Schicksalstage am Frischen Haff
Die Rote Armee liegt vor Ostpreußen, Tausende fliehen. Die Frau des Unteroffiziers Thimm weigert sich. Er weiß: Das ist ihr Todesurteil. Und so setzt er sein eigenes Leben aufs Spiel und verlässt seine Truppe, um seine Familie zu retten.
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Produktinformationen zu „Schicksalstage am Frischen Haff “
Die Rote Armee liegt vor Ostpreußen, Tausende fliehen. Die Frau des Unteroffiziers Thimm weigert sich. Er weiß: Das ist ihr Todesurteil. Und so setzt er sein eigenes Leben aufs Spiel und verlässt seine Truppe, um seine Familie zu retten.
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Schicksalstage am Frischen Haff von Emmerich VondranLESEPROBE
Schlechte Nachricht, Melizkat ...
Es ist Montag - Montag, der fünfzehnte Januar. Das ist der dritte Montag des neuen Jahres - dieses denkwürdigen Neunzehnhundertfünfundvierzig.
Montag in aller Frühe. Noch liegt der neblige Rest der Nacht auf den dunkelroten Dächern der Sanitätskaserne mit ihren verschiedenen Blocks. Alle Fenster sind streng verdunkelt.
Im dritten Stockwerk des Wohnblocks sind die Schulräume der Sanitätsabteilung untergebracht. Dort haben die Neuen ihren ersten Dienst. Vorige Woche wurden sie eingekleidet. Jetzt müssen sie sich anhören, wie es zur Genfer Konvention gekommen ist und daß es noch gar nicht solange Sanitäts-Soldaten gibt. Das ist Lehrstoff für Anfänger. Die Alten, die vorige Woche zur ersten Kompanie versetzt wurden, die wissen so etwas schon lange. Sie wissen, wie Notverbände anzulegen, wie zertrümmerte Knochen an Armen und Beinen zu schienen, wie zerfetzte Schlagadern abzubinden sind. Sogar wie man bei Lungendurchschüssen Zinkleimverbände anlegen muß, haben sie dort oben im dritten Stockwerk gelernt - in Theorie natürlich. Vor der blutigen Praxis an der Front ist den meisten doch etwas bange. Sie kommen sich vor wie einer, der ins tiefe Wasser springen soll, das Schwimmen aber nur auf dem Trocknen geübt hat. Auch Ferdi Schwertfeger graut ein bißchen vor diesem Sprung ins Tiefe. Er hat das Buch von Henri Dunant gelesen: »Erinnerungen an Solferino«. Darin ging es nicht zimperlich zu. Aber heute morgen bastelt Ferdi mit seinem Beifahrer noch an dem klapprigen Auto herum, mit dem er demnächst ausrücken muß. Alle andern, denen man Autos anvertraut hat, tun das gleiche. So kommt es, daß in der Fahrzeughalle emsiger Betrieb herrscht. Und Feldwebel Randband geht von Auto zu
... mehr
Auto und berät die Leute auf seine Weise - vor allem jene, die irgendein Ersatzteil von ihm verlangen - eine Zündkerze, einen Verteilerkopf oder gar eine neue Batterie. Nur den dort in der Ecke, den Gefreiten Melizkat mit seinem VW-Kübelwagen, den läßt Randband unbehelligt, der gehört noch zur dritten Kompanie.
Melizkat liegt unter seinem Wagen und ist gerade dabei, das höllische Gequietsche zu beseitigen, das den Chef gestern während der Stadtfahrt so sehr verärgert hat.
In diesem Augenblick tritt der UvD in die Halle und ruft Melizkats Namen. Er ruft ihn zwar zu Melizkats Verdruß verkehrt - er betont immer die zweite und letzte Silbe - aber Melizkat weiß, wer gemeint ist, und kriecht unter seinem Wagen hervor. »Gefreiter Melizkat zum Chef!« sagt der UvD, der zwar nur Stabsgefreiter ist, diesen Unteroffiziersdienst aber immer sehr gern macht.
