Blinde Flecken / Schwarz ermittelt Bd.1
Schwarz ermittelt - Kriminalroman. Originalausgabe
Ein außergewöhnlicher Krimi in bester 'Tatort'-Manier.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Blinde Flecken / Schwarz ermittelt Bd.1 “
Ein außergewöhnlicher Krimi in bester 'Tatort'-Manier.
Klappentext zu „Blinde Flecken / Schwarz ermittelt Bd.1 “
Eine Amokfahrt mit tödlichen Folgen.Ein Häftling, der sich in eine tickende Zeitbombe verwandelt.
Enthüllungen im rechtsradikalen Milieu.
Tim Burger sitzt wegen einer Amokfahrt mit tödlichen Folgen im Gefängnis. Jetzt verdichten sich die Hinweise darauf, dass seine Entlassung kurz bevorsteht - und dass er ein Attentat plant. Rechtsanwalt Loewi wendet sich an den Privatermittler Anton Schwarz, weil er glaubt, dass Burger Werkzeug eines rechtsradikalen Netzwerks ist und die Amokfahrt einen antisemitischen Hintergrund hatte. Höchste Eile ist geboten, denn in den Jahren der Haft hat Burger sich in eine tickende Zeitbombe verwandelt.
Lese-Probe zu „Blinde Flecken / Schwarz ermittelt Bd.1 “
Blinde Flecken von Peter Probst1. 22. Juni 2004
Er war wie blind davongelaufen, gestolpert, auf dem Kies gestürzt, hatte sich wieder aufgerappelt und wütend an seinen Handballen gesaugt, die voller Split waren. Seine Freunde, die Arschlöcher, würden sich wundern, wenn er zum ersten Mal in diesem beschissenen Leben ernst machte. Wenn er jetzt mit dem Auto voll gegen die nächste Wand fuhr.
Doch als er hinter dem Steuer des bulligen Geländewagens saß, kamen ihm plötzlich Zweifel. Wieso ließ er das alles mit sich machen, wieso war er immer das Opfer?
Er hieb drei, vier Mal mit der höllisch schmerzenden Hand auf die Hupe, der Schleicher vor ihm gab die Spur nicht frei. Wenn er jetzt einen Panzer hätte, würde er ihn und die ganzen anderen Idioten einfach von der Straße räumen. Wäre er bloß nicht in die Landsberger eingebogen, wo es immer Stau gab. Wohin wollte er denn überhaupt? Er hätte nie abhauen dürfen, einfach abhauen wie der letzte Feigling.
Dann kam der Hass.
Ein brennender Hass.
Feuer, ja, das war es. Wenn die Wohnung in Flammen aufging und sie als schreiende Fackeln herausliefen, würde es ihm besser gehen.
Er bog in die nächste Tankstelle ein, ließ die Wagentür bei laufendem Motor offen. Er rannte in den Markt, fand einen Kanister, betankte ihn, bis er überlief. Er sah, dass die fette Frau hinter der Kasse misstrauisch in seine Richtung äugte und das Kennzeichen notierte. Egal. Der Wagen gehörte seiner Mutter. Sollte sie doch bezahlen, wie immer.
... mehr
Er hielt nicht lange nach einer Lücke Ausschau und drängte sich rücksichtslos in die dahinkriechende Wagenkolonne. Der Fahrer hinter ihm blendete auf und machte eine Drohgebärde. Er überlegte kurz, ob er aussteigen und ihm die Faust ins Gesicht schlagen sollte, lächelte aber nur verächtlich. Er schob eine CD ein.
Die Musik zum Film, dachte er.
Rammstein. Ein Mensch brennt. Rammstein. Fleischgeruch liegt in der Luft.
Er sprach laut mit. »Ein Flammenmeer ... Blut gerinnt auf dem Asphalt.« Seine heisere Stimme war ihm fremd.
Der alte Mercedes 190 vor ihm bremste so überraschend, dass er nur Zentimeter hinter ihm zum Stehen kam. Auf der Rückbank saß eine Frau mit Kopftuch. Neben ihr drei Kinder. Das kleinste drehte sich zu ihm um und winkte. Er zeigte ihm den gestreckten Mittelfinger. Das Kind schnappte erschrocken nach Luft.
Zehn Minuten vergingen, ohne dass etwas geschah. Als hätte jemand die Zeit angehalten. Einzelne Fahrer standen neben ihren Autos, riefen sich etwas zu und deuteten nach vorne, wo blaue und orangefarbene Lichter blinkten. Er war eingekeilt. Er hörte den Song zum dritten Mal.
Rammstein. Ein Massengrab. Rammstein. Kein Entrinnen.
Die Uhr auf dem Armaturenbrett sprang auf 17:07 Uhr, als knapp hundert Meter vor ihm aus einem Durchgang in der hohen, begrünten Lärmschutzwand fünf Jugendliche traten. Die vier Jungen und das Mädchen trugen Trainingsanzüge und Sporttaschen.
Er wusste sofort, woher sie kamen. Blau-Weiß 57, ihr beschissener Judenverein, lag gleich hinter der Wand.
Der kleinste, ein Rotschopf, hielt die anderen auf und erzählte etwas. Als er fertig war, schaute er erwartungsvoll zu seinen Freunden. Sie brachen in Gelächter aus. Ein Witz also, ein Judenwitz sicher. Nur das Mädchen schüttelte missbilligend den Lockenkopf. Es war hübsch, verdammt hübsch sogar.
Die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung und kam auf dem breiten Gehweg näher. Der Rotschopf ging rückwärts vor seinen Freunden her und machte weiter den Clown. Diesmal brachte er auch das Mädchen zum Lachen. Es machte zwei, drei schnellere Schritte, legte den Arm um ihn und schmiegte sich an ihn.
So waren sie, die Weiber. Alle. Auf solche Typen fielen sie rein. Auf Sprücheklopfer und Witzereißer. Er sah, wie das Mädchen den Jungen auf den Mund küsste, die Nutte.
Er drückte das Gaspedal voll durch.
Der Geländewagen schoss an einem geparkten Fahrzeug auf der Standspur vorbei, über den Fahrradweg auf die Gruppe zu. Das Mädchen riss noch den Mund zum Schrei auf und wirbelte schon durch die Luft wie eine Stoffpuppe. Ein Rucken ging durch den Wagen, als führe er über einen zu hohen Bordstein. Aber der Widerstand war weicher. Dann noch ein Rucken.
