«, antwortete ich.
»Ich bin froh, das zu hören, junger Mann«, sagte
Thackeray. »In der Zwischenzeit könnte ich vielleicht
einen Schluck Rum bekommen und mich zu euch setzen?
«
Er nahm eine Geldbörse aus der Tasche, schüttelte
ein paar Geldstücke in die Hand und ließ sie laut auf
die Theke fallen.
»Ich bin mir sicher, Vater würde nicht wollen, dass
wir Sie hinausschicken, bevor sich der Sturm gelegt
hat, Sir«, sagte ich und blickte auf die Münzen. »Sie
können sich gerne Rum einschenken. Auf der Theke
steht eine Flasche. Cathy wird Ihnen ein Glas holen.«
Wir setzten uns zu dritt an einen Tisch neben dem
Kaminfeuer, Cathy und ich auf der einen, Thackeray
auf der anderen Seite. Auf dem Tisch lag ein Stapel
Bücher, und unser Gast nahm sie in die Hand und las
mit verzerrtem Lächeln die Titel laut vor.
»Die Geschichte vom außergewöhnlichen und beklagenswerten
Schiffbruch des Walfängers Essex, Die
Erzählung von Arthur Gordon Pym von Nantucket,
Unheimliche und phantastische Erzählungen - das
scheint mir tiefes Gewässer für so junges Volk, wie ihr
es seid.«
»Mögen Sie Edgar Allen Poe etwa nicht?«, fragte
Cathy.
»Ich mag ihn schon«, antwortete er. »Für meinen
Geschmack holt er nur manchmal zu weit aus.« Er
grinste. »Ich fand Das verräterische Herz sehr amüsant,
oder sagen wir, wunderbar grausig.«
Cathy lächelte über diese ungewöhnliche Wortpaarung
und erkannte in Thackeray offenbar einen
verwandten Geist. Ich war da vorsichtiger.
»Sie lesen also gerne, Mr Thackeray?«, fragte ich
und gab mich betont überrascht. Er lächelte.
»Wenn ich dazu komme«, antwortete er. »Aber wir
Seemänner erzählen uns lieber Geschichten, als sie zu
lesen. Das gehört einfach zum Leben an Bord eines
Schiffs, sogar eines Schiffs wie dem meinen.«
Er blickte einen Moment gedankenverloren ins
Feuer. Ich fragte mich, was er damit meinte.
»Sie haben uns noch nicht erzählt, was Sie in einer
solchen Nacht hierher verschlägt?«, fragte ich.
»Ich lebte früher nicht weit von hier«, sagte er.
»Aber das war vor langer Zeit ...«
Wieder schien Thackeray in seine eigene Welt abzudriften.
Und ich blickte zu Cathy und bereute bereits
meine Gutherzigkeit, den Fremden ins Haus gelassen
zu haben. Wir kannten die meisten Leute der Gegend,
und von dem Namen Thackeray hatte ich noch nie
gehört. Cathy hingegen war wie gebannt, als unser
Gast sich ihr zuwandte.
»Ich war in ein Mädchen verliebt und hätte sie gerne
geheiratet.« Er lächelte Cathy traurig an. »Aber sie heiratete
einen anderen. Ich heiratete stattdessen die See.«
Er nahm einen Schluck Rum und blickte wieder ins
Feuer. Ich sah zu Cathy und verdrehte die Augen,
und sie schlug mich auf den Arm.
»Vielleicht«, sagte er und sah uns wieder an, »- und
ich sage nur vielleicht -, vielleicht könnte ich uns die
Zeit ein wenig vertreiben, während ich mein Glas hier
trinke und das Ende des Sturms abwarte, und euch
ein paar Geschichten erzählen, die ich auf meinen
Reisen gesammelt habe. Was meint ihr dazu?«
Cathy war sofort begeistert und fand es eine wunderbare
Idee, solange es für unseren Gast nicht zu ermüdend
wäre. Ich murmelte nur etwas in der Art, wenn
es Cathy Freude machte, sollte es mir recht sein, obwohl
ich dem Fremden in Wahrheit keinen Grund geben
wollte, sich länger als nötig hier aufzuhalten.
»Ich befürchte nur«, sagte Thackeray, »die Ge-
schichten könnten für euren Geschmack etwas schockierend
sein. Ich bin die Gesellschaft von Seemännern
gewöhnt, und unsere Geschichten haben die Tendenz
- nun ja, wie soll ich sagen -, ein wenig blutrünstiger
zu sein als solche, die ihr vielleicht schon
gehört habt.«
Cathy und ich sahen einander an, und ich wusste,
dass sie ebenso fühlte wie ich.