»Bitte«, sagt Melizkat ärgerlich, »das nächstemal Melizkat mit dem Ton auf der ersten und letzten Silbe. Und nun: was ist denn los? Wo brennt's?« Melizkat fragt das nicht ganz ahnungslos, denn die Hiobsbotschaften der letzten zwölf Jahre haben ihn jedesmal an einem Montag erreicht. Das hat er genau beobachtet: Im Jahr Dreiunddreißig die Nachricht, daß er im neuen Reich für den Staatsdienst nicht mehr tauge, und Neununddreißig dann die Aufforderung, sich für den Dienst im grauen Rock zu stellen. Aber nicht nur, daß ihn der Montag argwöhnisch machte. An seinem Kübelwagen war seit Tagen der Olwechsel fällig. Und den würde er durch diesen unerwarteten Abruf gewiß ein drittes Mal verschieben müssen. »Laß doch die Karre stehn und komm!« sagte der UvD. »Der Alte scheint's eilig zu haben. Also komm! Vielleicht will er dich sogar noch in Urlaub schicken. Damit du deine Heimat noch einmal siehst, bevor sie der Iwan kassiert.« »Laß deine geschmacklosen Witze!« knurrte Melizkat, sichtlich verletzt, und machte Miene, seinen schmutzigen Overall auszuziehen.
»Laß das!« wehrte der andere ab, »der Chef kann ruhig sehen, daß ich dich mitten aus deiner Arbeit geholt habe.« »Aber die Schmierhandschuhe werde ich doch wenigstens abziehen können und mir eine Zigarette anbrenn' dürfen. Dir eine anzubieten, ist ja verboten, solange du im Dienst bist.«
»Streng verboten sogar«, sagte der mit dem Stahlhelm. »Aber auch dein Rauchen, solange du dich hier in den heil'gen Hallen aufhältst«, setzte er hinzu und verwies auf die vielen Schilder. Dann wendete er sich kurzentschlossen und ging davon, als könnte er sein Opfer so am schnellsten auf den Weg bringen. Mißmutig folgte Melizkat dem stahlbehelmten Kameraden. Seine Zigarette schmeckte ihm nicht. Vor dem Eingang zum Wohnblock warf er die Hälfte davon auf den feuchten grauen Rasen. Nachdenklich sah er hinter dem glimmenden Ding her.
Auf dem Treppenpodest blieb der UvD ganz unerwartet stehen, drehte sich zu ihm um und zischelte hinter der vorgehaltenen Hand: »Vorhin habe ich dir einen dicken Brief auf dein Bett gelegt. Wenn du ihn abholst, darfst du mir die zugedachte Zigarette unter mein Kopfkissen stecken.«
»Schlechte Nachricht, Melizkat!« empfing ihn Stabsarzt Doben. »Stehen Sie bequem, Melizkat! Nein, setzen Sie sich besser dort auf den Stuhl - und hören Sie, was ich Ihnen zu eröffnen habe! Es sind Ereignisse eingetreten, Melizkat, die es nicht mehr zulassen, Sie noch länger hier in der Ersatzabteilung zu behalten. Ich muß Sie abstellen, Melizkat, und zwar noch heute und ohne den üblichen Abstellurlaub. Strenge Urlaubssperre seit gestern. Sie werden sich denken können - warum. Sie müssen den Opel-Blitz-Sanka übernehmen. Sein bisheriger Fahrer ist diese Nacht mit Appendizitis ins Lazarett gebracht worden. Und ein Ersatz für ihn ist im ganzen Bau nicht aufzutreiben gewesen, so daß sich sogar der Kommandeur der Sache annehmen und letzten Endes auf Sie, Melizkat, verweisen mußte.« Der Chef hat mal wieder seinen redseligen Tag, dachte Melizkat und fand sich schnell damit ab, daß er den notwendigen CSlwechsel am Kübelwagen da draußen in der Fahrzeughalle nun seinem Nachfolger werde überlassen müssen. Aber mit seiner plötzlichen Abstellung ohne den ihm zustehenden Urlaub vermochte er sich nicht abzufinden. Er sollte nun ausrücken, ohne vorher Frau und Kinder noch einmal zu sehen? Und vor vier Tagen erst hatte er nach Hause geschrieben, daß er auch weiterhin in der Garnison bleiben werde. Das alles brachte ihn jetzt auf gegen den Mann, der ihm schmackhaft gemacht hatte, ein nahezu komplettes Fotolabor hier in der Kaserne einzurichten. Und jetzt sollte er das womöglich von einer Stunde zur andern abbauen und mit der Bahn nach Hause schicken? Weil Melizkat wußte, daß er seinem Chef gegenüber kein Blatt vor den Mund zu nehmen brauchte, begann er, seinem Herzen unverblümt Luft zu machen.