Tim Burger hielt sich mit beiden Händen am Lenkrad fest und starrte auf den großen roten Fleck auf seiner Windschutzscheibe. Haare klebten drin und eine Masse, die ihn an Katzenfutter erinnerte. Er war ganz ruhig, sein Schmerz war vergessen, der Hass verflogen. Dann riss jemand die Tür auf und zerrte ihn aus dem Wagen.
2. 22. Mai 2008
Das Klingeln erreichte Schwarz in einem Traum, in dem seine Frau endlich wieder bei ihm lag. Wie warm sich ihre Haut anfühlte, wie vertraut sie roch. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, ihr Atem kitzelte ihn.
»Sag's noch mal, Monika, bitte.«
Sie schwieg, dafür klingelte es zum zweiten Mal. Er wollte nicht aufwachen. Auch ein Ermittler braucht seine Träume. Er spähte mit einem Auge zum Wecker. »Neun? Welcher Verrückte ...?«
Jetzt war er wach. Sein erster Blick fiel auf den Kleiderberg neben dem Bett. Alter Schlamper, hätte Monika bei diesem Anblick gesagt, und er hätte dann irgendwann aufgeräumt. Aber Monika war nicht mehr da, und so wurde der Berg höher und höher.
Er hörte die Stimmen der Thailänder unten im Koh Samui. Die schnippelten seit Stunden für ihre Currys, und er lag halb bewusstlos im alten Tanzsaal der ehemals bayerischen Wirtschaft. Er hoffte inständig, der Quälgeist vor seiner Tür würde freiwillig den Rückzug antreten. Vergeblich.
Schwarz erhob sich seufzend. Wenn er Glück hatte, war es seine Tochter, die ihm manchmal seine geliebten Karlsbader Oblaten vorbeibrachte. Das letzte Mal vor zwei Jahren.
»Herr Schwarz?« Der etwa sechzigjährige Mann blickte ihn durch eine randlose Brille an. Er trug ein anthrazitfarbenes Jackett und zum weißen Hemd eine rote Fliege. Künstler, vermutete Schwarz, auch wegen des nach hinten gekämmten, nackenlangen Haars seines Gegenübers.
»Mein Name ist Karl Loewi, ich bin Anwalt.«
An ihren Bügelfalten sollt ihr sie erkennen: ein Anwalt, klar.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt?«
»Ich bin gerade mit dem Frühsport fertig. Kommen Sie rein.«
Er holte seine schwarze Jeans vom Kleiderberg und fragte Loewi schon mal, wie er seinen Kaffee trinke. Diese Vorlage hätte er ihm nicht liefern dürfen.
»Bei Ihnen selbstverständlich schwarz.«
Schwarz unterdrückte ein Gähnen. In seiner Gegenwart sahen die Leute schwarz, trafen ins Schwarze, ließen jemanden warten, bis er schwarz wurde, regten sich über Schwarzarbeit und die Schwarzen sowieso auf. Schwarz hätte sich darüber schwarzärgern können, hatte aber den magenschonenden Entschluss gefasst, sich lieber über die inspirierende Wirkung seines Namens zu freuen.
Er reichte Loewi, der sich nicht hatte setzen wollen, die Geschenktasse vom letzten Tag der Offenen Tür der Polizeiinspektion München-Pasing und warf einen verstohlenen Blick auf dessen dunkelbraune, englische Schuhe. Keine Absätze? Der Anwalt war also wirklich ein ganzes Stück größer als er und, obwohl mindestens zehn Jahre älter, unverschämt flachbäuchig. Einen Moment lang bereute Schwarz es, sein im ersten Trennungsschmerz erworbenes Abo beim Fitness-Studio an der Donnersberger Brücke in zwölf Monaten kein einziges Mal genutzt zu haben.
Er seufzte und machte es sich auf einem Deckchair bequem, seinem Konferenzstuhl. »Wer hat Sie zu mir geschickt, Herr Loewi?«
»Ich habe Ihre Adresse im Branchenbuch gefunden.«
»Tatsächlich? Ich beschatte aber keine Ehefrauen, die zu ihrem Geliebten, und keine Gymnasiasten, die statt in die Schule lieber in den Biergarten schleichen.«
»Aber Sie sind doch Detektiv?«
»Privatermittler. Ich habe mich auf Fälle spezialisiert, die andere für geklärt halten. Ich kümmere mich um Leute, die zu Unrecht im Knast sind oder dringend dorthin gehörten.«
»Dann sind Sie der richtige Mann für mich.«
Schwarz musterte den Anwalt. Dessen markante Züge ließen darauf schließen, dass er sich durchzusetzen wusste, aber sein Blick verriet eine fast jungenhafte Neugier und Sensibilität. Loewi war ihm sympathisch - trotz seiner athletischen Figur.
»Was wollen Sie von mir?«
»Dazu müsste ich weiter ausholen.«
»Ich habe Zeit.«
Während er sprach, ging der Anwalt in dem geräumigen Saal, der Schwarz zugleich als Wohnung und Büro diente, auf und ab. Er kam an der DVD-Sammlung vorbei, die sich ausschließlich aus Meisterwerken der Schwarzen Serie zusammensetzte, und an Regalen mit Aktenordnern sowie kriminalistischer Fachliteratur älteren Datums. Das Eichenparkett knarrte unter seinen edlen Schuhen. Vor dem bedauernswerten Ficus, den Schwarz oft wochenlang vergaß und dann wieder fast ertränkte, machte Loewi kehrt und schritt auf der anderen Seite des Raums an den Familienfotos vorbei.
Monika, die mit der vier Tage alten Luisa aus der Klinik in der Maistraße tritt und die Nase rümpft, weil sie gleich niesen wird. Monika, die stolz am Steuer des nagelneuen Opel Rekord C sitzt, der vor seiner Verschrottung neunzehn Liter saufen wird. Monika und die dreijährige Luisa, die mit beseelten Gesichtern in einer endlosen Reihe Kerzen haltender Menschen stehen. Es ist ein Nikolausabend Anfang der Neunziger. Die halbe Stadt ist auf den Beinen und demonstriert mit einer Lichterkette gegen Ausländerfeindlichkeit. Schwarz ist zu dieser Zeit noch Polizist, aber wegen aufmüpfigen Verhaltens gegenüber einem bürokratischen Vorgesetzten zum Bürodienst verdammt.
»Sie erinnern sich bestimmt an den Unfall von Carl Heuwieser «, hatte Loewi begonnen. »Es war die Nacht vom 15. auf den 16. Mai 1989, als er auf der Autobahn München- Lindau mit hoher Geschwindigkeit auf einen Wagen auffuhr. Es gab einen Toten und eine Schwerverletzte.«
»Heuwieser war damals Landtagsabgeordneter und besoffen «, sagte Schwarz und nickte.
