Schwarzer Himmel, schwarzes Meer
Istanbul in den 70er Jahren - ein Roman über die Liebe, die Loyalität und das politische Erwachen, vor allem der Frauen. Liebesgeschichte, politisches Buch und Entwicklungsroman in einem - Schwarzer Himmel, schwarzes Meer handelt von den politischen Wirren...
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Produktinformationen zu „Schwarzer Himmel, schwarzes Meer “
Istanbul in den 70er Jahren - ein Roman über die Liebe, die Loyalität und das politische Erwachen, vor allem der Frauen. Liebesgeschichte, politisches Buch und Entwicklungsroman in einem - Schwarzer Himmel, schwarzes Meer handelt von den politischen Wirren und bürgerkriegsähnlichen Zusammenstößen in der Türkei der Jahre 1977-1981 und von den persönlichen Entscheidungen, die man als junger Mensch in dieser Zeit treffen muss
Klappentext zu „Schwarzer Himmel, schwarzes Meer “
Istanbul in den 70er-Jahren ein Roman über die Liebe, die Loyalität und das politische Erwachen, vor allem der FrauenLiebesgeschichte, politisches Buch und Entwicklungsroman in einem "Schwarzer Himmel, schwarzes Meer" handelt von den politischen Wirren und bürgerkriegsähnlichen Zusammenstößen in der Türkei der Jahre 1977 1981 und von den persönlichen Entscheidungen, die ein junger Mensch in dieser Zeit treffen muss.
Istanbul, 1977. Der 18-jährige Schüler Eiche nimmt zum ersten Mal an einer 1.-Mai-Kundgebung teil. Als die Demonstranten auf dem Taksin-Platz beschossen werden und Panik ausbricht, lernt Eiche die charismatische Zuhal kennen, die ihn in Sicherheit bringt. Zuhal gehört der revolutionären Studentenbewegung an, und durch sie erkennt Eiche, dass er Stellung beziehen muss. Obwohl er eine Freundin hat, die er heiraten will, kann er Zuhal nicht vergessen, und als sie tatsächlich erneut in sein Leben tritt, verfällt er ihr endgültig. Er verlässt seine Freundin, schließt sichnach der Schule der Studentenbewegung an und begleitet Zuhal zu politischen Kundgebungen. Doch als sie radikaler wird in ihren politischen Kämpfen, verliert er sie erneut aus den Augen In diesem atmosphärisch dichten, ereignisreichen Roman wird eine Zeit wieder lebendig, in der politische Ideale das Zusammenleben bestimmten und in Istanbul gerade die türkischen Frauen nach Freiheit und Unabhängigkeit strebten und entschlossen waren, sich das zu nehmen, was ihnen zusteht.
Lese-Probe zu „Schwarzer Himmel, schwarzes Meer “
Schwarzer Himmel, schwarzes Meer von Izzet CelasinLESEPROBE
1
Mai 1977
Vom Wohngebiet bei der Feuerwache erstreckt sich der byzantinische Aquädukt die Hauptverbindungsstraße entlang bis hinunter in den Hinterhof des Stadttheaters. Dichter Verkehr pulsiert über vier Spuren durch die noch immer standhaften Arkaden. Der Saraçhaneplatz ist eingerahmt vom Park gleichen Namens, den historischen Ruinen des Aquädukts, der Sehzade Moschee und dem Rathaus. Eine geschäftige, lebendige Gegend mit lärmendem Verkehr, öffentlichen Büros, Theatern und Kinos. An diesem Tag fiel nicht die Abwesenheit der Autos auf der breiten Straße am meisten auf, sondern der nicht enden wollende Strom von Menschen. Sie drängten aus allen Richtungen auf den Platz, wo man sich bereitmachte, den Mai zu feiern, genau wie an vielen anderen Orten Istanbuls auch. Ich hatte die Schule vormittags gegen zehn Uhr in Begleitung einiger Klassenkameraden verlassen. Eine Gruppe 18-Jähriger mit Kribbeln im Bauch. Keiner von uns war jemals zuvor auf einer Kundgebung zum 1. Mai gewesen. Den Gerüchten zufolge hatte die Polizei in der Innenstadt Straßensperren errichtet und bereits Menschen verhaftet. Der Gedanke, möglicherweise selbst festgenommen zu werden, erfüllte uns derart mit Spannung und Nervosität, dass wir auf dem ganzen Weg in Richtung Saraçhane johlten, lachten und rannten. Der Platz dort war der Sammelpunkt für die Bewohner unseres Teils der Stadt. Von da aus sollte sich der Zug in Richtung Taksim-Platz bewegen und sich dann mit fünf oder sechs anderen Zügen aus den übrigen Stadtteilen vereinen. Die Gewerkschaften und andere Organisationen hatten die bevorstehende Demonstration bereits im Vorfeld als größte Kundgebung seit menschengedenken gefeiert, während die Redakteure der bürgerlichen Zeitungen von einer »Generalprobe
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für die Revolution« sprachen und die Polizei aufforderten, Istanbul auf keinen Fall den Roten in die Hände fallen zu lassen. Als wir den Saraçhane-Platz erreichten, herrschte dort bereits Volksfeststimmung mit Musik, Tanz und einem Meer aus Bannern und roten Fahnen.