»Sie wissen, Herr Stabsarzt, daß ich nicht auf mein Betreiben so lange bei der Ersatztruppe geblieben bin. Sie wissen auch, Herr Stabsarzt, daß ich meine Fotogeräte auf dem Wege einer Dienstreise von Ostpreußen hierher über den Rhein gebracht habe. Bis vor wenigen Minuten habe ich damit gerechnet, daß ich meine Sachen auf dieselbe Weise werde wieder nach Hause bringen können, wenn das einmal notwendig werden sollte. Wie sehr mich nun das allzukurz anberaumte Abstellen überraschen muß, werden Sie sich denken können.« »Aber Melizkat«, entgegnete der Stabsarzt und zog wie immer, wenn er eindringlich sprach, die linke Augenbraue beträchtlich in die Höhe. »Wie stellen Sie sich das denn vor?: Eine Dienstreise hier aus dem Rheinlande, tausend Kilometer bis nach Ostpreußen, durch dutzende von zerbombten Bahnhöfen. Und wer kann wissen, ob der Marschbefehl noch lange auf sich warten läßt. Womöglich kommt er schon Ende dieser oder Anfang nächster Woche. Ja, wenn wir von der russischen Offensive verschont geblieben wären ... Nein, Melizkat, das schlagen Sie sich mal aus dem Kopf! Und was glauben Sie - was an den Fahrzeugen noch alles zu tun ist? Nichts ist an den Dingern in Ordnung. Können Sie denn Ihre Frau nicht auf eine Woche telegrafisch hierher bitten? Auf das Fahrgeld wird es Ihnen doch gewiß nicht ankommen, soweit ich Ihre Verhältnisse kenne. « »Herr Stabsarzt, meine Frau hat Zwillinge zu versorgen, zwei vielzufrüh geborene zarte Mädchen. Keinesfalls trennt sie sich von den hilflosen Geschöpfen - und wohl auch nicht von dem jungen, der ja auch erst sieben ist. Überhaupt - die Frau wird Augen machen, wenn sie erfährt, daß ich ausrücken muß. Denn im letzten Brief habe ich ihr erst geschrieben, daß ich weiterhin hier in der Garnison bleibe.« »An Ihre kleinen Kinder habe ich nicht gedacht. Aber etwas anderes fällt mir da ein: Es ist doch nicht ausgeschlossen, daß Ihre neue Einheit nach dem Osten geworfen wird. Denken wir doch an die russische Offensive! Vielleicht fahren Sie tatsächlich schon in einigen
Tagen Richtung Heimat. Wenn's so kommt, dann will ich gern Ihretwegen mit Oberarzt Feldmann sprechen. Von dort oben aus könnte er Sie doch sehr leicht auf eine kurze Dienstreise schicken.«
»Herr Stabsarzt«, sagte Melizkat verbittert, »wäre diese Möglichkeit eine Brücke, ich möchte es nicht wagen, über sie hinwegzugehn.«
Und dabei sah er sowjetische Generalstäbler mit Zeigefingern auf einer großen Ostpreußenkarte umherfahren. Die Gegend um das Frische Haff schienen sie besonders ins Auge zu fassen.