Loewi erinnerte an die öffentliche Empörung nach dem Unfall, an Heuwiesers Rücktritt von seinen diversen politischen Ämtern und die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten.
»Auf Bewährung. Schon drei Jahre später zog er wieder in den Landtag ein, weil wir Bayern ein großes Herz für arme Sünder haben - zumindest für die aus der Politik«, sagte Schwarz und stand auf, um sich noch mal Kaffee zu holen.
»Noch einen für Sie?«
Der Anwalt schüttelte den Kopf.
»Warum erzählen Sie mir eine Geschichte, die ich kenne, Herr Loewi?«
»Die Sie kennen?« Er lächelte ein klein wenig überheblich. »Was wissen Sie denn über den Mann, den Heuwieser tötete?«
Schwarz schob die Unterlippe nach vorn. »Er war Rentner, glaube ich, und ist in einem kleinen Fiat gefahren, mit dem er keine Chance gegen die schwere Limousine vom Heuwieser gehabt hat.«
»Richtig. Und weiter?«
Schwarz machte eine bedauernde Geste.
»Dann sage ich es Ihnen. Er hieß Josef Rojewski, hatte das KZ Dachau überlebt und war auf dem Weg in seine polnische Heimat, die er nach 1945 nie mehr besucht hatte. Er wollte nach Auschwitz, wo seine Eltern umgebracht worden waren.«
Nein, das hatte er nicht gewusst.
»Das war damals aber in allen Zeitungen zu lesen, Herr Schwarz.«
»Dann muss ich es vergessen haben.«
»Vergessen«, wiederholte der Anwalt und blickte gedankenverloren auf die Kreuzung vor dem Haus. Schwarz ließ etwa hundertfünfzig der dreißigtausend Autos vorbeifahren, die jeden Tag die Landsberger Straße heimsuchten, dann räusperte er sich. Als Loewi sich umdrehte, meinte er einen feuchten Glanz in dessen Augen zu sehen, aber vielleicht täuschte er sich auch.
»Am 22. Juni 2004«, sagte der Anwalt, »steuerte der zwanzigjährige Tim Burger den Geländewagen seiner Mutter in eine Gruppe Jugendlicher.«
Schwarz nickte. »Ein Toter, zwei Schwerverletzte. Wenn man Richtung Innenstadt fährt, kann man an der Unfallstelle noch Spuren sehen.«
»Es war kein Unfall.«
»Eine Amokfahrt, ich weiß.«
»Genau das ist die Frage. Die jungen Leute kamen vom Training. Sie waren Mitglieder eines Sportvereins, Blau- Weiß 57.«
»Und?«
»Ein jüdischer Verein.«
Schwarz lachte. »Jüdisch? Blau-Weiß?«
»Bayerisch wäre weiß-blau. Ich habe Hinweise, dass Burger Neonazi ist, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er gezielt Juden töten wollte.«
Schwarz wusste einiges über den Fall. Er hatte sich nicht lange nach seiner Entlassung aus dem Polizeidienst ereignet, und die Ermittlungen waren bei seiner ehemaligen Abteilung gelegen. Aber das band er Loewi jetzt nicht auf die Nase. Stattdessen fragte er scheinheilig, wie denn das Gericht geurteilt habe.
»Es hat einen antisemitischen Hintergrund ausgeschlossen. Burger hat nur sechs Jahre Jugendstrafe bekommen, seine blindwütige Tat sei durch eine schwere Lebenskrise ausgelöst worden.«
»Was Sie bezweifeln?«
»Richtig.«
»Und ich soll stichhaltige Beweise für Burgers rechtsextremistische Gesinnung liefern? Für eine Wiederaufnahme des Verfahrens?«
Loewi nickte. »Wir müssen unbedingt verhindern, dass Burger vorzeitig entlassen wird.«
Diesmal trat Schwarz selbst ans Fenster. Er starrte auf die Kreuzung der Landsberger mit der Offenbacher Straße und das unbebaute Grundstück daneben, auf dem überlebensgroße Bronzeskulpturen zum Verkauf angeboten wurden. Welcher vernünftige Mensch, dachte er, stellt sich bloß solche Scheußlichkeiten in den Garten, einen Hirsch, ein Nashorn oder King Kong?
»Herr Schwarz?«
Er drehte sich um und betrachtete Loewi. Verbarg sich hinter der Maske des seriösen Anwalts ein Verrückter? Klienten, die an Verschwörungen glaubten, gehörten zu den unangenehmsten überhaupt. »Sie vermuten also, dass nicht nur dieser Burger, sondern auch Carl Heuwieser gezielt Juden aufs Korn genommen hat?«, versuchte Schwarz Loewi aufs Glatteis zu locken.
»Wie bitte? Halten Sie mich für verrückt?«
»Nein«, stammelte Schwarz, »eigentlich nicht. Ich verstehe nur nicht, was die beiden Fälle verbindet.«
»Die blinden Flecken«, sagte Loewi.
Schwarz runzelte die Stirn.
»Ich bin seit mehr als dreißig Jahren Anwalt und immer wieder darauf gestoßen. Polizisten, Richter, Zeugen, alle leiden an diesem Phänomen.«
»Den blinden Flecken?«
»Ja, entweder wird die jüdische Identität der Opfer ausgeblendet oder der rechtsextremistische Hintergrund der Täter. Manchmal mag das politisches Kalkül sein, um die Statistik zu schönen, meistens aber geschieht es unbewusst. Den Fall Heuwieser habe ich nur angesprochen, um Ihnen zu zeigen, dass auch Sie diese Löschfunktion im Kopf haben. «
»Ich? Ich frage ja auch nicht, ob ein Opfer Katholik oder Protestant ist, Herr Loewi. Weil es keine Rolle spielt.«
»Einverstanden. Aber wenn die Religion der Grund für einen Mordanschlag war, sollte es doch wohl eine Rolle spielen. Und erst recht, wenn der Täter möglicherweise nach wie vor zur Gewalt gegen Juden entschlossen ist.«
3. Schwarz hatte um Bedenkzeit gebeten. Reine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ohne Sinn und Aussicht auf Erfolg versuchte er grundsätzlich zu vermeiden. Um frei entscheiden zu können, welchen Auftrag er übernahm und welchen er ablehnte, hatte er sich vor einiger Zeit als Wachmann bei einem Konsulat verpflichtet. Der Verdienst reichte zumindest für die Mietkosten seiner extravaganten Unterkunft.
