Schwester und Bruder
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Schwester und Bruder von Ulla Lenze
LESEPROBE
Mein Bruderwar nicht zurückgekommen. Das Jahr verging, er rief an, sagte, er bleibe einweiteres. Der Anruf dauerte nur ein paar Sekunden. Das zweite Jahr begann. Aufmeinen Brief erhielt ich nie eine Antwort. Nach ein paar Monaten rief er wiederan. Er komme jetzt zurück. Wir umarmen uns. Die Berührung ist unbestimmt undsperrig. Ich weiß nicht, an wem das liegt. Er sieht sich kurz um, als bringe eres in Verbindung mit etwas, das von außen kommt. Die Ankunftshalle ist vollerMenschen. »Sie sind nicht da. Papa hat Elternsprechtag und Mama einen Termin beimArzt. Wir fahren auch erst mal zu mir.« Im Auto schweigen wir. Auch früherhaben wir viel geschwiegen. In dem Brief, den er nie beantwortet hat, stand: SeitdemDu weg bist, frage ich mich oft, warum wir nicht mehr miteinander gesprochenhaben. Ich würde jetzt gerne mit Dir reden. Wenn Du zurückkommst, können wirdas ja nachholen. Als der Schalterbeamte den Brief frankiert hatte und aufeinen Haufen anderer legen wollte, verlangte ich ihn wieder zurück. Aber zweiTage später warf ich ihn in den Briefkasten. Mein Bruder sieht aus dem Fenster,kurbelt es dann herunter. Ich sage, dass ich gerade noch erkältet war, und erkurbelt es wieder hoch. »Danke.« Ich lächle, schaue auch zu ihm hin. Sein Haarist nun so kurz, dass man die Kopfhaut sieht. Er war mit langen Haarenlosgefahren. »Ich wohne jetzt in einem Zimmer, vier mal fünf Meter«, erzähle ich.»Aber durch das Hochbett spare ich Platz. Ich schaue auf Fahrräder und auf dieMülltonnen dahinter. Im Sommer riecht man den Müll auch manchmal. Man gewöhntsich daran. Das Haus steht unter Denkmalschutz. Alles Jugendstil. Sogar derAufzug. Den benutze ich aber nur, wenn ich auf dem Dachboden Wäsche aufhängenwill. Das Treppenhaus ist sehr schön. Weißer Marmor, und an der Decke Stuck.« MeinBruder nickt und lächelt ein bisschen. Ich schaue nur noch auf die Fahrbahn. Anmeinem Hals beginnt ein leichtes Pochen. »Hast du meinen Brief bekommen?« »Ichbin ständig unterwegs gewesen.« Er will nicht wissen, was in dem Brief stand. »Hastdu inzwischen den Führerschein?« »Ich bin nicht nach Indien gegangen, um denFührerschein zu machen. « Er sagt es lächelnd, aber ich spüre, dass er verletztist. »Je länger du wartest, desto schwieriger wird es.« »Ich binzweiundzwanzig«, sagt er und sieht mich an. Seinen Rucksack stellt er vorne ab,in den kleinen Flur mit der Kochnische. Er geht in die Knie und zieht dieSchuhe aus. Seine Jeans kenne ich noch von früher. Ich sage ihm das, und ersieht fragend zu mir hoch. Ob er einen Kaffee möchte. Er nickt. Ich hole dieDose aus dem Regal, blicke ihm kurz hinterher, wie er ins Zimmer verschwindet,das dunkel ist am frühen Abend, wie immer, wenn die Hofmauer einen Schattengegen das Haus wirft. Als ich ihm nachgehe, steht er vor dem Schrank. SeineFinger streichen über das rötliche Holz. »Er ist schön geworden.« »Ja. FünfFarbschichten runter, ich habe eine Woche gebraucht. Es war katastrophal.« »InIndien habe ich einmal in einem alten Haus im Wald gelebt. Da war auch soeiner.« Die Kaffeemaschine röchelt. Ich gehe zurück, mein Blick fällt auf seinenRucksack, ich lege den Kopf schief, versuche, etwas von den abgerissenenFlughafenetiketten zu erkennen. Es sind fast nur Klebespuren übrig. Ich nehmedie Tassen vom Regal, sie sind von der Großmutter, Rosenthal, aber als er siein der Hand hält und ich ihn frage, erkennt er sie nicht wieder. Die Couch seiauch von ihr. Er nickt. Sitzt ganz links, da saß er schon als Kind. »Ich mussweit ausholen. Ich muss da anfangen, wo alles anfing.