»Jetzt packen Sie erst mal Ihre Siebensachen!« Mit diesen Worten zerriß Stabsarzt Doben Melizkats Vision. »Am besten alles in stabile Kisten«, sagte Doben. »Der Furier - ich sage ihm Bescheid - der soll Ihnen geben, was Sie dafür brauchen. Also nun erst mal packen! Und sehen Sie zu, daß noch heute alles aus der Kaserne kommt!« »Und wohin nun so schnell mit dem Kram«, sagte Melizkat halblaut. Er fragte mehr sich selbst als den Vorgesetzten. Die Kisten mit den wertvollen Geräten nach Hause zu schicken, will ihm plötzlich nicht ratsam erscheinen. »Stellen Sie das Zeug doch bei irgendeinem Ihrer Bekannten unter. Wenn ich nicht falsch unterrichtet bin, haben Sie während Ihrer Zeit hier eine ganze Menge Kontakte angeknüpft - mehr womöglich, als Ihrem Gespons daheim am Frischen Haff lieb sein dürfte.«
Doben sah, wie sein Gefreiter den Brocken, den er ihm hingeworfen hatte, hinunterwürgte. Er lenkte begütigend ein: »Glauben Sie mir, Melizkat, ich ahne, was in Ihnen jetzt vorgeht. Keiner wird so mit Ihnen empfinden können wie einer, in dessen Adern auch ostpreußisches Blut fließt.«
Melizkat horchte auf. Doben merkte das und fügte
hinzu: »Mein Großvater - der eine - stammt aus Rastenburg. Und mein eigener Vater liegt gar nicht so weit von dort begraben ...Aber jetzt packen Sie erst mal! Ihr zukünftiger Beifahrer wird der Gefreite Schamalt. Der soll Ihnen helfen, wenn Sie Hilfe brauchen. Dem Namen nach ist der ja auch Ostpreuße. Also ran! In einer Stunde müssen wir fahren. Haben Sie das verdammte Gequietsche am Wagen schon beseitigt?« Melizkat erhob sich, bejahte militärisch und verschwand. Dann holte er sich den Brief, den ihm der UvD aufs Bett gelegt hatte. Von weitem erkannte er ihn schon als einen von seiner Frau. Sie bevorzugte das längliche Format. Und auch die großzügigen Schriftzüge waren unverkennbar die ihren. Es war ein schwerer und gewiß auch ein langer Brief, den er da von seinem Bett aufnahm. Er schob ihn in die linke Rocktasche. Denn lesen wollte er ihn in aller Ruhe. Dem Bringer steckte er dafür zwei Zigaretten unters Kopfkissen.
Dann ging er in den Keller- zuerst zum Furier. Der wußte schon Bescheid und hatte ihm drei Kisten bereitgestellt. Der Chef macht schnelle Arbeit, dachte Melizkat. Ihm ist das Kasernen-Fotolabor plötzlich ein Dorn im Auge. Der jüngste Wehrmachtsbericht spukt Melizkat im Kopf herum. Diese schreckliche Nachricht! Nur sie ist schuld, daß ich so plötzlich ausrücken muß, denkt Melizkat, während er sein Vergrößerungsgerät auseinanderbaut. Und das wagt sogar die Oberste Heeresleitung unumwunden zuzugeben: Schirwindt und Pillkallen in sowjetischer Hand!
Melizkat packt ein. Er packt wie in einem bösen Traum, als seien die Russen schon im Anmarsch auf den Rhein. Was mag im Briefe stehen, den er in seiner Rocktasche trägt.
Copyright der Originalausgabe © 2005 by Verlagshaus Würzburg GmbH & CO.KG, Würzburg
Melizkat liegt unter seinem Wagen und ist gerade dabei, das höllische Gequietsche zu beseitigen, das den Chef gestern während der Stadtfahrt so sehr verärgert hat.