Schwarz überlegte. War es denkbar, dass ein Mordanschlag mit antisemitischem Hintergrund als wahllose Verzweiflungstat eines seelisch Verirrten eingestuft und mit einer viel zu milden Jugendstrafe geahndet worden war? Oder hatte Loewi sich da in etwas verrannt?
Was sagt mir mein Gefühl, dachte Schwarz. Sein Gefühl schwieg.
Er musste also auf anderem Wege zu einer Entscheidung kommen. Außer der Tatsache, dass seine ehemaligen Kollegen von der Kripo mit den Ermittlungen betraut gewesen waren, gab es noch eine weitere Verbindung zu dem Fall. Tim Burger hatte einige Jahre das Pasinger Gymnasium besucht, das Monika als Direktorin leitete.
Schwarz traf pünktlich zur Pause ein.
Die Schüler strömten aus allen Türen in den asphaltierten und mit zwei armseligen Bäumchen dekorierten Pausenhof. Monika hatte sich immer geärgert, dass ihr Mann Lehrer maßlos dafür bewunderte, dass sie bei diesem Höllenlärm nicht gewalttätig wurden. Als hätten sie keine anderen Verdienste.
Schwarz wusste, dass seine Frau den Kontakt mit den Schülern suchte und ihr Büro so oft wie möglich verließ. Es dauerte nicht lange, da tauchte sie auf, ein sportlicher Typ im khakifarbenen Hosenanzug mit dezent gesträhnter, dunkelblonder Kurzhaarfrisur. Ihre 47 Jahre sah man ihr nicht an. Sie sprach mit einigen der Schüler und schien ganz in ihrem Element. Als Monika Schwarz ihren Mann bemerkte, verfinsterte sich ihre Miene. »Hey, du weißt genau, dass du hier nicht einfach aufkreuzen sollst.« Sie nahm ihn zur Seite. »Was ist denn, Anton?« Niemand konnte den Namen Anton schauerlicher klingen lassen als sie.
»Ich bräuchte deinen Rat.«
Monika stöhnte. »Wir haben uns getrennt.«
»Du ziehst es vor, dass wir in getrennten Wohnungen leben«, korrigierte Schwarz sie sanft, »vorübergehend.«
Monika war klug genug, das Thema nicht zu vertiefen. Schwarz war dazu fähig, ihr vor allen Schülern seine Liebe zu erklären.
»Um was geht es denn?«
»Um einen Fall, den ich übernehmen soll. Erinnerst du dich an Tim Burger?«
Monika nickte.
»Hast du ihn mal als Lehrerin gehabt?«
»Ja, in dem Jahr, in dem er von der Schule flog.«
»Wieso habt ihr ihn rausgeworfen?«
»Das darf ich dir nicht sagen.«
»Mir genügt eine Andeutung.«
»Wir haben ihn nicht mehr in den Griff gekriegt.«
»Drogen? Psychische Probleme?«
»Anton, ich darf keine Auskünfte über Schüler geben.«
Schwarz sah, dass Monika um die Hüften herum ein klein wenig zugelegt hatte. Es störte ihn nicht. Sein Blick wanderte zu dem zarten Flaum an ihren Schläfen, den er so liebte, und zu den Lachfältchen um ihre grünblauen Augen.
»Hör auf, mich wie ein Dackel anzuschauen, Anton.«
»Hat Tim Burger jemals schlecht über Juden gesprochen? «
»Was?« Sie blickte ihn irritiert an.
»Sag schon, hat er?«
»Du weißt, wie viel Blödsinn da geredet wird. Die meisten meiner Schüler haben noch nie einen Juden gesehen, aber wenn ich frage, ob die Juden in Deutschland zu viel Einfluss hätten, antwortet ein Drittel mit Ja.«
»Burger auch?«
»Daran erinnere ich mich wirklich nicht mehr.«
Er bemerkte, dass sie seinem Blick auswich. »Aber an was anderes erinnerst du dich, stimmt's?«
Monika berührte Schwarz leicht am Arm und lotste ihn zu einem Mauervorsprung am Rand des Pausenhofs.
»Wir haben nicht über Tim gesprochen, okay?«
»Einverstanden.«
Sie erzählte, wie Tim Burger sie einige Monate nach seinem Schulausschluss auf der Straße abpasste. Er sei völlig durcheinander gewesen.
»Um was ging es?«
»Um Linda, die Prinzessin. Tim war mit ihr zusammen gewesen. Mit dem begehrtesten Mädchen der ganzen Schule, verstehst du?«
»Sie hat ihn verlassen. Warum?«
»Sie muss von ihm irgendeine abstruse Mutprobe gefordert haben, aber er hat gekniffen. Daraufhin hat sie unter der Überschrift Wieso ich nicht mit einem Loser zusammen sein will Tims peinlichste Fotos und dümmste Sprüche ins Internet gestellt. Doch selbst damit wurde sie ihn nicht los.«
»Das kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Also, bitte! Ich habe unsere Trennung immer diskret behandelt.«
»Ich meinte, dass du mich nicht loswirst.«
»Ich kann es ja machen wie Linda. Sie muss Tim mehr oder weniger dazu eingeladen haben, ihr beim Sex mit seinem Nachfolger zuzugucken.«
Schwarz schluckte.
»Entschuldige, Anton, das war gemein.« Diesmal ließ sie seinen Namen ganz anders klingen. Anton, mit einem tief aus der Brust kommenden, leicht vibrierenden A.
»Schon okay«, sagte Schwarz.
Monika wandte sich zum Gehen. »Tim Burger hat Linda jedenfalls unmittelbar vor seiner Amokfahrt mit dem anderen im Bett erwischt. Aber daran erinnerst du dich bestimmt. Die Presse hat es ja in allen Einzelheiten durchgehechelt. «
Schwarz erinnerte sich nicht. Merkwürdig. Gab es bei ihm vielleicht noch andere blinde Flecken als die von Loewi erwähnten? Flecken, die sich gnädig über Ereignisse legten, die ihn an Monikas unverständlichen und schmerzhaften Rückzug erinnern könnten?
»Wie heißt diese Linda mit Nachnamen?«, rief Schwarz Monika nach.