»Ich kann Ihnen versichern, meine Schwester und
ich sind durchaus in der Lage, alles zu verkraften, was
Sie uns erzählen können. Wir sind keine kleinen Kinder
mehr. Wir sind in einem Gasthof aufgewachsen
und sehr wohl an den Umgang mit Seeleuten, wie Ihr
es seid, gewöhnt.«
Thackeray rieb sich die Hände. Sie knarrten wie
altes Leder. Er grinste, sein Goldzahn funkelte wie der
Abendstern im Halbdunkel neben dem Kaminfeuer.
»Also gut, meine jungen Zuhörer«, sagte er. »Ich
muss nur kurz überlegen ... Ah ja. Ich glaube, ich habe
eine, die ihr unterhaltsam finden werdet. Es ist gewissermaßen
eine Liebesgeschichte.«
»Eine Liebesgeschichte?«, sagte Cathy und verzog
die Mundwinkel. Sie hatte eine ausgewachsene Abneigung
gegen jede Art Liebesgeschichten. Ich lächelte,
wie schnell Thackeray das Interesse meiner Schwester
verloren zu haben schien.
»Ja«, sagte er. »Gewissermaßen ...«
© 2008 Chris Priestley (Text) David Roberts (Illustration)
Für die deutsche Ausgabe
© 2011 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin
Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg,
unter Verwendung einer Illustration von David Roberts
Gesetzt aus der Stempel Garamond von psb, Berlin
Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8270-5422-7
www.berlinverlage.de
www.onkelmontague.de
Am Tag darauf war zwischen den tief hängenden
dunklen Wolken und der hohen Gischt, wenn auch
nur schemenhaft erkennbar, ein seltsam antikes Schiff
in der Bucht gesichtet worden und bald wieder verschwunden,
und die Menschen an Land beteten,
es hätte den Winden widerstanden und wäre dem
Schicksal der gesunkenen Brigg entkommen. Und
auch ich hoffte es, als ich in unserem sturmgepeitschten
Garten stand und aufs Meer hinausblickte.
Trotz seiner abgeschiedenen und gefährlichen Lage
war der alte Gasthof immer ein beliebter und freundlicher
Ort gewesen, was sicher auch an meinem Vater
lag, der nie zu beschäftigt war, um sich die Nöte seiner
Gäste anzuhören, einen Witz zu erzählen oder seine
Gäste an seinen Weisheiten teilhaben zu lassen, die
mit dem Beruf des Gastwirts so einhergehen.
Obwohl ein Gasthof nicht der beste Ort für Kinder
sein mag, hätten Cathy und ich mit keinem Kind
in England tauschen mögen.
Die Seemänner, die zu dem Gasthof kamen, waren
wie unsere Familie. Es gab sicher auch solche, die
schlecht gelaunt und grob sein konnten. Wir fanden
aber immer jemanden, der uns bereitwillig Geschichten
von seinen Abenteuern und Reisen erzählte. Wie
gebannt saßen wir im Schankraum, bis unsere Mutter
uns hinauf in unsere Betten scheuchte, taub gegen unser
Flehen, noch ein paar Minuten bleiben zu dürfen.
Kein Kind auf der Welt hatte mehr Liebe als wir;
und die Erinnerung an das Gefühl ist wie ein gleißendes
Licht, so hell und strahlend, dass ich kaum hineinsehen
kann. Aber leider war es nicht von Dauer.
Nachdem unsere Mutter bei der Geburt unseres
kleinen Bruders gestorben war, den sie mit sich in den
Himmel nahm, versank unser Vater, der immer der
beste aller Väter und der edelmütigste aller Männer
gewesen war, mehr und mehr in einem Tal der Verzweiflung,
die er großzügig mit Brandy und Portwein
oder jedem anderen Gesöff, das er in die Finger bekam,
zu betäuben versuchte.
Er verstand keine Witze mehr, und es gab kein
Leid, das größer war als seins. Die Weisheiten, die er
so oft gestreut hatte, schienen aufgebraucht. Er war
unwirsch und schlecht gelaunt, und das selbst zu alten
Freunden, die vergeblich versuchten, ihn zu ermutigen,
doch Trost im Leben seiner Kinder zu finden.