In diesem Augenblick tritt der UvD in die Halle und ruft Melizkats Namen. Er ruft ihn zwar zu Melizkats Verdruß verkehrt - er betont immer die zweite und letzte Silbe - aber Melizkat weiß, wer gemeint ist, und kriecht unter seinem Wagen hervor. »Gefreiter Melizkat zum Chef!« sagt der UvD, der zwar nur Stabsgefreiter ist, diesen Unteroffiziersdienst aber immer sehr gern macht.
»Bitte«, sagt Melizkat ärgerlich, »das nächstemal Melizkat mit dem Ton auf der ersten und letzten Silbe. Und nun: was ist denn los? Wo brennt's?« Melizkat fragt das nicht ganz ahnungslos, denn die Hiobsbotschaften der letzten zwölf Jahre haben ihn jedesmal an einem Montag erreicht. Das hat er genau beobachtet: Im Jahr Dreiunddreißig die Nachricht, daß er im neuen Reich für den Staatsdienst nicht mehr tauge, und Neununddreißig dann die Aufforderung, sich für den Dienst im grauen Rock zu stellen. Aber nicht nur, daß ihn der Montag argwöhnisch machte. An seinem Kübelwagen war seit Tagen der Olwechsel fällig. Und den würde er durch diesen unerwarteten Abruf gewiß ein drittes Mal verschieben müssen. »Laß doch die Karre stehn und komm!« sagte der UvD. »Der Alte scheint's eilig zu haben. Also komm! Vielleicht will er dich sogar noch in Urlaub schicken. Damit du deine Heimat noch einmal siehst, bevor sie der Iwan kassiert.« »Laß deine geschmacklosen Witze!« knurrte Melizkat, sichtlich verletzt, und machte Miene, seinen schmutzigen Overall auszuziehen.
»Laß das!« wehrte der andere ab, »der Chef kann ruhig sehen, daß ich dich mitten aus deiner Arbeit geholt habe.« »Aber die Schmierhandschuhe werde ich doch wenigstens abziehen können und mir eine Zigarette anbrenn' dürfen. Dir eine anzubieten, ist ja verboten, solange du im Dienst bist.«
»Streng verboten sogar«, sagte der mit dem Stahlhelm. »Aber auch dein Rauchen, solange du dich hier in den heil'gen Hallen aufhältst«, setzte er hinzu und verwies auf die vielen Schilder. Dann wendete er sich kurzentschlossen und ging davon, als könnte er sein Opfer so am schnellsten auf den Weg bringen. Mißmutig folgte Melizkat dem stahlbehelmten Kameraden. Seine Zigarette schmeckte ihm nicht. Vor dem Eingang zum Wohnblock warf er die Hälfte davon auf den feuchten grauen Rasen. Nachdenklich sah er hinter dem glimmenden Ding her.
Auf dem Treppenpodest blieb der UvD ganz unerwartet stehen, drehte sich zu ihm um und zischelte hinter der vorgehaltenen Hand: »Vorhin habe ich dir einen dicken Brief auf dein Bett gelegt. Wenn du ihn abholst, darfst du mir die zugedachte Zigarette unter mein Kopfkissen stecken.«
»Schlechte Nachricht, Melizkat!« empfing ihn Stabsarzt Doben. »Stehen Sie bequem, Melizkat! Nein, setzen Sie sich besser dort auf den Stuhl - und hören Sie, was ich Ihnen zu eröffnen habe! Es sind Ereignisse eingetreten, Melizkat, die es nicht mehr zulassen, Sie noch länger hier in der Ersatzabteilung zu behalten. Ich muß Sie abstellen, Melizkat, und zwar noch heute und ohne den üblichen Abstellurlaub. Strenge Urlaubssperre seit gestern. Sie werden sich denken können - warum. Sie müssen den Opel-Blitz-Sanka übernehmen. Sein bisheriger Fahrer ist diese Nacht mit Appendizitis ins Lazarett gebracht worden. Und ein Ersatz für ihn ist im ganzen Bau nicht aufzutreiben gewesen, so daß sich sogar der Kommandeur der Sache annehmen und letzten Endes auf Sie, Melizkat, verweisen mußte.« Der Chef hat mal wieder seinen redseligen Tag, dachte Melizkat und fand sich schnell damit ab, daß er den notwendigen CSlwechsel am Kübelwagen da draußen in der Fahrzeughalle nun seinem Nachfolger werde überlassen müssen. Aber mit seiner plötzlichen Abstellung ohne den ihm zustehenden Urlaub vermochte er sich nicht abzufinden. Er sollte nun ausrücken, ohne vorher Frau und Kinder noch einmal zu sehen? Und vor vier Tagen erst hatte er nach Hause geschrieben, daß er auch weiterhin in der Garnison bleiben werde. Das alles brachte ihn jetzt auf gegen den Mann, der ihm schmackhaft gemacht hatte, ein nahezu komplettes Fotolabor hier in der Kaserne einzurichten. Und jetzt sollte er das womöglich von einer Stunde zur andern abbauen und mit der Bahn nach Hause schicken? Weil Melizkat wußte, daß er seinem Chef gegenüber kein Blatt vor den Mund zu nehmen brauchte, begann er, seinem Herzen unverblümt Luft zu machen.