Diverse Redner sprachen, doch nur die wenigsten hörten ihnen zu. Die Luft war von einem beständigen Summen erfüllt, so als hätte sich ein Bienenschwarm aus der Menschenmenge erhoben. Alles war neu für uns, wir liefen von einer Gruppe zur anderen und kamen mit wildfremden Menschen ins Gespräch. Man hatte das seltsame Gefühl, mit all diesen Unbekannten etwas Großes zu teilen. Niemals zuvor hatte ich außerhalb der Schule so viele Frauen an einem Ort gesehen. Viele von ihnen diskutierten lebhaft miteinander, verteilten Flugblätter, verkauften Zeitungen, sammelten Geld für irgendetwas oder trugen sogar Armbinden, die sie als Ordnerinnen auswiesen.
Nach einer Weile gingen wir in Richtung Park, wo sich die verschiedenen Gruppen der Studentenbewegung unter eigenen Bannern versammelt hatten. Man spekulierte aufgeregt darüber, wann sich der Zug wohl in Bewegung setzen würde. Es war bald Mittag, und laut Programm war der Startschuss in den anderen Stadtteilen bereits gefallen. Ungeduld breitete sich aus, Gerüchte machten die Runde und es verging nicht eine Minute, in der nicht neue, chaotische, sich widersprechende Informationen zu einem drangen. Dabei wusste niemand genau, was uns davon abhielt, einfach aufzubrechen. Zeigte sich einer der bekannten Studentenführer, schwoll das Raunen in der Menge an, um gleich darauf wieder enttäuscht abzuebben.
Wir waren ungeduldig, genau wie die anderen. Also vertrieben wir uns die Zeit mit höhnischen Bemerkungen darüber, dass sich die »Führungsfiguren« ebenso hilflos benahmen wie wir selbst. Besonders einer, der sich sicher seit Beginn der 70er- Jahre nicht mehr in der Nähe einer Bildungseinrichtung hatte blicken lassen. Er trug trotz des milden Frühlingswetters einen langen schwarzen Mantel über der Schulter. Mit einem Leibwächter an jeder Seite stolzierte er wie ein Gockel umher. Als wir erfuhren, dass unser Zug durch Meinungsverschiedenheiten zwischen den Sowjetfreundlichen und den Maoisten aufgehalten worden sei, liefen wir zum Aquädukt, wo die Führer aller politischen Gruppierungen lautstark miteinander strittten, von schaulustigen Anhängern umringt.
Die Stimmung war aufgeheizt, es hagelte Schimpfworte, eingebettet in politische Terminologie. Ich verstand nicht, warum man sich derart über Worte wie »Revisionist«, »Opportunist« oder »Hasardeur« aufregen konnte. Ich hatte es überhaupt nur meinem Interesse für politische Literatur zu verdanken, dass mir diese Begriffe etwas sagten. In meinen Ohren waren das keine Beleidigungen. Offensichtlich konnte man das aber auch anders sehen. Das Misstrauen und die Abscheu der Gruppierungen voreinander ärgerte nicht nur mich. Vereinzelt waren Rufe zu hören »hört endlich auf damit«, »lasst uns gemeinsam handeln!«
Aber die Agitatoren und ihre Anhänger waren in der Überzahl. Die Sowjetnahen wollten die Maoisten nicht dabeihaben, und die Maoisten konterten ihrerseits, sie hätten ein Patent auf das Wort »Proletariat«. Die Unabhängigen ohne Bindung an die Sowjetunion oder an China versuchten vergeblich zu vermitteln. Die Parteien machten keine Anstalten, von ihren Standpunkten abzuweichen, vermutlich wäre ihnen das wie Fahnenflucht vorgekommen. Alle wollten für die Arbeiterklasse eintreten, die ihrerseits unsicher war, welche der Parteien sie am besten vertrat. Einer der Arbeiter, er trug einen Overall, rief: »Dann werft doch eine Münze!« Wir lachten. Die Zeit verging und wir wussten nicht, ob wir uns amüsieren, langweilen oder ärgern sollten.