Aber Cathy und ich waren kein Trost für ihn; weit
davon entfernt. Wir erinnerten ihn an die Liebe, die er
für immer verloren hatte. Cathy war das Abbild unserer
Mutter (in klein), und ihr Anblick schien ihn oft
zu quälen. Doch wie sehr er uns auch missachtete und
zurückwies, er war immer noch unser Vater, und wir
liebten ihn von Herzen. Er war immer mein Vorbild
gewesen; und ich war in dem alleinigen Wunsch aufgewachsen,
als Mann genau so zu werden wie er.
Unsere Gäste waren hingegen weniger versöhnlich.
Nach und nach wurde der Gasthof immer leerer. Sogar
langjährige Stammgäste und Freunde der Familie,
die früher nichts dagegen hatten, den steilen Pfad zu
unserem Gasthof hinaufzustapfen, blieben jetzt im
Dorf, und Fremde, die durch den Ort kamen, zogen,
von dem ungastlichen Temperament meines Vaters
gewarnt, ohne Halt zu machen, weiter.
Seine geistige Verfassung verschlechterte sich zusehends.
Immer öfter verfiel er in unkontrollierbaren
Wutausbrüchen, bei denen Cathy und ich uns in unseren
Zimmern versteckten, bis wir glaubten, es sei
sicher, herauszukommen, und unseren armen Vater
betrunken und schluchzend vor dem Kamin vorfanden.
Welches Band uns auch mit ihm verbunden hatte,
unser Vater schien jeden Tag mehr von uns fortzudriften,
er starrte an uns vorbei, wollte oder konnte
unseren Blicken nicht begegnen, stieß uns von sich
und sehnte sich nach einer Ruhe, die für ihn auf immer
verloren schien und somit auch für uns.
Der Sturm schien einen besonders schlechten Einfluss
auf ihn zu haben. Als hätten drei Tage tobender
Winde den Geist meines Vaters vollkommen zerrüttet,
wirkten seine Gedanken zerrissen und wirr. Gleichzeitig
verlieh ihm das stürmische Wetter eine merkwürdige
Energie, er war noch reizbarer als zuvor, und
seine Reaktionen wurden immer heftiger.
Ich beobachtete ihn vom Fenster in meinem Schlafzimmer
aus, wie er im Blumengarten stand, den meine
Mutter so liebevoll gepflegt hatte und der jetzt mit
Disteln und Unkraut übersät und vom Sturm fast platt
gedrückt war. Er lehnte sich gegen den Wind und riss
wie ein Verrückter blaue Blumen aus dem Beet, bis er
einen traurigen Strauß beisammenhatte, und ich erschrak,
als ich sah, dass er hemmungslos weinte. Es
tat mir im Herzen weh, ihn so zu sehen.
Dann, am dritten Abend des Sturms, wurden Cathy
und ich mit einem Mal furchtbar krank. Zuerst traf es
Cathy, doch nur etwa eine Stunde vor mir. Die Krankheit
kam mit erschreckender Plötzlichkeit, zuerst war
da diese merkwürdige Taubheit in Gesicht und Hals,
gefolgt von furchtbarer Übelkeit mit heftigem und
andauerndem Erbrechen. Wir beide waren sicher, dass
wir sterben mussten, und riefen wie kleine Kinder um
Hilfe, Rufe, bei denen unsere Mutter sofort die Treppen
heraufgerannt wäre.
Unsere Not schien unseren Vater endlich zur Besinnung
zu bringen. Er war wie ausgewechselt. Er
tröstete uns so liebevoll, wie es einem Vater nur möglich
war, und sagte, dass alles gut würde: Er wolle den
Doktor holen gehen, wir sollten nur im Haus bleiben
und unter keinen Umständen nach draußen gehen
oder jemanden hereinlassen. Ich hatte ihn noch nie so
verstört gesehen. Er schien halb wahnsinnig vor Sorge,
und wir liebten ihn dafür.
Dann ging er aus dem Haus und versicherte uns,
schneller zurück zu sein, als wir es für möglich hielten.
Unser Vater hatte Cathy und mich in sein eigenes
Bett gesteckt, und dort lagen wir nebeneinander im
Dunkeln. Ich konnte Cathys Atem hören - der wie
der meine ungeheuer schnell ging, sich mit der Zeit
aber immer mehr beruhigte. Dann schlief ich endlich
ein.