»Sie wissen, Herr Stabsarzt, daß ich nicht auf mein Betreiben so lange bei der Ersatztruppe geblieben bin. Sie wissen auch, Herr Stabsarzt, daß ich meine Fotogeräte auf dem Wege einer Dienstreise von Ostpreußen hierher über den Rhein gebracht habe. Bis vor wenigen Minuten habe ich damit gerechnet, daß ich meine Sachen auf dieselbe Weise werde wieder nach Hause bringen können, wenn das einmal notwendig werden sollte. Wie sehr mich nun das allzukurz anberaumte Abstellen überraschen muß, werden Sie sich denken können.« »Aber Melizkat«, entgegnete der Stabsarzt und zog wie immer, wenn er eindringlich sprach, die linke Augenbraue beträchtlich in die Höhe. »Wie stellen Sie sich das denn vor?: Eine Dienstreise hier aus dem Rheinlande, tausend Kilometer bis nach Ostpreußen, durch dutzende von zerbombten Bahnhöfen. Und wer kann wissen, ob der Marschbefehl noch lange auf sich warten läßt. Womöglich kommt er schon Ende dieser oder Anfang nächster Woche. Ja, wenn wir von der russischen Offensive verschont geblieben wären ... Nein, Melizkat, das schlagen Sie sich mal aus dem Kopf! Und was glauben Sie - was an den Fahrzeugen noch alles zu tun ist? Nichts ist an den Dingern in Ordnung. Können Sie denn Ihre Frau nicht auf eine Woche telegrafisch hierher bitten? Auf das Fahrgeld wird es Ihnen doch gewiß nicht ankommen, soweit ich Ihre Verhältnisse kenne. « »Herr Stabsarzt, meine Frau hat Zwillinge zu versorgen, zwei vielzufrüh geborene zarte Mädchen. Keinesfalls trennt sie sich von den hilflosen Geschöpfen - und wohl auch nicht von dem jungen, der ja auch erst sieben ist. Überhaupt - die Frau wird Augen machen, wenn sie erfährt, daß ich ausrücken muß. Denn im letzten Brief habe ich ihr erst geschrieben, daß ich weiterhin hier in der Garnison bleibe.« »An Ihre kleinen Kinder habe ich nicht gedacht. Aber etwas anderes fällt mir da ein: Es ist doch nicht ausgeschlossen, daß Ihre neue Einheit nach dem Osten geworfen wird. Denken wir doch an die russische Offensive! Vielleicht fahren Sie tatsächlich schon in einigen
Tagen Richtung Heimat. Wenn's so kommt, dann will ich gern Ihretwegen mit Oberarzt Feldmann sprechen. Von dort oben aus könnte er Sie doch sehr leicht auf eine kurze Dienstreise schicken.«
»Herr Stabsarzt«, sagte Melizkat verbittert, »wäre diese Möglichkeit eine Brücke, ich möchte es nicht wagen, über sie hinwegzugehn.«
Und dabei sah er sowjetische Generalstäbler mit Zeigefingern auf einer großen Ostpreußenkarte umherfahren. Die Gegend um das Frische Haff schienen sie besonders ins Auge zu fassen.