Keinem von uns fiel auf, dass nur sehr wenige Polizisten rund um den Markt zu sehen waren. Als sich der Zug endlich in Bewegung setzte, tat er das im Schneckentempo. Die Studenten dienten als Puffer, denn hinter uns gingen die Maoisten mit ihren Bannern und Megaphonen. So entwickelte sich das Ganze zu einem wahren Krieg der Parolen. Von vorne bekamen wir zu hören, wie schlimm die maoistischen Nationalisten seien, während die Reihen hinter uns die sowjetischen Sozialfaschisten verdammten. Die Unabhängigen versuchten, auf die Bedeutung des Tages aufmerksam zu machen, doch das wurde von den anderen übertönt. Ich beteiligte mich nicht an diesem Krieg der Parolen. Ich singe lieber, statt Schlagworte zu grölen. Als wir unter den Arkaden des Aquädukts hindurchkamen, dort, wo die Straße einen Knick macht und leicht abschüssig wird, verschlug es mir den Atem:
Vor mir war eine gewaltige Menschenmenge. Vergessen waren das endlose Warten, die dummen Streitereien, der Hunger, der Durst und die Hitze. Die Masse, die vor meinen Augen auftauchte, erfüllte mich mit Stolz und Freude. Ein Riese war erwacht und hatte sich zu regen begonnen. Seine schweren Schritte konnte man beinahe hören. Die Gewissheit, eine Zelle dieses riesigen Körpers zu sein, reichte schon aus, um sich unbezwingbar zu fühlen. Es wäre die reinste Freude gewesen, die bange Ahnung der Bürgerschaft zu bestätigen und die Macht in Istanbul an uns zu reißen – und zwar dieses Mal nicht von hilflosen Byzantinern, sondern von einer grausamen, verkommenen, korrupten Macht. Sultan Mehmet hätte sicher keine Einwände gehabt. Sein stolzes Heer, das im Mai 1453 vielleicht an genau dieser Stelle haltgemacht hatte, war verglichen mit uns nur eine Dorfversammlung gewesen.
Als wir die Unkapani-Brücke über das Goldene Horn erreichten, schoben sich weit vor mir die Menschenmassen durch die engen Gassen der Altstadt. Es war noch weit bis zum Taksim-Platz, und eine lange, anstrengende Steigung lag vor uns. Die Zeit verging. Ich befürchtete, die Kundgebung könne sich auflösen, ehe wir den Platz erreichten, und wir damit den Höhepunkt verpassen.
In meiner Mutlosigkeit beugte ich mich über das Geländer und blickte nach unten: Jollen dümpelten gemächlich in dem braunen Wasser; etwas entfernt sah ich die Galata-Brücke und dahinter einen Zipfel des Bosporus in der Nachmittagssonne. Noch immer waren ein paar Mitschüler in meiner Nähe; sie rauchten und redeten und schienen ebenso besorgt zu sein wie ich. Ich fragte mich, was mit den anderen geschehen war. Wir hatten sie in der Menschenmenge aus den Augen verloren. Einer meinte, wir könnten ebenso gut zurück zur Schule gehen. Dieses Warten sei zwecklos, außerdem könne der Aufsichtslehrer misstrauisch werden, wenn wir nicht rechtzeitig wieder auftauchten. Vielleicht hätten wir das auch getan, wäre uns nicht in diesem Moment mitgeteilt worden, dass die Verzögerung dadurch zustande kam, dass so viele Menschen auf den Platz strömten und entsprechend verteilt werden müssten. Schließlich setzte sich der Demonstrationszug wieder in Bewegung. Ich fand meinen Optimismus wieder und fasste einen Entschluss. Ich wollte auf jeden Fall dableiben und so viel mitbekommen wie eben möglich. Mit jedem Schritt wuchs meine Freude, ich war glücklich, fühlte mich lebendig. Und die gute Laune war ansteckend, denn all die Gesichter um mich herum strahlten um die Wette.
