Schweigen tut weh
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Frauen, die es zerreißen: die Mutter durch ihr unverstandenes Leid, die Tochter mit diesem ergreifenden Buch.
Schweigen tut weh von Alexandra Senfft
LESEPROBE
PROLOG
Die Nacht, in der meine Mutterstarb, erscheint mir bis heute wie ein übler Traum. Er haftet an meiner Seeleund gibt mir Rätsel auf. Die Ärzte haben die Beatmungsmaschine abgestellt. DenBruder an meiner Seite, sitze ich noch lange bei ihr, wir betrachten sie,fassen sie an und streicheln sie, weinen. Hat sie nun endlich ihre Ruhe? NachStunden beschließen wir erschöpft, uns von ihr zu trennen. Wir verlassen die Intensivstation,hinaus in die Dunkelheit. Es kommt mir wie Verrat vor, meine Mutter in diesemfremden Zimmer allein zurückzulassen. Ich möchte sie beschützen, aber es ist zuspät. Ich werde sie nie wiedersehen, es fällt mirsehr schwer loszulassen. In meinem Kopf ist ein Durcheinander. Ich rufe Melodienzu Hilfe, doch die sonst so geliebte Musik tönt in der Erinnerung schrill undschräg, es gibt jetzt keinen Trost, orientierungslos stolpere ich aus demKrankenhausgebäude.
Schweigend steigen wir in den Wagenauf dem Parkplatz und fahren los, vorbei an ihrem Krankenhauszimmer. Ein letzterBlick auf den Flachbau, in dem meine tote Mutter hinter Jalousien liegt - sieoder das, was von ihr übrig geblieben ist. Johann Heinrich drückt aufs Gas, dasKrankenhaus verschwindet hinter uns. Ich hasse diese Nacht, ich hasse den verheißungsvollenFrühling, der sich um ihren Tod nicht schert. Wenigstens das Wetter istrücksichtsvoll und hat sich unserer Trauer angepasst, denn es ist kalt undgießt in Strömen. Völlig benommen fahren wir durch die schlafende Stadt unddurch spritzende Pfützen zum Hotel. Mein Bruder und ich legen uns ins Bett undsprechen noch lange miteinander, über unsere Mutter, ihr Leben, ihr viel zufrühes Ende. Schlafen können wir beide nicht.
Sie war zu Hause in die Badewannegerutscht. Darin war nichts als brühend heißes Wasser aus dem Boiler.Wahrscheinlich war sie nicht nüchtern gewesen und hatte vergessen, rechtzeitigkaltes Wasser einlaufen zu lassen, vielleicht hat sie auch das Gleichgewichtverloren, war ausgerutscht, kann sein, dass ihr in dem Moment alles egal war,sie mit der Gefahr geliebäugelt hat, was weiß ich. Hier mit Johann Heinrich, indiesem mickrigen Hotelzimmer, an dessen Fenster der Regen prasselt, kann ichdie Bilder aus meinem Kopf nicht verbannen - nie mehr werde ich sie verbannenkönnen. Ich habe meine Mutter noch lebend gesehen. Sie war an ein Atemgerät angeschlossen,gänzlich verkabelt und bandagiert. Um ihre unerträglichen Verbrennungsschmerzenzu lindern, hatten die Ärzte ihr Morphium gegeben. Die einzige Möglichkeit, wiediese einst so ausdrucksstarke Frau mit mir kommunizieren konnte, war, dieAugenlider oder die Finger zu bewegen. Jedes Mal, wenn sie aus den Tiefen desRausches erwachte und mich erkannte, weinte sie. Mammele,halte durch!, flehte ich sie in Gedanken an und konntenicht einmal ihre verkabelte Hand drücken.