»Heintl. Linda Heintl.«
4. Seine vor vier Jahren noch fast kindlichen Gesichtszüge waren kantig geworden. Er trug das Haar kurz geschnitten und gescheitelt und legte Wert darauf, dass es ihm nicht in die Stirn fiel. Für einen Besuch bei einem anständigen Friseur, spotteten seine Mithäftlinge, würde er sich sogar vögeln lassen. Allerdings wagte keiner, so etwas laut zu sagen, denn Tim Burger war gefürchtet. Es gab Gerüchte, zu Beginn seiner Haftzeit habe er einen Zellengenossen halb totgeprügelt.
»Siebenunddreißig«, keuchte er.
Tim belastete bei seinen Liegestützen nicht wie üblich die Handflächen oder wie die härteren Jungs im Knast die Fäuste. Bei ihm drückte das gesamte Gewicht auf die Fingerknöchel. Er ärgerte sich, weil die Haut an zwei Fingern platzte und das Blut auf dem Boden Flecken hinterließ.
»Dreiundsechzig.«
Die anderen Knackis täuschten sich, wenn sie glaubten, sein Ziel wäre es, eine menschliche Kampfmaschine zu werden. So primitiv war er nicht. Ihm ging es nicht um die
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Er hielt nicht lange nach einer Lücke Ausschau und drängte sich rücksichtslos in die dahinkriechende Wagenkolonne. Der Fahrer hinter ihm blendete auf und machte eine Drohgebärde. Er überlegte kurz, ob er aussteigen und ihm die Faust ins Gesicht schlagen sollte, lächelte aber nur verächtlich. Er schob eine CD ein.
Die Musik zum Film, dachte er.
Rammstein. Ein Mensch brennt. Rammstein. Fleischgeruch liegt in der Luft.
Er sprach laut mit. »Ein Flammenmeer ... Blut gerinnt auf dem Asphalt.« Seine heisere Stimme war ihm fremd.
Der alte Mercedes 190 vor ihm bremste so überraschend, dass er nur Zentimeter hinter ihm zum Stehen kam. Auf der Rückbank saß eine Frau mit Kopftuch. Neben ihr drei Kinder. Das kleinste drehte sich zu ihm um und winkte. Er zeigte ihm den gestreckten Mittelfinger. Das Kind schnappte erschrocken nach Luft.
Zehn Minuten vergingen, ohne dass etwas geschah. Als hätte jemand die Zeit angehalten. Einzelne Fahrer standen neben ihren Autos, riefen sich etwas zu und deuteten nach vorne, wo blaue und orangefarbene Lichter blinkten. Er war eingekeilt. Er hörte den Song zum dritten Mal.
Rammstein. Ein Massengrab. Rammstein. Kein Entrinnen.
Die Uhr auf dem Armaturenbrett sprang auf 17:07 Uhr, als knapp hundert Meter vor ihm aus einem Durchgang in der hohen, begrünten Lärmschutzwand fünf Jugendliche traten. Die vier Jungen und das Mädchen trugen Trainingsanzüge und Sporttaschen.
Er wusste sofort, woher sie kamen. Blau-Weiß 57, ihr beschissener Judenverein, lag gleich hinter der Wand.
Der kleinste, ein Rotschopf, hielt die anderen auf und erzählte etwas. Als er fertig war, schaute er erwartungsvoll zu seinen Freunden. Sie brachen in Gelächter aus. Ein Witz also, ein Judenwitz sicher. Nur das Mädchen schüttelte missbilligend den Lockenkopf. Es war hübsch, verdammt hübsch sogar.
Die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung und kam auf dem breiten Gehweg näher. Der Rotschopf ging rückwärts vor seinen Freunden her und machte weiter den Clown. Diesmal brachte er auch das Mädchen zum Lachen. Es machte zwei, drei schnellere Schritte, legte den Arm um ihn und schmiegte sich an ihn.
So waren sie, die Weiber. Alle. Auf solche Typen fielen sie rein. Auf Sprücheklopfer und Witzereißer. Er sah, wie das Mädchen den Jungen auf den Mund küsste, die Nutte.
Er drückte das Gaspedal voll durch.
Der Geländewagen schoss an einem geparkten Fahrzeug auf der Standspur vorbei, über den Fahrradweg auf die Gruppe zu. Das Mädchen riss noch den Mund zum Schrei auf und wirbelte schon durch die Luft wie eine Stoffpuppe. Ein Rucken ging durch den Wagen, als führe er über einen zu hohen Bordstein. Aber der Widerstand war weicher. Dann noch ein Rucken.
Tim Burger hielt sich mit beiden Händen am Lenkrad fest und starrte auf den großen roten Fleck auf seiner Windschutzscheibe. Haare klebten drin und eine Masse, die ihn an Katzenfutter erinnerte. Er war ganz ruhig, sein Schmerz war vergessen, der Hass verflogen. Dann riss jemand die Tür auf und zerrte ihn aus dem Wagen.
2. 22. Mai 2008
Das Klingeln erreichte Schwarz in einem Traum, in dem seine Frau endlich wieder bei ihm lag. Wie warm sich ihre Haut anfühlte, wie vertraut sie roch. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, ihr Atem kitzelte ihn.
»Sag's noch mal, Monika, bitte.«
Sie schwieg, dafür klingelte es zum zweiten Mal. Er wollte nicht aufwachen. Auch ein Ermittler braucht seine Träume. Er spähte mit einem Auge zum Wecker. »Neun? Welcher Verrückte ...?«
Jetzt war er wach. Sein erster Blick fiel auf den Kleiderberg neben dem Bett. Alter Schlamper, hätte Monika bei diesem Anblick gesagt, und er hätte dann irgendwann aufgeräumt. Aber Monika war nicht mehr da, und so wurde der Berg höher und höher.
Er hörte die Stimmen der Thailänder unten im Koh Samui. Die schnippelten seit Stunden für ihre Currys, und er lag halb bewusstlos im alten Tanzsaal der ehemals bayerischen Wirtschaft. Er hoffte inständig, der Quälgeist vor seiner Tür würde freiwillig den Rückzug antreten. Vergeblich.
Schwarz erhob sich seufzend. Wenn er Glück hatte, war es seine Tochter, die ihm manchmal seine geliebten Karlsbader Oblaten vorbeibrachte. Das letzte Mal vor zwei Jahren.
»Herr Schwarz?« Der etwa sechzigjährige Mann blickte ihn durch eine randlose Brille an. Er trug ein anthrazitfarbenes Jackett und zum weißen Hemd eine rote Fliege. Künstler, vermutete Schwarz, auch wegen des nach hinten gekämmten, nackenlangen Haars seines Gegenübers.
