Schwarze Witwen
Auf mysteriöse Weise kommen in West Palm Beach ältere Damen ums Leben. Alle hatten vor kurzem ihre Lebensversicherung ausgezahlt bekommen. Weil die Polizei nicht weiterkommt, ruft Rechtsanwalt Billy Manchester erneut seinen Freund Max Freeman zu Hilfe....
Auf mysteriöse Weise kommen in West Palm Beach ältere Damen ums Leben. Alle hatten vor kurzem ihre Lebensversicherung ausgezahlt bekommen. Weil die Polizei nicht weiterkommt, ruft Rechtsanwalt Billy Manchester erneut seinen Freund Max Freeman zu Hilfe.
Der Ex-Cop kommt einem groß angelegten Betrug auf die Spur. Steckt noch mehr dahinter?
Schwarze Witwen von Jonathon King
LESEPROBE
Eddie wusste, dasser unsichtbar war. Das hatte er immer schon gewusst. Tag für Tag, Jahr für Jahrhatte er sich immer mehr verschwinden sehen. Als jungen Menschen hatten ihnalle sehen können, damals, als er noch eine Zielscheibe gewesen war. Fürdiejenigen, die ihn Fat Albert oder Donkey Kong genannt hatten, wenn er zurBushaltestelle gegangen war, oder für diejenigen, die mit aufgeblasenen Wangenund ausgestreckten Armen seinen watschelnden Gang nachgemacht hatten. Dannhatte er schweigend den Kopf hängen lassen und seine dicken Schulternhochgezogen. Er hatte die Worte gehört. Er kannte das Grinsen auf ihrenGesichtern, bemerkte ihre goldenen Kettchen um den Hals, erkannte all die Logosund Schuhmarken. Sie dachten, er sei ein Idiot und zu dämlich, um zu wissen,wer wem was angetan hatte. Zu dämlich, um zu wissen, wer der Angreifer und werdas Objekt war. Aber Eddi beobachtete alles und jeden. Er senkte den Kopf, docher schielte ständig nach links und rechts. Niemand sah, was er jeden Tag - undvor allem nachts - beobachtete. Es war nachts, als Eddi das erste Malunsichtbar wurde. Seit er zwölf oder dreizehn Jahre alt war, streunte er durchdie nächtlichen Straßen, und er kannte alle Abkürzungen und Zäune, alleSchatten zwischen den Straßenlaternen. Bald wusste er diese Dinge auch, ohnedarüber nachzudenken. Wann die Ampel an der Twenty-fourth Street Ecke SunriseBoulevard umsprang, wann die letzten Sonnenstrahlen über den leeren Platz vomEinkaufszentrum fielen, wann die Ampeln blinkten, wann der Blue Goose BeerSaloon schloss und dort die Plastikmülltonnen und Speisereste herausgebrachtwurden. In der Dunkelheit wusste Eddie, wo die Hunde gehalten wurden und welcheer mit rohem Fleisch durch den Maschendrahtzaun hindurch füttern und ihnenleise Worte
Mannherangewachsen, der fast jeden Tag das gleiche dunkle T-Shirt und die gleichedunkle Hose trug. »Meine Arbeitsklamotten«, nannte er sie. Überall ging er zuFuß hin, nicht ein Mal fuhr er mit dem Bus. Seine Mutter hatte noch nie einAuto besessen. Irgendwann fand er einen verlassenen Einkaufswagen. Die Sonnefunkelte auf dem Drahtgitter, und auf dem Griff stand Winn-Dixie. Diesen Wagenfüllte er mit allem, was ihm gefiel: Metallreste und Aluminiumdosen zumVerkaufen, Decken und alte Mäntel zum Wärmen, Whiskey- und Weinflaschen alsseine Begleitung. Er schob den Wagen durch die Gassen und Straßen und stellteihn neben sich ab, wenn er sich auf eine Bank setzte, während alle anderenaufstanden und fortgingen. Eddie beobachtete sie alle. Menschen auf dem Weg zurArbeit. Mütter auf dem Weg in die Klinik, ihre Kinder im Schlepptau. KicherndeMädchen, die einander Geheimnisse zuflüsterten. Doch mit den Jahren blieben sienicht mehr stehen, um ihn zu beobachten. Mit der Zeit war Eddie noch nichteinmal mehr ein Makel im Viertel, sondern er gehörte einfach zur Realität - einvor sich hin schlurfendes Nichts. Da man Eddie nicht sehen konnte, hatte erauch keine Angst vor der Nacht. Deswegen stand er jetzt in dermitternächtlichen Stille eines Flammenbaums, der sich wie ein Leichentuch überdas Eckschlafzimmer von Ms. Philomenas Haus ausbreitete, und beobachtete, wieein Licht nach dem anderen gelöscht wurde, bis nur noch ein blauer Schimmer imZimmer der alten Frau zu erkennen war. Doch Eddie wartete weiterhin. EineStunde. Zwei. Er kannte Ms. Philomena seit seiner Kindheit. Sie hatte ihreKinder zur Bushaltestelle gebracht, hatte ihre Arbeitskleidung angehabt, einlanges, bedrucktes Kleid mit weißer Schürze und weißen Schuhen für ihre Arbeitim Osten der Stadt. Sie war schon damals alt gewesen. Aber jetzt sah Eddie sienie mehr draußen. Nur hin und wieder kam jemand zu Besuch, ihre Tochtervielleicht, und das auch tagsüber. Eddie hatte Ms. Philomenas graues Haar nurgesehen, wenn sie in der Tür gestanden hatte. Dann hatte sie sich umgedreht undwar wieder hineingeschlurft, um den Besuch eintreten zu lassen. Dochmittlerweile klopfte auch ihre Tochter nicht mehr an, sie öffnete einfach dieTür und rief »Mama?