Ich kann nicht sagen, wie lange ich geschlafen habe.
Der Wind um das Haus fauchte wie ein Drache, und
wie zu erwarten, hatte ich sehr unruhig geschlafen,
denn ich erwachte keuchend wie ein Seemann, der aus
dem Sog der Tiefe an die Wasseroberfläche auftaucht,
während unter ihm sein Schiff im schwarzen Ozean
versinkt, und schnappte im Dunkeln nach Luft. Doch
waren zu meiner großen Erleichterung zumindest die
Schmerzen verschwunden.
»Cathy«, flüsterte ich. »Bist du wach?«
»Ja«, sagte sie nach einem Moment. »Ich fühle
mich aber komisch.«
Ich wusste, was sie meinte. Die Krankheit war
einem seltsamen Schwindel gewichen. Ich sagte, dass
wir vielleicht aufstehen und unten am Kaminfeuer auf
Vater warten sollten, und Cathy stimmte zu.
Wir zogen uns an und gingen hinunter in den
Schankraum, der bis vor kurzem noch mit Stimmengewirr,
dem Klirren von Gläsern und dem Klappern
von Zinntellern erfüllt gewesen wäre, jetzt aber vollkommen
leer war. Die nervösen Schatten der Stühle,
die im Licht des Feuers über die Wände flackerten,
waren die einzige Bewegung im Raum.
Ich fragte Cathy, ob ich ihr etwas vorlesen sollte,
und sie sagte ja, also machten wir es uns wie so oft vor
dem Kaminfeuer bequem. Ich wollte ihr ein einfaches
Kindermärchen vorlesen, etwas Leichtes zur Unterhaltung,
um sie während Vaters Abwesenheit ein wenig
abzulenken. Aber ich hätte es besser wissen können.
Seit ich denken kann, hatten Cathy und ich einen
unstillbaren Hunger nach Geschichten der makabren
Art, vor allem nach Geschichten, die sich auf sturmgepeitschten
Meeren oder an fremden und einsamen
Küsten abspielten. Es war eine Vorliebe, die sicher von
den vielen Seemannsgeschichten unserer Gäste herrührte,
Geschichten, die selten auf unser zartes Alter
Rücksicht nahmen und unsere Mutter mit Sicherheit
veranlasst hätten, uns noch früher zu Bett zu schicken,
hätte sie davon gewusst.
Diese Geschichten, so schauerlich sie auch sein
mochten, waren uns in ihrer Vertrautheit ebenso ein
Trost wie vielleicht anderen Kindern ein Kinderreim,
und so wendeten wir uns diesen Geschichten zu, um
uns von unserem gegenwärtigen Kummer abzulenken.
Sie versetzten uns wieder in die glückliche Zeit,
als im Gasthof noch alles gut war, eine Zeit, als Tod
und Kummer sich nur in Geschichten oder im Leben
der anderen abspielten.
Der Wind heulte so laut um das Haus und verfing
sich mit solch klagevollem Stöhnen im Kamin, dass
ich die Stimme über die Maßen heben musste, damit
Cathy mich auch verstand. Sie aber beschwerte sich
nicht, sondern saß einfach nur gebannt neben mir und
hing an meinen Lippen.
»Es folgten Minuten der blutigsten Barbarei«, las
ich. »Die gefesselten Seemänner wurden zur Leitplanke
geschleift. Dort wartete der Koch mit einer Axt in den
Händen und schlug jedem Opfer über den Schädel,
während die anderen Meuterer sie über die Schiffsreling
beförderten ...«
Der Sturm hatte die Stalltür aufgerissen, die nun
seit gut einer Stunde immerzu auf- und zuschlug, und
so dauerte es eine Weile, bis wir bemerkten, dass das
Klopfen, das wir hörten, nicht von der Stalltür kam,
sondern von der Haustür.
Ich rannte, um aufzumachen, da ich glaubte, es
wäre mein Vater, der zurückgekommen war. Der Eingang
zum Gasthaus lag am Ende eines dunklen, mit
Steinen gefliesten Flurs mit einem runden Fenster in
der Tür aus dickem Glas mit Schlieren wie von einem
Flaschenboden. Schon an den Umrissen erkannte ich,
dass es nicht Vater war.