Doch sie hat nicht durchgehalten.Immer hatte ich mich vor dem schlimmsten aller Fälle gefürchtet, denn der Todwar bei uns stets gegenwärtig. Er hauste im Schlafzimmer meiner Mutter, wohinsie sich verkroch, wenn es ihr schlecht ging. Das Phantom, das michjahrzehntelang bedrohlich begleitet hatte, mein Albtraum, war Wirklichkeitgeworden: Sie war tot. Vierundsechzig Jahre alt. Am meisten tat dieseEndgültigkeit weh, wo es doch noch so viel zu klären und zu verstehen gegebenhätte. Und so viel zu fragen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, sie habe mitdem Sterben auf uns gewartet, bis wir sie in den Armen hielten und sie endlichgehen konnte. An mir nagte trotz aller rationalen Erklärungen das schlechteGewissen, nicht schon eher zu ihr ins Krankenhaus gekommen zu sein, sodass siesich, das berichtete eine Krankenschwester, an den Fotografien ihrer beidenKinder festhalten musste; sie soll sich sogar geweigert haben, diese Fotosloszulassen, sah sie immer wieder an, schlief mit ihnen ein. Wie einsam sie gewesensein muss.
Als mein Bruder und ich nach ihremTod in ihre Wohnung fuhren, brach die Vergangenheit über uns herein. Es warpeinlich genug, in ihren eleganten Dessous und teuren Designerkleidern wühlenzu müssen, aber noch unangenehmer war es, die Berge ihrer ungeordneten Briefeund Fotos zu sichten. Es war wie ein Tabubruch. Unter den Briefen fanden sichLiebesbriefe; Briefe von ihrer Mutter und ihren fünf Geschwistern, von meinemBruder und von mir, Anwaltsbriefe. Vieles konnte und wollte ich damals nochnicht lesen. Die Fotos dokumentierten ihr Leben, überwiegend aus ihrerJugendzeit und später als verheiratete Frau, vor allem aus den Zeiten, in denensie bildschön und aufregend attraktiv war. Lange bevor ihre Depression und dieSucht sie veränderten.
Einige Fotos zeigten ihren VaterHanns Ludin. Mein Großvater Hanns war HitlersGesandter in der Slowakei und ist dort 1947 als Kriegsverbrecher verurteilt undgehenkt worden. Neun Minuten soll er am Galgen gehangen haben, bis er qualvollerstickte. Meine Mutter war zu jenem Zeitpunkt vierzehn Jahre alt und dieÄlteste von sechs Geschwistern. Als Erstgeborene war sie sein Lieblingskind,eine Vatertochter. Die Möglichkeit zu trauern hatte sie damals und auch späternicht. Da nahm das Elend seinen Lauf, erst heimlich, schleichend, später dannbrüllend und immer rasender.
Mein Vater sagt, meine Mutter habesich, schon kurz nachdem ich und dann mein Bruder zur Welt gekommen waren, vielins Bett zurückgezogen und Menschen um sich geschart, die ihr gut, abervergeblich zuredeten. Ich habe daran keinerlei Erinnerung. Sowieso kann ichmich meiner frühen Kindheit kaum entsinnen, ich verbinde damit lediglichunbestimmte Gefühle und einige vertraute Gerüche, kann mir heute nur vorstellen,wie sich diese Zeit angefühlt haben könnte - meine Mutter in sich verschlossenim Bett, ich zupfe an ihrem Nachthemd und ernte Tränen. Mein Leben kann icherst nahtlos zurückverfolgen, seit ich mit fünfzehn Jahren in eine englische Schuleging - fern der Mutter, was mich vor dem häuslichen Chaos gerettet hat. Für siewar mein Weggang ein weiterer Angriff auf ihre wunde Seele.