«, bevor sie im Haus verschwand. Eddie wusste, dass die alteFrau schwach war. Heute war ihre Zeit gekommen. Er verließ den Schatten unterdem Baum. Seit zwei Stunden war niemand durch die Gasse gekommen. Er überquerteden schmalen Hof und kniete vor der Jalousie des Sonnenzimmers, wo er ausseiner Tasche ein Paar Socken zog. Diese streifte er über seine Hände und holteaus der anderen Tasche einen Schraubenzieher. Unsichtbar im Schatten, beganner, leise die alten, verwitterten Aluminiumhalterungen der Glasscheibenaufzustemmen. Nachdem er diese Halterungen aufgebogen hatte, nahm er dieScheiben vorsichtig heraus und legte sie der Reihe nach auf den Boden. AchtScheiben waren es, dann war er drin. Eddie mochte ein großer Mann sein, aber erwar nicht ungeschickt. Sein ganzes Leben lang hatte er damit zugebracht, nichtungeschickt zu sein. Er bewegte sich zielstrebig und präzise. Sobald er im Hauswar, atmete er den Geruch von Kampfer und alten Zierdeckchen ein, den Geruchvon grünem Tee und jahrelanger Feuchtigkeit. Der Boden bestand wie in so vielenHäusern in Florida, die in den Sechzigerjahren gebaut worden waren, aus hartemZementmosaik. Kein knarrendes Holz, keine herausstehenden Balken. Über den Flurging Eddie dem blauen Schimmer entgegen. An der Schlafzimmertür blieb er stehenund lauschte auf Atemgeräusche, etwas, das er trotz des rauschenden Fernsehershören konnte, ein Husten, ein Räuspern, mit dem sie sich von altem Schleimbefreite. Nichts. Aus dem Bad auf der anderen Seite des Flurs wehte ihm derGeruch von Fliederseife entgegen. Mehrere Minuten blieb er regungslos stehen,bis er sicher war. Ms. Philomena lag im Bett, ihre mageren Schultern von einemCordkissen gestützt. Ihr graues Haar schimmerte im Licht des Fernsehers weiß,ihre Lippen waren zu einem schlaffen O geformt. Durch die Schatten auf ihrerkaramellfarbenen Haut sahen die Wangenknochen aus, als ragten sie weit hervor,und die Augen wirkten eingesunken. Sie ist schon fast tot, sagte sich Eddie. Ersah nicht hinüber zu dem alten Fernsehgerät, das ihn nur geblendet hätte, sodass er im Dunkeln weniger gesehen hätte. Vorsichtig trat er ans Bett und legteseine starken, breiten Hände, an denen er immer noch die Socken trug, über Ms.Philomenas Nase und Mund. Er war überrascht, wie wenig sie sich wehrte. IhrKörper zuckte kurz, und ihre Fingerspitzen berührten nur schwach die Wolle aufseiner Hand, bevor er das leise Wimmern des Todes hörte und sie in sichzusammensank. Eddie bewegte sich nicht. Er drückte seine Hände so fest auf ihrGesicht, dass sie nicht mehr atmen konnte. Als er sich sicher war, richtete ersich auf und legte Ms. Philomenas Hände wieder auf ihren Oberkörper. Dann schober das Kissen zurecht und ging. Draußen setzte er vorsichtig die Scheibenwieder ein und drückte die Halterungen mit den Daumen gerade. Sie war dochsowieso schon fast tot, flüsterte er. Als er zur Gasse hinter dem Hauszurückging, strich der Wind durch das Blätterdach des Flammenbaums vor demFenster der alten Dame und ließ die orangefarbenen Blüten, die in der Kälte desHerbstes dunkel und welk geworden waren, auf ihn herabregnen.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Droemer Knaur,München
Übersetzung: Helmut Splinter
Autoren-Porträt von Jonathon King
Jonathon King war zwanzig Jahre Gerichtsreporter undJournalist in Philadelphia und berichtete über Verbrechen und aufsehenerregendeProzesse, bevor er sich dem Schreiben von Thrillern zuwandte. Heute lebt er imSüden Floridas und arbeitet für die Zeitung Sun-Sentinel.
- Autor: Jonathon King
- 2005, 320 Seiten, Maße: 11,4 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: DROEMER KNAUR
- ISBN-10: 3426627922
- ISBN-13: 9783426627921
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