Das Nadelöhr war überwunden und wir eilten die Straße in Richtung Sishane hinauf. Es sah komisch aus, wie all die lachenden Menschen die Zurückbleibenden anfeuerten oder ihnen weiterhalfen. Und nicht nur die Demonstranten freuten sich. Auch die Frauen, Kinder und Männer am Straßenrand johlten und klatschten, und vereinzelt wurden sogar Blumen geworfen.
Hinter Tepebas ¸i wurden wir wieder langsamer. Jetzt kam der Zug nur noch widerstrebend vorwärts. Es war deutlich zu spüren, wie sich die Masse gegen etwas presste, das Widerstand leistete. Das lag daran, dass sich der Menschenstrom bei Galatasaray teilte und in die Seitenstraßen drängte, die zum Platz führten. Ich war noch immer bei der Gruppe der Studentenverbände, hatte meine Kameraden aber aus den Augen verloren. Und dann mussten wir aufgeben.
In einer kleinen Straße nur wenige Hundert Meter vom Platz entfernt, ging es nicht mehr weiter. Es nützte nichts, sich weiter nach vorne zu schieben. Wir hatten von den Sicherheitskräften erfahren, dass die Zugänge zum Platz aufgrund der ungeheuren Menschenmasse abgeriegelt worden seien. Ich war so nah dran und doch so weit weg. Der Traum davon, auf den Platz zu marschieren, von jubelnden Massen empfangen zu werden und vielleicht auf das Monument der Freiheit zu klettern, um auf alle schauen zu können, denen diese Stadt gehörte, war zerplatzt. Ich setzte mich auf den Bürgersteig. Um mich herum standen die Menschen dicht an dicht, immerfort stieß mich jemand an, aber ich war zu müde, um mich groß darum zu kümmern.
© Kiepenheuer & Witsch Verlag
Übersetzung: Günther Frauenlob
Diverse Redner sprachen, doch nur die wenigsten hörten ihnen zu. Die Luft war von einem beständigen Summen erfüllt, so als hätte sich ein Bienenschwarm aus der Menschenmenge erhoben. Alles war neu für uns, wir liefen von einer Gruppe zur anderen und kamen mit wildfremden Menschen ins Gespräch. Man hatte das seltsame Gefühl, mit all diesen Unbekannten etwas Großes zu teilen. Niemals zuvor hatte ich außerhalb der Schule so viele Frauen an einem Ort gesehen. Viele von ihnen diskutierten lebhaft miteinander, verteilten Flugblätter, verkauften Zeitungen, sammelten Geld für irgendetwas oder trugen sogar Armbinden, die sie als Ordnerinnen auswiesen.
Nach einer Weile gingen wir in Richtung Park, wo sich die verschiedenen Gruppen der Studentenbewegung unter eigenen Bannern versammelt hatten. Man spekulierte aufgeregt darüber, wann sich der Zug wohl in Bewegung setzen würde. Es war bald Mittag, und laut Programm war der Startschuss in den anderen Stadtteilen bereits gefallen. Ungeduld breitete sich aus, Gerüchte machten die Runde und es verging nicht eine Minute, in der nicht neue, chaotische, sich widersprechende Informationen zu einem drangen. Dabei wusste niemand genau, was uns davon abhielt, einfach aufzubrechen. Zeigte sich einer der bekannten Studentenführer, schwoll das Raunen in der Menge an, um gleich darauf wieder enttäuscht abzuebben.
Wir waren ungeduldig, genau wie die anderen. Also vertrieben wir uns die Zeit mit höhnischen Bemerkungen darüber, dass sich die »Führungsfiguren« ebenso hilflos benahmen wie wir selbst. Besonders einer, der sich sicher seit Beginn der 70er- Jahre nicht mehr in der Nähe einer Bildungseinrichtung hatte blicken lassen. Er trug trotz des milden Frühlingswetters einen langen schwarzen Mantel über der Schulter. Mit einem Leibwächter an jeder Seite stolzierte er wie ein Gockel umher. Als wir erfuhren, dass unser Zug durch Meinungsverschiedenheiten zwischen den Sowjetfreundlichen und den Maoisten aufgehalten worden sei, liefen wir zum Aquädukt, wo die Führer aller politischen Gruppierungen lautstark miteinander strittten, von schaulustigen Anhängern umringt.