Natürlich weiß ich noch gut, wie siemich eines Tages, fast »nüchtern«, sachlich informierte: »Ich habe mich letzteNacht betrunken.« Es klang wie eine Ankündigung odervielleicht sogar wie eine Drohung. Ich war gerade vierzehn Jahre alt - genausoalt wie sie, als sie ihren Vater verlor. Und ebenso wie sie sich damals nachdem Tod ihres Nazi-Vaters für ihre verzweifelte Mutter und ihre jüngerenGeschwister verantwortlich gefühlt hatte, übernahm nun ich zu Hause die Rolleder vermeintlich Starken, vernünftig und verständig, viel zu schnell »erwachsen«.Oft schien mir unsere Beziehung umgekehrt: Ich sorgte mich um meine Mutter, alswäre sie mein Kind. Heute denke ich, dass meine Mutter zu der ihren ein ähnlichverkehrtes Verhältnis hatte, denn sie behandelte sie oft wie ein unmündigesGeschöpf. Dabei verhielt sie sich einerseits herrisch, andererseits aber auchwie ein trotziges Kind, dem endlich einmal die Grenzen gezeigt werden müssten.
In ihrer Wohnung hatte meine Mutterfast ihre gesamte bewegte Vergangenheit aufbewahrt, und es war nach ihrem Tod dieAufgabe ihrer Kinder, sie zu ordnen. Sie hatte diese Aufarbeitung unbewusstuns überlassen. Im Schlafzimmer stand noch immer der Koffer, den sie vierMonate zuvor mitgenommen hatte, als sie mich und meine Familie an Weihnachten besuchte.Sie hat ihn nach ihrer Rückkehr nie ausgepackt. Auch ich habe ihn jahrelang sobelassen, wie er war, weil er so etwas wie die letzte Reise meiner Mutter zumir symbolisierte. Manchmal habe ich mir ein Kleidungsstück herausgeholt und meineNase darin vergraben, um mich an ihren Geruch zu erinnern, den die Wollebewahrt hatte. Wie hatte sie sich bei diesem letzten Besuch bei mir und meinenKindern bemüht, alles richtig zu machen! Ich blieb jedoch verschlossen, ich konnteihr nicht ins Gesicht sehen, aus Angst, ihr wieder zu erliegen und neueEnttäuschungen zu erleben. Sie wird mein Verhalten als Ablehnung wahrgenommenhaben; manchmal konnte ich den Schmerz in ihrem Gesicht sehen. Dabei hatte ichso eine Sehnsucht nach ihr, Sehnsucht danach, dass alles gut werden würde.
Ich habe die Wohnung meiner totenMutter zwar geräumt und ihre Briefe und Fotos in Kisten verpackt, aber erstjetzt, sieben Jahre nach ihrem Tod, habe ich begonnen, mich mit den Inhaltenauseinanderzusetzen. Ich musste eine innere Hürde überwinden. Freilich hatteich vor der Beerdigung schon viele Briefe gelesen und einige dazu verwendet, umeine Totenrede für meine Mutter zu schreiben. Erst allmählich komme ich aberdazu, die einzelnen Stränge unseres familiären Beziehungsgeflechts zu entwirrenund Zusammenhänge zu verstehen. Die Briefe entwickeln ein Eigenleben undentfalten vor mir eine aufregende Geschichte. Es ist die Geschichte meinerMutter, einer Nachkriegsfrau, deren Leben mit dem ihrer Eltern eng verknüpftist - und meines mit ihrem. Einige Verwandte haben mich während des Schreibens gefragt,warum ich über meine Mutter nicht unabhängig von meinen Großeltern erzählenkönne, die hätten mit ihrer traurigen Entwicklung doch kaum etwas zu tun? Ichkann ihnen bei aller Liebe und allem Respekt für ihre Gefühle diesen Gefallennicht tun, weil es bedeuten würde, zu ignorieren, woher wir kommen, wo wirheute stehen und wohin wir gehen.