»He da!«, rief der Mann vor der Tür. »Wollt ihr
einen armen Seemann nicht einlassen, bis der Sturm
vorbei ist?«
»Wir haben geschlossen«, war alles, was mir einfiel,
da ich an Vaters mahnende Worte dachte, niemanden
hereinzulassen und selber im Haus zu bleiben, bis er
wiederkehrte.
»Fass dir ein Herz, Junge«, rief der Fremde, der
mein jugendliches Alter sicher an meiner nervösen
Stimme erkannt hatte, kaum hörbar im Heulen des
Sturms. »Ich will nur kurz verweilen, dann werde ich
wieder gehen. Du willst einen Mann hier draußen
doch nicht umkommen lassen, Junge?«
Bei diesen Worten hob der Sturm zu einem so wilden
Getöse an, dass es grausam schien, selbst einen
Fremden auch nur eine Minute länger vor der Tür zu
lassen. Der Wind blies so heftig und hatte einen Moment
vor der Ankunft des Mannes eine Schubkarre in
die Luft gehoben und ins Meer geschleudert. Dasselbe
konnte er auch mit einem Mann tun, das stand
außer Zweifel. Was immer Vater gesagt hatte, bevor er
das Haus verließ, ich war mir sicher, auch er hätte den
Mann eingelassen, wäre er hier gewesen.
Als ich den Riegel hob, drückte mich die Kraft der
aufschlagenden Tür fast vollständig gegen die Wand,
und das Tosen von Wind und Meer, das gegen die Felsen
brach, war ein solcher Angriff auf meine Sinne,
dass es eine Weile dauerte, bis ich die Gestalt im Türrahmen
wahrnahm. Erst als ein Blitz auftauchte, der
so hell war, dass er fast durch sie hindurchschien,
konnte ich die schwarze Silhouette erkennen.
Ich konnte keine Gesichtszüge ausmachen - er
blieb ein Schatten im Türrahmen -, doch funkelte
etwas in seinem Gesicht wie ein kleiner Stern.
»Ich werde dir und deiner Familie keinen Ärger
machen, darauf hast du mein Wort.«
Ein neuer Donnerschlag zerbarst über unseren
Köpfen, und guten Gewissens hätte ich in einer solchen
Nacht tatsächlich niemandem die Tür verwehren
können.
»Also gut«, sagte ich, wenn auch widerstrebend.
»Kommen Sie schon herein.«
»Du bist ein guter Junge«, sagte der Fremde mit
einem Lächeln. »Jonah Thackeray vergisst solcherlei
Gefälligkeiten nicht. Erfreut, dich kennenzulernen.«
»Ethan Matthews«, sagte ich und nahm seine
ausge streckte Hand, die sich so kalt und feucht wie
die eines Fischhändlers anfühlte. Er war vollkommen
durchnässt, Wasser tropfte aus seinen Kleidern, als
wäre er soeben aus dem Meer gestiegen.
»Kommen Sie herein«, sagte ich. »Hier draußen
holen Sie sich den Tod.«
»Ich danke dir«, sagte er und trat über die Schwelle.
Ich drückte die Schulter gegen die Tür, und nach kurzem
Kampf auf den Steinfliesen schaffte ich es, sie zu
schließen und gegen den Sturm zu verriegeln. Die relative
Stille, nachdem die Tür geschlossen war, wirkte
Wunder auf die Sinne, und unser kleines Haus schien
mir jetzt sogar noch mehr Schutz und Geborgenheit
zu geben.
Als ich mich zu dem Fremden umdrehte, war ich
sehr überrascht, da er nicht viel älter schien als ich -
siebzehn, höchstens achtzehn Jahre vielleicht. Er trug
die Uniform eines Leutnants zur See (ohne die Mütze
und vom Stil her eher altmodisch), eine schwarze Jacke
mit Messingknöpfen und eine weiße Weste mit weißem
Hemd darunter. Ein Schwert hing an seiner Hüfte.
Um den Hals trug er ein schwarzes Seidentuch,
und das Gesicht darüber war recht gut aussehend:
dunkle Augen wie die eines Seevogels in einem blassen
Gesicht, umrahmt von pechschwarzem Haar, das
ihm in glänzenden, nassen Locken um die Wangen
fiel.
»Und wer mag diese seltene Schönheit sein?«, sagte
er. Cathy wurde rot und verbarg ihr Gesicht.
»Das ist meine Schwester, Sir«, sagte ich ein wenig
steif und wenig erfreut, dass er sie in so aufdringlicher
Weise ansprach. »Ihr Name ist Catherine.«
»Aber alle nennen mich Cathy«, sagte meine
Schwester.