Die Stimmung war aufgeheizt, es hagelte Schimpfworte, eingebettet in politische Terminologie. Ich verstand nicht, warum man sich derart über Worte wie »Revisionist«, »Opportunist« oder »Hasardeur« aufregen konnte. Ich hatte es überhaupt nur meinem Interesse für politische Literatur zu verdanken, dass mir diese Begriffe etwas sagten. In meinen Ohren waren das keine Beleidigungen. Offensichtlich konnte man das aber auch anders sehen. Das Misstrauen und die Abscheu der Gruppierungen voreinander ärgerte nicht nur mich. Vereinzelt waren Rufe zu hören »hört endlich auf damit«, »lasst uns gemeinsam handeln!«
Aber die Agitatoren und ihre Anhänger waren in der Überzahl. Die Sowjetnahen wollten die Maoisten nicht dabeihaben, und die Maoisten konterten ihrerseits, sie hätten ein Patent auf das Wort »Proletariat«. Die Unabhängigen ohne Bindung an die Sowjetunion oder an China versuchten vergeblich zu vermitteln. Die Parteien machten keine Anstalten, von ihren Standpunkten abzuweichen, vermutlich wäre ihnen das wie Fahnenflucht vorgekommen. Alle wollten für die Arbeiterklasse eintreten, die ihrerseits unsicher war, welche der Parteien sie am besten vertrat. Einer der Arbeiter, er trug einen Overall, rief: »Dann werft doch eine Münze!« Wir lachten. Die Zeit verging und wir wussten nicht, ob wir uns amüsieren, langweilen oder ärgern sollten.
Keinem von uns fiel auf, dass nur sehr wenige Polizisten rund um den Markt zu sehen waren. Als sich der Zug endlich in Bewegung setzte, tat er das im Schneckentempo. Die Studenten dienten als Puffer, denn hinter uns gingen die Maoisten mit ihren Bannern und Megaphonen. So entwickelte sich das Ganze zu einem wahren Krieg der Parolen. Von vorne bekamen wir zu hören, wie schlimm die maoistischen Nationalisten seien, während die Reihen hinter uns die sowjetischen Sozialfaschisten verdammten. Die Unabhängigen versuchten, auf die Bedeutung des Tages aufmerksam zu machen, doch das wurde von den anderen übertönt. Ich beteiligte mich nicht an diesem Krieg der Parolen. Ich singe lieber, statt Schlagworte zu grölen. Als wir unter den Arkaden des Aquädukts hindurchkamen, dort, wo die Straße einen Knick macht und leicht abschüssig wird, verschlug es mir den Atem:
Vor mir war eine gewaltige Menschenmenge. Vergessen waren das endlose Warten, die dummen Streitereien, der Hunger, der Durst und die Hitze. Die Masse, die vor meinen Augen auftauchte, erfüllte mich mit Stolz und Freude. Ein Riese war erwacht und hatte sich zu regen begonnen. Seine schweren Schritte konnte man beinahe hören. Die Gewissheit, eine Zelle dieses riesigen Körpers zu sein, reichte schon aus, um sich unbezwingbar zu fühlen. Es wäre die reinste Freude gewesen, die bange Ahnung der Bürgerschaft zu bestätigen und die Macht in Istanbul an uns zu reißen – und zwar dieses Mal nicht von hilflosen Byzantinern, sondern von einer grausamen, verkommenen, korrupten Macht. Sultan Mehmet hätte sicher keine Einwände gehabt. Sein stolzes Heer, das im Mai 1453 vielleicht an genau dieser Stelle haltgemacht hatte, war verglichen mit uns nur eine Dorfversammlung gewesen.
Als wir die Unkapani-Brücke über das Goldene Horn erreichten, schoben sich weit vor mir die Menschenmassen durch die engen Gassen der Altstadt. Es war noch weit bis zum Taksim-Platz, und eine lange, anstrengende Steigung lag vor uns. Die Zeit verging. Ich befürchtete, die Kundgebung könne sich auflösen, ehe wir den Platz erreichten, und wir damit den Höhepunkt verpassen.