»Mein Name ist Karl Loewi, ich bin Anwalt.«
An ihren Bügelfalten sollt ihr sie erkennen: ein Anwalt, klar.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt?«
»Ich bin gerade mit dem Frühsport fertig. Kommen Sie rein.«
Er holte seine schwarze Jeans vom Kleiderberg und fragte Loewi schon mal, wie er seinen Kaffee trinke. Diese Vorlage hätte er ihm nicht liefern dürfen.
»Bei Ihnen selbstverständlich schwarz.«
Schwarz unterdrückte ein Gähnen. In seiner Gegenwart sahen die Leute schwarz, trafen ins Schwarze, ließen jemanden warten, bis er schwarz wurde, regten sich über Schwarzarbeit und die Schwarzen sowieso auf. Schwarz hätte sich darüber schwarzärgern können, hatte aber den magenschonenden Entschluss gefasst, sich lieber über die inspirierende Wirkung seines Namens zu freuen.
Er reichte Loewi, der sich nicht hatte setzen wollen, die Geschenktasse vom letzten Tag der Offenen Tür der Polizeiinspektion München-Pasing und warf einen verstohlenen Blick auf dessen dunkelbraune, englische Schuhe. Keine Absätze? Der Anwalt war also wirklich ein ganzes Stück größer als er und, obwohl mindestens zehn Jahre älter, unverschämt flachbäuchig. Einen Moment lang bereute Schwarz es, sein im ersten Trennungsschmerz erworbenes Abo beim Fitness-Studio an der Donnersberger Brücke in zwölf Monaten kein einziges Mal genutzt zu haben.
Er seufzte und machte es sich auf einem Deckchair bequem, seinem Konferenzstuhl. »Wer hat Sie zu mir geschickt, Herr Loewi?«
»Ich habe Ihre Adresse im Branchenbuch gefunden.«
»Tatsächlich? Ich beschatte aber keine Ehefrauen, die zu ihrem Geliebten, und keine Gymnasiasten, die statt in die Schule lieber in den Biergarten schleichen.«
»Aber Sie sind doch Detektiv?«
»Privatermittler. Ich habe mich auf Fälle spezialisiert, die andere für geklärt halten. Ich kümmere mich um Leute, die zu Unrecht im Knast sind oder dringend dorthin gehörten.«
»Dann sind Sie der richtige Mann für mich.«
Schwarz musterte den Anwalt. Dessen markante Züge ließen darauf schließen, dass er sich durchzusetzen wusste, aber sein Blick verriet eine fast jungenhafte Neugier und Sensibilität. Loewi war ihm sympathisch - trotz seiner athletischen Figur.
»Was wollen Sie von mir?«
»Dazu müsste ich weiter ausholen.«
»Ich habe Zeit.«
Während er sprach, ging der Anwalt in dem geräumigen Saal, der Schwarz zugleich als Wohnung und Büro diente, auf und ab. Er kam an der DVD-Sammlung vorbei, die sich ausschließlich aus Meisterwerken der Schwarzen Serie zusammensetzte, und an Regalen mit Aktenordnern sowie kriminalistischer Fachliteratur älteren Datums. Das Eichenparkett knarrte unter seinen edlen Schuhen. Vor dem bedauernswerten Ficus, den Schwarz oft wochenlang vergaß und dann wieder fast ertränkte, machte Loewi kehrt und schritt auf der anderen Seite des Raums an den Familienfotos vorbei.
Monika, die mit der vier Tage alten Luisa aus der Klinik in der Maistraße tritt und die Nase rümpft, weil sie gleich niesen wird. Monika, die stolz am Steuer des nagelneuen Opel Rekord C sitzt, der vor seiner Verschrottung neunzehn Liter saufen wird. Monika und die dreijährige Luisa, die mit beseelten Gesichtern in einer endlosen Reihe Kerzen haltender Menschen stehen. Es ist ein Nikolausabend Anfang der Neunziger. Die halbe Stadt ist auf den Beinen und demonstriert mit einer Lichterkette gegen Ausländerfeindlichkeit. Schwarz ist zu dieser Zeit noch Polizist, aber wegen aufmüpfigen Verhaltens gegenüber einem bürokratischen Vorgesetzten zum Bürodienst verdammt.
»Sie erinnern sich bestimmt an den Unfall von Carl Heuwieser «, hatte Loewi begonnen. »Es war die Nacht vom 15. auf den 16. Mai 1989, als er auf der Autobahn München- Lindau mit hoher Geschwindigkeit auf einen Wagen auffuhr. Es gab einen Toten und eine Schwerverletzte.«
»Heuwieser war damals Landtagsabgeordneter und besoffen «, sagte Schwarz und nickte.
Loewi erinnerte an die öffentliche Empörung nach dem Unfall, an Heuwiesers Rücktritt von seinen diversen politischen Ämtern und die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten.
»Auf Bewährung. Schon drei Jahre später zog er wieder in den Landtag ein, weil wir Bayern ein großes Herz für arme Sünder haben - zumindest für die aus der Politik«, sagte Schwarz und stand auf, um sich noch mal Kaffee zu holen.
»Noch einen für Sie?«
Der Anwalt schüttelte den Kopf.
»Warum erzählen Sie mir eine Geschichte, die ich kenne, Herr Loewi?«
»Die Sie kennen?« Er lächelte ein klein wenig überheblich. »Was wissen Sie denn über den Mann, den Heuwieser tötete?«
Schwarz schob die Unterlippe nach vorn. »Er war Rentner, glaube ich, und ist in einem kleinen Fiat gefahren, mit dem er keine Chance gegen die schwere Limousine vom Heuwieser gehabt hat.«
»Richtig. Und weiter?«
Schwarz machte eine bedauernde Geste.
»Dann sage ich es Ihnen. Er hieß Josef Rojewski, hatte das KZ Dachau überlebt und war auf dem Weg in seine polnische Heimat, die er nach 1945 nie mehr besucht hatte. Er wollte nach Auschwitz, wo seine Eltern umgebracht worden waren.«
Nein, das hatte er nicht gewusst.
»Das war damals aber in allen Zeitungen zu lesen, Herr Schwarz.«
»Dann muss ich es vergessen haben.«
»Vergessen«, wiederholte der Anwalt und blickte gedankenverloren auf die Kreuzung vor dem Haus. Schwarz ließ etwa hundertfünfzig der dreißigtausend Autos vorbeifahren, die jeden Tag die Landsberger Straße heimsuchten, dann räusperte er sich. Als Loewi sich umdrehte, meinte er einen feuchten Glanz in dessen Augen zu sehen, aber vielleicht täuschte er sich auch.