»Jetzt packen Sie erst mal Ihre Siebensachen!« Mit diesen Worten zerriß Stabsarzt Doben Melizkats Vision. »Am besten alles in stabile Kisten«, sagte Doben. »Der Furier - ich sage ihm Bescheid - der soll Ihnen geben, was Sie dafür brauchen. Also nun erst mal packen! Und sehen Sie zu, daß noch heute alles aus der Kaserne kommt!« »Und wohin nun so schnell mit dem Kram«, sagte Melizkat halblaut. Er fragte mehr sich selbst als den Vorgesetzten. Die Kisten mit den wertvollen Geräten nach Hause zu schicken, will ihm plötzlich nicht ratsam erscheinen. »Stellen Sie das Zeug doch bei irgendeinem Ihrer Bekannten unter. Wenn ich nicht falsch unterrichtet bin, haben Sie während Ihrer Zeit hier eine ganze Menge Kontakte angeknüpft - mehr womöglich, als Ihrem Gespons daheim am Frischen Haff lieb sein dürfte.«
Doben sah, wie sein Gefreiter den Brocken, den er ihm hingeworfen hatte, hinunterwürgte. Er lenkte begütigend ein: »Glauben Sie mir, Melizkat, ich ahne, was in Ihnen jetzt vorgeht. Keiner wird so mit Ihnen empfinden können wie einer, in dessen Adern auch ostpreußisches Blut fließt.«
Melizkat horchte auf. Doben merkte das und fügte
hinzu: »Mein Großvater - der eine - stammt aus Rastenburg. Und mein eigener Vater liegt gar nicht so weit von dort begraben ...Aber jetzt packen Sie erst mal! Ihr zukünftiger Beifahrer wird der Gefreite Schamalt. Der soll Ihnen helfen, wenn Sie Hilfe brauchen. Dem Namen nach ist der ja auch Ostpreuße. Also ran! In einer Stunde müssen wir fahren. Haben Sie das verdammte Gequietsche am Wagen schon beseitigt?« Melizkat erhob sich, bejahte militärisch und verschwand. Dann holte er sich den Brief, den ihm der UvD aufs Bett gelegt hatte. Von weitem erkannte er ihn schon als einen von seiner Frau. Sie bevorzugte das längliche Format. Und auch die großzügigen Schriftzüge waren unverkennbar die ihren. Es war ein schwerer und gewiß auch ein langer Brief, den er da von seinem Bett aufnahm. Er schob ihn in die linke Rocktasche. Denn lesen wollte er ihn in aller Ruhe. Dem Bringer steckte er dafür zwei Zigaretten unters Kopfkissen.
Dann ging er in den Keller- zuerst zum Furier. Der wußte schon Bescheid und hatte ihm drei Kisten bereitgestellt. Der Chef macht schnelle Arbeit, dachte Melizkat. Ihm ist das Kasernen-Fotolabor plötzlich ein Dorn im Auge. Der jüngste Wehrmachtsbericht spukt Melizkat im Kopf herum. Diese schreckliche Nachricht! Nur sie ist schuld, daß ich so plötzlich ausrücken muß, denkt Melizkat, während er sein Vergrößerungsgerät auseinanderbaut. Und das wagt sogar die Oberste Heeresleitung unumwunden zuzugeben: Schirwindt und Pillkallen in sowjetischer Hand!
Melizkat packt ein. Er packt wie in einem bösen Traum, als seien die Russen schon im Anmarsch auf den Rhein. Was mag im Briefe stehen, den er in seiner Rocktasche trägt.
Copyright der Originalausgabe © 2005 by Verlagshaus Würzburg GmbH & CO.KG, Würzburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: Emmerich Vondran
- 2007, 1, 528 Seiten, Maße: 13,2 x 19,2 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828985807
- ISBN-13: 9783828985803
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