In unserer Familie herrschte stetseine immense Abwehr gegen alles »Böse«: Der Vater, mein Großvater, galt als »guterNazi«, als einer, der angeblich nicht wusste, welche Folgen seine politischenPositionen und seine Taten hatten. Einer, der zwar Deportationsanordnungen fürslowakische Juden unterzeichnet hatte, aber doch angeblich nicht ahnen konnte,dass diese Juden keineswegs in Arbeitslager kamen, sondern ermordet wurden.Einer dieser vielen »unschuldigen« Nationalsozialisten. Oder selbst ein Opferseiner Zeit, wie es bei uns auch heißt. Mein Großvater - Täter, Opfer, ja wasdenn nun? Seine Frau, meine geliebte Großmutter, haben wir alle angehimmelt:Sie verkörperte das Gute, ja sie war fast unsere Königin der Gerechten. Dabeiwaren auch dieses immerzu Gute, diese Toleranz, diese Güte und dieseBesonnenheit eine Form der Abwehr. Meine Großmutter hat ihre sechs Kinder imGlauben an den guten Nationalsozialisten erzogen; sie hat ihnen beigebracht,nur seine guten Seiten zu sehen, und ein guter Mensch kann keine Verbrechenbegehen. Alles, was in das makellose Bild nicht passte, durfte nicht sein,wurde verschwiegen, wegdiskutiert, schöngeredet. Die Täter, das waren dievulgären Nazis, nicht wir, das können wir gar nicht sein, denn wir sindgebildet und kultiviert. Nur meine Mutter war mitunter »böse« - wenn siealkoholisiert war, wütete, schimpfte, verurteilte sie. Selbst ihr Vater wardann nicht mehr der holde Judenretter, sondern ganz ordinär: ein Schwein. Als Einzigein der Großfamilie ging sie gelegentlich ziemlich respektlos mit ihrer Mutterum, der von uns verehrten, schönen alten Dame. Ich habe nie verstanden, warumsie meine Großmutter so hässlich behandelt hat.
Meine Mutter, so heißt es in meinerFamilie, sei psychisch erkrankt, weil sie in der Kindheit unter plötzlicherGewichtszunahme gelitten hatte, die durch eine Hormonstörung entstanden sei.Außerdem habe sie nie verwinden können, dass sie wegen ihrer schwachenSchulleistungen früher als ihre Geschwister das Internat verlassen musste unddas Abitur nicht machen konnte. Zur Familienlegende gehört auch, dass ihrEhemann, mein Vater, sie zum Trinken animiert, ja sie zum Trinken schon fastgenötigt habe und sie später die Trennung von ihm nicht verkraftete, weshalbsie depressiv und Quartalstrinkerin geworden sei. In der Familie habe es zudemmehrere Schwermütige gegeben, bei meiner Mutter sei das also schon genetischangelegt gewesen. Viele Jahre habe ich all das irgendwie auch geglaubt. EinenGrund oder einen Namen brauchte auch ich für ihre Leiden. Lange habe ich nichtverstanden, unter welchem Dilemma sie litt, habe sie moralisch unter Druckgesetzt, ihre Pflichten als Mutter eingefordert, versucht, sie von meiner Sichtder Dinge zu überzeugen. Dabei war sie auf ihrem Weg des schleichendenSelbstmords völlig unerreichbar und ich habe ihr mit meinen hilflosenPredigten nur noch mehr wehgetan. Sie hat mir oft erwidert: »Warte nur ab, bisdu mal in meine Lage kommst!«, was ich als boshafteDrohung empfand, denn ich war doch nicht sie und was hatte ich schon mit ihremLeid zu tun. Genauso entsetzlich fand ich es, dass sie am Frühstückstischeinmal das Messer an den Hals setzte und mit düsterer Stimme sagte, es sei wohlgescheiter, sie brächte sich um. Mein Bruder war da noch keine elf Jahre alt. IhreSchreie aus dem Schlafzimmer gehen mir noch heute durch Mark und Bein, und wennmitten in der Nacht plötzlich das Telefon klingelt, schrecke ich hoch und denkepanisch, sie sei dran, um in ihrer höchsten Not, ohne Rücksicht auf die Uhrzeit,meine Aufmerksamkeit einzufordern. Meine Mutter hat meine Liebe zu ihr starkstrapaziert.
© Claassen Verlag
- Autor: Alexandra Senfft
- 2007, 2, 350 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 14 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: CLAASSEN VERLAG
- ISBN-10: 3546004000
- ISBN-13: 9783546004008
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