»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss
Cathy«, sagte der Seemann mit einer leichten Verbeugung.
»Ebenfalls sehr erfreut«, sagte Cathy mit einem,
wie ich glaubte, Knicks.
»Seid ihr denn ganz allein hier?«, fragte Thackeray
und sah sich im Raum um.
Ich spürte, wie ich die Hand zur Faust ballte, misstrauisch
gegenüber der Art seiner Befragung. Thackeray
bemerkte es und lächelte.
»Aber, aber, mein Freund«, sagte er. »Ich hab ja nur
gefragt. Ist eure Mutter denn vielleicht zugegen?«
»Unsere Mutter ist schon lange tot, Sir«, sagte
Cathy. »Ethan und mir ging es furchtbar schlecht,
und Vater ist losgegangen, um den Arzt zu holen.«
»Cathy!«, zischte ich, verärgert, dass sie so vertraulich
mit einem Fremden sprach.
»Na und?«, gab sie zurück. »Vater hat uns auch gesagt,
wir sollen niemanden ins Haus lassen, und was
hast du gemacht?«
Dagegen konnte ich nicht viel sagen. Ich spürte
nur, wie meine Wangen glühten. Der Wind rüttelte an
der Tür, fauchend wie ein wildes Tier, das sich Eintritt
verschaffen will. Unser Gast sah uns mit einem
seltsamen Ausdruck an.
»Es ist eine stürmische Nacht dort draußen«, sagte
Thackeray. »Ist euer Vater schon lange fort?«
»Ja«, sagte Cathy. »Er ist schon schrecklich lange
fort. Stimmt doch, Ethan?«
Wieder sah ich Cathy wütend an. Dass sie auch
immer mehr sagen musste, als absolut nötig war.
»Er wird augenblicklich zurück sein, Sir«, sagte
ich. »Seien Sie versichert. Wir erwarten ihn jeden Moment
zurück.«
»Wirklich?«, sagte er in einem Ton, der mir nicht
gefiel.
»Wirklich«, antwortete ich.
»Ich bin froh, das zu hören, junger Mann«, sagte
Thackeray. »In der Zwischenzeit könnte ich vielleicht
einen Schluck Rum bekommen und mich zu euch setzen?
«
Er nahm eine Geldbörse aus der Tasche, schüttelte
ein paar Geldstücke in die Hand und ließ sie laut auf
die Theke fallen.
»Ich bin mir sicher, Vater würde nicht wollen, dass
wir Sie hinausschicken, bevor sich der Sturm gelegt
hat, Sir«, sagte ich und blickte auf die Münzen. »Sie
können sich gerne Rum einschenken. Auf der Theke
steht eine Flasche. Cathy wird Ihnen ein Glas holen.«
Wir setzten uns zu dritt an einen Tisch neben dem
Kaminfeuer, Cathy und ich auf der einen, Thackeray
auf der anderen Seite. Auf dem Tisch lag ein Stapel
Bücher, und unser Gast nahm sie in die Hand und las
mit verzerrtem Lächeln die Titel laut vor.
»Die Geschichte vom außergewöhnlichen und beklagenswerten
Schiffbruch des Walfängers Essex, Die
Erzählung von Arthur Gordon Pym von Nantucket,
Unheimliche und phantastische Erzählungen - das
scheint mir tiefes Gewässer für so junges Volk, wie ihr
es seid.«
»Mögen Sie Edgar Allen Poe etwa nicht?«, fragte
Cathy.
»Ich mag ihn schon«, antwortete er. »Für meinen
Geschmack holt er nur manchmal zu weit aus.« Er
grinste. »Ich fand Das verräterische Herz sehr amüsant,
oder sagen wir, wunderbar grausig.«
Cathy lächelte über diese ungewöhnliche Wortpaarung
und erkannte in Thackeray offenbar einen
verwandten Geist. Ich war da vorsichtiger.
»Sie lesen also gerne, Mr Thackeray?«, fragte ich
und gab mich betont überrascht. Er lächelte.
»Wenn ich dazu komme«, antwortete er. »Aber wir
Seemänner erzählen uns lieber Geschichten, als sie zu
lesen. Das gehört einfach zum Leben an Bord eines
Schiffs, sogar eines Schiffs wie dem meinen.«
Er blickte einen Moment gedankenverloren ins
Feuer. Ich fragte mich, was er damit meinte.