»Am 22. Juni 2004«, sagte der Anwalt, »steuerte der zwanzigjährige Tim Burger den Geländewagen seiner Mutter in eine Gruppe Jugendlicher.«
Schwarz nickte. »Ein Toter, zwei Schwerverletzte. Wenn man Richtung Innenstadt fährt, kann man an der Unfallstelle noch Spuren sehen.«
»Es war kein Unfall.«
»Eine Amokfahrt, ich weiß.«
»Genau das ist die Frage. Die jungen Leute kamen vom Training. Sie waren Mitglieder eines Sportvereins, Blau- Weiß 57.«
»Und?«
»Ein jüdischer Verein.«
Schwarz lachte. »Jüdisch? Blau-Weiß?«
»Bayerisch wäre weiß-blau. Ich habe Hinweise, dass Burger Neonazi ist, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er gezielt Juden töten wollte.«
Schwarz wusste einiges über den Fall. Er hatte sich nicht lange nach seiner Entlassung aus dem Polizeidienst ereignet, und die Ermittlungen waren bei seiner ehemaligen Abteilung gelegen. Aber das band er Loewi jetzt nicht auf die Nase. Stattdessen fragte er scheinheilig, wie denn das Gericht geurteilt habe.
»Es hat einen antisemitischen Hintergrund ausgeschlossen. Burger hat nur sechs Jahre Jugendstrafe bekommen, seine blindwütige Tat sei durch eine schwere Lebenskrise ausgelöst worden.«
»Was Sie bezweifeln?«
»Richtig.«
»Und ich soll stichhaltige Beweise für Burgers rechtsextremistische Gesinnung liefern? Für eine Wiederaufnahme des Verfahrens?«
Loewi nickte. »Wir müssen unbedingt verhindern, dass Burger vorzeitig entlassen wird.«
Diesmal trat Schwarz selbst ans Fenster. Er starrte auf die Kreuzung der Landsberger mit der Offenbacher Straße und das unbebaute Grundstück daneben, auf dem überlebensgroße Bronzeskulpturen zum Verkauf angeboten wurden. Welcher vernünftige Mensch, dachte er, stellt sich bloß solche Scheußlichkeiten in den Garten, einen Hirsch, ein Nashorn oder King Kong?
»Herr Schwarz?«
Er drehte sich um und betrachtete Loewi. Verbarg sich hinter der Maske des seriösen Anwalts ein Verrückter? Klienten, die an Verschwörungen glaubten, gehörten zu den unangenehmsten überhaupt. »Sie vermuten also, dass nicht nur dieser Burger, sondern auch Carl Heuwieser gezielt Juden aufs Korn genommen hat?«, versuchte Schwarz Loewi aufs Glatteis zu locken.
»Wie bitte? Halten Sie mich für verrückt?«
»Nein«, stammelte Schwarz, »eigentlich nicht. Ich verstehe nur nicht, was die beiden Fälle verbindet.«
»Die blinden Flecken«, sagte Loewi.
Schwarz runzelte die Stirn.
»Ich bin seit mehr als dreißig Jahren Anwalt und immer wieder darauf gestoßen. Polizisten, Richter, Zeugen, alle leiden an diesem Phänomen.«
»Den blinden Flecken?«
»Ja, entweder wird die jüdische Identität der Opfer ausgeblendet oder der rechtsextremistische Hintergrund der Täter. Manchmal mag das politisches Kalkül sein, um die Statistik zu schönen, meistens aber geschieht es unbewusst. Den Fall Heuwieser habe ich nur angesprochen, um Ihnen zu zeigen, dass auch Sie diese Löschfunktion im Kopf haben. «
»Ich? Ich frage ja auch nicht, ob ein Opfer Katholik oder Protestant ist, Herr Loewi. Weil es keine Rolle spielt.«
»Einverstanden. Aber wenn die Religion der Grund für einen Mordanschlag war, sollte es doch wohl eine Rolle spielen. Und erst recht, wenn der Täter möglicherweise nach wie vor zur Gewalt gegen Juden entschlossen ist.«
3. Schwarz hatte um Bedenkzeit gebeten. Reine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ohne Sinn und Aussicht auf Erfolg versuchte er grundsätzlich zu vermeiden. Um frei entscheiden zu können, welchen Auftrag er übernahm und welchen er ablehnte, hatte er sich vor einiger Zeit als Wachmann bei einem Konsulat verpflichtet. Der Verdienst reichte zumindest für die Mietkosten seiner extravaganten Unterkunft.
Schwarz überlegte. War es denkbar, dass ein Mordanschlag mit antisemitischem Hintergrund als wahllose Verzweiflungstat eines seelisch Verirrten eingestuft und mit einer viel zu milden Jugendstrafe geahndet worden war? Oder hatte Loewi sich da in etwas verrannt?
Was sagt mir mein Gefühl, dachte Schwarz. Sein Gefühl schwieg.
Er musste also auf anderem Wege zu einer Entscheidung kommen. Außer der Tatsache, dass seine ehemaligen Kollegen von der Kripo mit den Ermittlungen betraut gewesen waren, gab es noch eine weitere Verbindung zu dem Fall. Tim Burger hatte einige Jahre das Pasinger Gymnasium besucht, das Monika als Direktorin leitete.
Schwarz traf pünktlich zur Pause ein.
Die Schüler strömten aus allen Türen in den asphaltierten und mit zwei armseligen Bäumchen dekorierten Pausenhof. Monika hatte sich immer geärgert, dass ihr Mann Lehrer maßlos dafür bewunderte, dass sie bei diesem Höllenlärm nicht gewalttätig wurden. Als hätten sie keine anderen Verdienste.
Schwarz wusste, dass seine Frau den Kontakt mit den Schülern suchte und ihr Büro so oft wie möglich verließ. Es dauerte nicht lange, da tauchte sie auf, ein sportlicher Typ im khakifarbenen Hosenanzug mit dezent gesträhnter, dunkelblonder Kurzhaarfrisur. Ihre 47 Jahre sah man ihr nicht an. Sie sprach mit einigen der Schüler und schien ganz in ihrem Element. Als Monika Schwarz ihren Mann bemerkte, verfinsterte sich ihre Miene. »Hey, du weißt genau, dass du hier nicht einfach aufkreuzen sollst.« Sie nahm ihn zur Seite. »Was ist denn, Anton?« Niemand konnte den Namen Anton schauerlicher klingen lassen als sie.