« Ich setze mich nebenihn, er rückt zu mir, unsere Knie berühren sich fast, und seine Züge verlierensich in der plötzlichen Nähe. Ich möchte zurückweichen, erlaube mir aber keineBewegung. »Etwas ist geschehen«, sagt er, »gleich zu Anfang. Und dann ist es nurnoch darum gegangen. Möchtest du es hören?« Ich nicke. »Wir fuhren zumFlughafen, es war kalt, Januar, und du warst nicht dabei. Du hattest eineKlausur. Ich sah Papa zum ersten Mal weinen. Er fragte dann, ob ich noch etwastrinken will, einen Kaffee oder ein Bier. Ich habe ihm zuliebe ein Biergetrunken. Mama trank nichts. Sie sah uns nur zu. Ich sagte, lasst uns reden,wenn ich zurückkomme. Ich wusste damals nicht so genau, was ich meinte, abereinen Augenblick lang schien es uns allen besser zu gehen.« Er sieht mir in dieAugen. Draußen im Hof schwanken Forsythienzweige hin und her. »Nach der Ankunftin Bombay zog ich weiter nach Goa. Ich hatte im Flugzeug Leute kennen gelernt,die dahin wollten. Ich ließ mich treiben, ich war aufgeregt, nachts imSleeperbus tat ich kein Auge zu. Ich lag dort wie in einem Blechsarg und fuhrdurch ein dunkles Gebirge. Wenn ich den Vorhang etwas beiseite schob, sah ichso gut wie nichts, es gibt dort keine Straßenbeleuchtung und der Mond war ganz schmal.Ich sah nur die Lichtkegel des Busses, als ich nach vorne ging, zum Fahrer. Dersprach ein bisschen Englisch, fragte ab und zu etwas: Wo kommst du her, hast duKinder, hast du eine Frau, regnet es viel in Deutschland, wie gefällt dirIndien? Es war das erste Gespräch, das ich dort mit jemandem hatte. Als esdämmerte, erkannte ich allmählich mehr von der Umgebung. Palmenhaine unddazwischen weiße, portugiesische Kirchen. An den Bushaltestellen standenEinheimische, die zu ihrer Arbeit fuhren, einige Frauen trugen westlicheKleidung. Goa ist nicht indisch, das wurde mir plötzlich klar. Der Bus hieltvor einer Kneipe. Ein paar Touristen saßen auf der Veranda, sie hatten wohl dieNacht durchgefeiert. Sie winkten mir zu, als seien wir gute Freunde. Ich nahmmeine Sachen und stieg in den nächsten Bus. Es war mir egal, wohin er fuhr. Aufder Fahrt geschah es. Ein Mann in einem safranfarbenen Gewand stieg zu, erhatte das lange Haar zu einem Knoten gedreht, es war ein Swami, ein Mönch.Obwohl noch Plätze frei waren, blieb er stehen. Er war hochgewachsen, hieltsich sehr gerade und sah aus dem Fenster. Er trug eine Sonnenbrille. Ichbeobachtete ihn, und plötzlich wandte er sich mir zu, schob die Sonnenbrillehoch und sah mich an. Er hatte keine Augen. Es war der aufdringlichste Blick,der mich je getroffen hat, und das von einem Blinden. Ich überlegte, ob ichaussteigen sollte, beschloss aber, dem Mann geradewegs in die Augenhöhlen zusehen, in diese lilagrauen Schatten. Ich fühlte ein Kribbeln meinen Rückenhochsteigen, fast einen Schmerz. Als der Bus wieder hielt, schob er die Brillezurück und stieg aus. Ich rief ihm etwas nach und er drehte sich um. Ich standauf dem Trittbrett, der Mann war nun direkt vor mir und befahl: Fahr weiter. Ichfragte, wohin, und er sagte: Wir werden uns wiedersehen. Ich weiß nicht, inwelcher Sprache wir geredet haben. Der Bus fuhr an, ich wollte dem Swamifolgen, aber er hob seinen Stock, als sei er bereit, mich damit zu schlagen.Ich fühlte Hände, die mich an den Schultern packten und nach hinten zogen, ichließ es zu. Als ich mich umsah, war da niemand. Wirklich niemand. Eine Frausagte, er sei aus dem Norden, das sehe man an der hohen Gestalt. Ich hatte mirdas also nicht eingebildet, auch sie hatte ihn gesehen. Ich stieg in Panjim ausund wollte ein Flugzeug nach Delhi nehmen. Norden, verstehst du? Im Reisebürostellte ich fest, dass meine Travellerschecks gestohlen waren.« (...)
© btb Verlag
- Autor: Ulla Lenze
- 2006, 222 Seiten, Maße: 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442733243
- ISBN-13: 9783442733248
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