»Sie haben uns noch nicht erzählt, was Sie in einer
solchen Nacht hierher verschlägt?«, fragte ich.
»Ich lebte früher nicht weit von hier«, sagte er.
»Aber das war vor langer Zeit ...«
Wieder schien Thackeray in seine eigene Welt abzudriften.
Und ich blickte zu Cathy und bereute bereits
meine Gutherzigkeit, den Fremden ins Haus gelassen
zu haben. Wir kannten die meisten Leute der Gegend,
und von dem Namen Thackeray hatte ich noch nie
gehört. Cathy hingegen war wie gebannt, als unser
Gast sich ihr zuwandte.
»Ich war in ein Mädchen verliebt und hätte sie gerne
geheiratet.« Er lächelte Cathy traurig an. »Aber sie heiratete
einen anderen. Ich heiratete stattdessen die See.«
Er nahm einen Schluck Rum und blickte wieder ins
Feuer. Ich sah zu Cathy und verdrehte die Augen,
und sie schlug mich auf den Arm.
»Vielleicht«, sagte er und sah uns wieder an, »- und
ich sage nur vielleicht -, vielleicht könnte ich uns die
Zeit ein wenig vertreiben, während ich mein Glas hier
trinke und das Ende des Sturms abwarte, und euch
ein paar Geschichten erzählen, die ich auf meinen
Reisen gesammelt habe. Was meint ihr dazu?«
Cathy war sofort begeistert und fand es eine wunderbare
Idee, solange es für unseren Gast nicht zu ermüdend
wäre. Ich murmelte nur etwas in der Art, wenn
es Cathy Freude machte, sollte es mir recht sein, obwohl
ich dem Fremden in Wahrheit keinen Grund geben
wollte, sich länger als nötig hier aufzuhalten.
»Ich befürchte nur«, sagte Thackeray, »die Ge-
schichten könnten für euren Geschmack etwas schockierend
sein. Ich bin die Gesellschaft von Seemännern
gewöhnt, und unsere Geschichten haben die Tendenz
- nun ja, wie soll ich sagen -, ein wenig blutrünstiger
zu sein als solche, die ihr vielleicht schon
gehört habt.«
Cathy und ich sahen einander an, und ich wusste,
dass sie ebenso fühlte wie ich.
»Ich kann Ihnen versichern, meine Schwester und
ich sind durchaus in der Lage, alles zu verkraften, was
Sie uns erzählen können. Wir sind keine kleinen Kinder
mehr. Wir sind in einem Gasthof aufgewachsen
und sehr wohl an den Umgang mit Seeleuten, wie Ihr
es seid, gewöhnt.«
Thackeray rieb sich die Hände. Sie knarrten wie
altes Leder. Er grinste, sein Goldzahn funkelte wie der
Abendstern im Halbdunkel neben dem Kaminfeuer.
»Also gut, meine jungen Zuhörer«, sagte er. »Ich
muss nur kurz überlegen ... Ah ja. Ich glaube, ich habe
eine, die ihr unterhaltsam finden werdet. Es ist gewissermaßen
eine Liebesgeschichte.«
»Eine Liebesgeschichte?«, sagte Cathy und verzog
die Mundwinkel. Sie hatte eine ausgewachsene Abneigung
gegen jede Art Liebesgeschichten. Ich lächelte,
wie schnell Thackeray das Interesse meiner Schwester
verloren zu haben schien.
»Ja«, sagte er. »Gewissermaßen ...«
© 2008 Chris Priestley (Text) David Roberts (Illustration)
Für die deutsche Ausgabe
© 2011 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin
Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg,
unter Verwendung einer Illustration von David Roberts
Gesetzt aus der Stempel Garamond von psb, Berlin
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Printed in Germany
ISBN 978-3-8270-5422-7
www.berlinverlage.de
www.onkelmontague.de
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Autoren-Porträt von Chris Priestley
Chris Priestley ist Autor, Illustrator, Maler und Cartoonist. Seit er ein Teenager war, liebt er Grusel- und Geistergeschichten. Er hat mehrere Kinderbücher veröffentlicht und lebt in Cambridge.
Bibliographische Angaben
- Autor: Chris Priestley
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2011, 237 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 15,2 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Howeg, Beatrice
- Übersetzer: Beatrice Howeg
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827054222
- ISBN-13: 9783827054227
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