»Ich bräuchte deinen Rat.«
Monika stöhnte. »Wir haben uns getrennt.«
»Du ziehst es vor, dass wir in getrennten Wohnungen leben«, korrigierte Schwarz sie sanft, »vorübergehend.«
Monika war klug genug, das Thema nicht zu vertiefen. Schwarz war dazu fähig, ihr vor allen Schülern seine Liebe zu erklären.
»Um was geht es denn?«
»Um einen Fall, den ich übernehmen soll. Erinnerst du dich an Tim Burger?«
Monika nickte.
»Hast du ihn mal als Lehrerin gehabt?«
»Ja, in dem Jahr, in dem er von der Schule flog.«
»Wieso habt ihr ihn rausgeworfen?«
»Das darf ich dir nicht sagen.«
»Mir genügt eine Andeutung.«
»Wir haben ihn nicht mehr in den Griff gekriegt.«
»Drogen? Psychische Probleme?«
»Anton, ich darf keine Auskünfte über Schüler geben.«
Schwarz sah, dass Monika um die Hüften herum ein klein wenig zugelegt hatte. Es störte ihn nicht. Sein Blick wanderte zu dem zarten Flaum an ihren Schläfen, den er so liebte, und zu den Lachfältchen um ihre grünblauen Augen.
»Hör auf, mich wie ein Dackel anzuschauen, Anton.«
»Hat Tim Burger jemals schlecht über Juden gesprochen? «
»Was?« Sie blickte ihn irritiert an.
»Sag schon, hat er?«
»Du weißt, wie viel Blödsinn da geredet wird. Die meisten meiner Schüler haben noch nie einen Juden gesehen, aber wenn ich frage, ob die Juden in Deutschland zu viel Einfluss hätten, antwortet ein Drittel mit Ja.«
»Burger auch?«
»Daran erinnere ich mich wirklich nicht mehr.«
Er bemerkte, dass sie seinem Blick auswich. »Aber an was anderes erinnerst du dich, stimmt's?«
Monika berührte Schwarz leicht am Arm und lotste ihn zu einem Mauervorsprung am Rand des Pausenhofs.
»Wir haben nicht über Tim gesprochen, okay?«
»Einverstanden.«
Sie erzählte, wie Tim Burger sie einige Monate nach seinem Schulausschluss auf der Straße abpasste. Er sei völlig durcheinander gewesen.
»Um was ging es?«
»Um Linda, die Prinzessin. Tim war mit ihr zusammen gewesen. Mit dem begehrtesten Mädchen der ganzen Schule, verstehst du?«
»Sie hat ihn verlassen. Warum?«
»Sie muss von ihm irgendeine abstruse Mutprobe gefordert haben, aber er hat gekniffen. Daraufhin hat sie unter der Überschrift Wieso ich nicht mit einem Loser zusammen sein will Tims peinlichste Fotos und dümmste Sprüche ins Internet gestellt. Doch selbst damit wurde sie ihn nicht los.«
»Das kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Also, bitte! Ich habe unsere Trennung immer diskret behandelt.«
»Ich meinte, dass du mich nicht loswirst.«
»Ich kann es ja machen wie Linda. Sie muss Tim mehr oder weniger dazu eingeladen haben, ihr beim Sex mit seinem Nachfolger zuzugucken.«
Schwarz schluckte.
»Entschuldige, Anton, das war gemein.« Diesmal ließ sie seinen Namen ganz anders klingen. Anton, mit einem tief aus der Brust kommenden, leicht vibrierenden A.
»Schon okay«, sagte Schwarz.
Monika wandte sich zum Gehen. »Tim Burger hat Linda jedenfalls unmittelbar vor seiner Amokfahrt mit dem anderen im Bett erwischt. Aber daran erinnerst du dich bestimmt. Die Presse hat es ja in allen Einzelheiten durchgehechelt. «
Schwarz erinnerte sich nicht. Merkwürdig. Gab es bei ihm vielleicht noch andere blinde Flecken als die von Loewi erwähnten? Flecken, die sich gnädig über Ereignisse legten, die ihn an Monikas unverständlichen und schmerzhaften Rückzug erinnern könnten?
»Wie heißt diese Linda mit Nachnamen?«, rief Schwarz Monika nach.
»Heintl. Linda Heintl.«
4. Seine vor vier Jahren noch fast kindlichen Gesichtszüge waren kantig geworden. Er trug das Haar kurz geschnitten und gescheitelt und legte Wert darauf, dass es ihm nicht in die Stirn fiel. Für einen Besuch bei einem anständigen Friseur, spotteten seine Mithäftlinge, würde er sich sogar vögeln lassen. Allerdings wagte keiner, so etwas laut zu sagen, denn Tim Burger war gefürchtet. Es gab Gerüchte, zu Beginn seiner Haftzeit habe er einen Zellengenossen halb totgeprügelt.
»Siebenunddreißig«, keuchte er.
Tim belastete bei seinen Liegestützen nicht wie üblich die Handflächen oder wie die härteren Jungs im Knast die Fäuste. Bei ihm drückte das gesamte Gewicht auf die Fingerknöchel. Er ärgerte sich, weil die Haut an zwei Fingern platzte und das Blut auf dem Boden Flecken hinterließ.
»Dreiundsechzig.«
Die anderen Knackis täuschten sich, wenn sie glaubten, sein Ziel wäre es, eine menschliche Kampfmaschine zu werden. So primitiv war er nicht. Ihm ging es nicht um die
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Autoren-Porträt von Peter Probst
Peter Probst, 1957 in München geboren, studierte Germanistik, Italienische Literatur und Katholische Theologie in seiner Heimatstadt und in Rom. Er war Regieassistent, Regisseur und Dozent an Filmakademien und schrieb seit 1982 etwa neunzig Drehbücher, vor allem für Fernsehspiele und Krimis wie den 'Tatort'. Mit seiner Frau Amelie Fried hat er die Kinderkrimireihe 'Taco und Kaninchen' verfasst und an ihrem Bestseller 'Schuhhaus Pallas - Wie meine Familie sich gegen die Nazis wehrte' mitgearbeitet. Seit der Gründung des Vereins 'Lichterkette' engagiert er sich gegen Ausländerfeindlichkeit und für Integration. Peter Probst lebt mit seiner Familie im Süden von München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Peter Probst
- 2010, 1. Auflage, 256 Seiten, Maße: 12,1 x 19,2 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423211954
- ISBN-13: 9783423211956
- Erscheinungsdatum: 20.01.2010
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