In meiner Mutlosigkeit beugte ich mich über das Geländer und blickte nach unten: Jollen dümpelten gemächlich in dem braunen Wasser; etwas entfernt sah ich die Galata-Brücke und dahinter einen Zipfel des Bosporus in der Nachmittagssonne. Noch immer waren ein paar Mitschüler in meiner Nähe; sie rauchten und redeten und schienen ebenso besorgt zu sein wie ich. Ich fragte mich, was mit den anderen geschehen war. Wir hatten sie in der Menschenmenge aus den Augen verloren. Einer meinte, wir könnten ebenso gut zurück zur Schule gehen. Dieses Warten sei zwecklos, außerdem könne der Aufsichtslehrer misstrauisch werden, wenn wir nicht rechtzeitig wieder auftauchten. Vielleicht hätten wir das auch getan, wäre uns nicht in diesem Moment mitgeteilt worden, dass die Verzögerung dadurch zustande kam, dass so viele Menschen auf den Platz strömten und entsprechend verteilt werden müssten. Schließlich setzte sich der Demonstrationszug wieder in Bewegung. Ich fand meinen Optimismus wieder und fasste einen Entschluss. Ich wollte auf jeden Fall dableiben und so viel mitbekommen wie eben möglich. Mit jedem Schritt wuchs meine Freude, ich war glücklich, fühlte mich lebendig. Und die gute Laune war ansteckend, denn all die Gesichter um mich herum strahlten um die Wette.
Das Nadelöhr war überwunden und wir eilten die Straße in Richtung Sishane hinauf. Es sah komisch aus, wie all die lachenden Menschen die Zurückbleibenden anfeuerten oder ihnen weiterhalfen. Und nicht nur die Demonstranten freuten sich. Auch die Frauen, Kinder und Männer am Straßenrand johlten und klatschten, und vereinzelt wurden sogar Blumen geworfen.
Hinter Tepebas ¸i wurden wir wieder langsamer. Jetzt kam der Zug nur noch widerstrebend vorwärts. Es war deutlich zu spüren, wie sich die Masse gegen etwas presste, das Widerstand leistete. Das lag daran, dass sich der Menschenstrom bei Galatasaray teilte und in die Seitenstraßen drängte, die zum Platz führten. Ich war noch immer bei der Gruppe der Studentenverbände, hatte meine Kameraden aber aus den Augen verloren. Und dann mussten wir aufgeben.
In einer kleinen Straße nur wenige Hundert Meter vom Platz entfernt, ging es nicht mehr weiter. Es nützte nichts, sich weiter nach vorne zu schieben. Wir hatten von den Sicherheitskräften erfahren, dass die Zugänge zum Platz aufgrund der ungeheuren Menschenmasse abgeriegelt worden seien. Ich war so nah dran und doch so weit weg. Der Traum davon, auf den Platz zu marschieren, von jubelnden Massen empfangen zu werden und vielleicht auf das Monument der Freiheit zu klettern, um auf alle schauen zu können, denen diese Stadt gehörte, war zerplatzt. Ich setzte mich auf den Bürgersteig. Um mich herum standen die Menschen dicht an dicht, immerfort stieß mich jemand an, aber ich war zu müde, um mich groß darum zu kümmern.
© Kiepenheuer & Witsch Verlag
Übersetzung: Günther Frauenlob
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Autoren-Porträt von Izzet Celasin
Izzet Celasin, geboren 1958 in Istanbul. War in seinem Heimatland Linker Aktivist und saß nach dem Militärputsch 1980 mehrere Jahre im Gefängnis. Kam 1988 als politischer Flüchtling nach Norwegen und arbeitet als Dolmetscher in Oslo. Schwarzer Himmel, schwarzes Meer ist sein erster Roman. Günther Frauenlob, 1965 geboren, lebt seit 1999 in Waldkirch bei Freiburg und übersetzt aus dem Norwegischen und Dänischen, zuletzt vor allem Jo Nesbö, Jonas Bengtson, Arnhild Lauveng.
Bibliographische Angaben
- Autor: Izzet Celasin
- 2008, 1, 398 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Norweg. v. Günther Frauenlob
- Übersetzer: Günther Frauenlob
- Verlag: KIEPENHEUER & WITSCH
- ISBN-10: 3462040359
- ISBN-13: 9783462040357
Rezension zu „Schwarzer Himmel, schwarzes Meer “
"[...] eine Hommage an die Magie Istanbuls, allen genau beobachteten Verschandelungen der alten Osmanen-Metropole zum Trotz, ein Abgesang auf die dekadente Schönheit dieser Stadt." -- Deutschlandradio"Izzet Celasin pflegt in seinem Roman Schwarzer Himmel, schwarzes Meer eine kühlere, fast pädagogische Diktion. Er verleiht seinem Erstling eine authentische Grundspannung [...]." -- Neue Zürcher Zeitung
"Ein packender politischer Roman. Und ein Buch über die Treue, vor allem über die Treue zu sich selbst." -- Brigitte
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