See der Träume
Roman
Lucy befindet sich in einer großen Lebenskrise. Als sie in ihre Heimat fährt, wird sie auch noch mit alten, ungeklärten Familiengeschichten konfrontiert. Und dann stößt sie auf ein verborgenes Familiengeheimnis, das ihr Leben komplett durcheinanderwirbelt.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „See der Träume “
Lucy befindet sich in einer großen Lebenskrise. Als sie in ihre Heimat fährt, wird sie auch noch mit alten, ungeklärten Familiengeschichten konfrontiert. Und dann stößt sie auf ein verborgenes Familiengeheimnis, das ihr Leben komplett durcheinanderwirbelt.
Klappentext zu „See der Träume “
Dieses Buch strahlt. BookreporterKurz vor ihrem 30. Geburtstag ist die Weltenbummlerin Lucy Jarrett beruflich und emotional an einem Tiefpunkt angelangt. Kurzfristig beschließt sie, in ihre Heimat nach Upstate New York zu fahren. Doch zu Hause empfangen sie unerwartete und schmerzliche Konflikte. Nie hat Lucy den ungeklärten Tod ihres Vaters verwunden, und plötzlich stößt sie auf ein lange verschüttetes Familiengeheimnis, das immer mehr in die Gegenwart hineinwirkt.
Nach ihrem internationalen Bestseller Die Tochter des Fotografen erzählt Kim Edwards in ihrem neuen Roman über Liebe, Verrat und Verlust.
Mit Autoreninterview und -porträt
Lese-Probe zu „See der Träume “
See der Träume von Kim EdwardsKapitel 1
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MEIN NAME IST LUCY JARRETT, UND BEVOR ICH von jenem Mädchen am Fenster erfuhr, bevor ich in
meinem Elternhaus auf Bruchstücke ihrer Geschichte stieß und sie zusammenzufügen begann, lebte ich in Japan in einem kleinen Ort am Meer. Es war Frühling, ein Frühling voller Erdbeben, als ich eines Nachts jäh aus einem Traum gerissen wurde. Schritte verhallten auf der gepflasterten Gasse, und in der Ferne rumpelte ein Güterzug vorüber. Ich lauschte angestrengt, bis ich auch die Brandung hören konnte, doch sonst war alles still. Yoshis Hand ruhte auf meiner Hüfte wie am Abend zuvor, als wir in der dunklen Küche tanzten, zu leiser Musik aus dem Radio, immer langsamer tanzten und schließlich innehielten, um uns im Duft des Jasmins zu küssen.
Ich schmiegte mich an ihn. Im Traum war ich an den See meiner Kindheit zurückgekehrt. Ich wollte nicht dorthin, doch ich ging. Der Himmel war wolkenverhangen, die alte grüne Holzhütte, die ich nur aus meinen Träumen kannte, von Moosen und Ästen fast verdeckt. Ihre geborstenen Fenster waren blind von Staub und Schnee. Ich ging daran vorüber auf das Seeufer zu und auf die dicke, durchsichtige Eisschicht hinaus. Ich lief weiter, bis ich sie fand: so viele Menschen, und sie lebten unter dem Eis. Als ich sie entdeckte, fiel ich auf die Knie und presste die Hände auf die glasklare Oberfläche - so dick, so undurchdringlich und kalt. Ich selbst hatte die Menschen irgendwie hierher versetzt, das wusste ich. Ich hatte sie vor langer Zeit hier zurückgelassen. Ihr Haar wogte in der Strömung, und aus ihren Augen sprach eine Sehnsucht, die der meinen glich.
Die Jalousien erzitterten. Ich hielt, noch halb im Traum gefangen, den Atem an, doch es war nur wieder ein Güterzug, der in Richtung der Berge verschwand. Seit einer Woche schon träumte ich diesen Traum jede Nacht, drangen die Erschütterungen der rastlosen Erde bis in die Tiefen meiner Vergangenheit. Der Traum erinnerte mich an eine andere Frühlingsnacht, als ich, siebzehn Jahre alt, mich von dem Rücksitz eines Motorrads gleiten ließ, das einem Jungen gehörte - Keegan Fall -, und die Apfelblüten neigten sich über uns wie blasse Sterne. Ich presste beide Hände auf Keegans Brust, bevor er losfuhr und der Motor seiner Maschine die Nachtruhe zerriss. Als ich mich zum Haus umwandte, sah ich meinen Vater im Garten stehen. Im Mondlicht schimmerten die grauen Strähnen seines Haars, die Glut seiner Zigarette hob und senkte sich. Flieder und die ersten Rosen leuchteten im Dunkel. Nett, dass du auch noch kommst, sagte mein Vater. Tut mir leid, ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst, antwortete ich. Schweigen, die Gerüche von Seewasser, gemähtem Gras und frischen Trieben in der dunklen Erde, und dann sagte er: Gehen wir angeln, Lucy? Was meinst du? Das haben wir lange nicht mehr gemacht. Es klang wehmütig, und ich erinnerte mich, wie wir uns früher vor Sonnenaufgang auf den Weg zum Boot gemacht hatten, wie ich unter Mühen den Angelkoffer über den Rasen schleppte. Ich wollte mit ihm angeln gehen, seine Einladung annehmen, doch noch lieber wollte ich mich in mein Zimmer zurückziehen, um ungestört an Keegan Fall zu denken. Also wandte ich mich ab und wies ihn scharf zurecht: Also wirklich, Dad. Ich bin doch kein Kind mehr.
Das waren meine letzten Worte an ihn. Ein paar Stunden später, die Sonne stand schon hoch am Himmel, erwachte ich von dem Klang aufgeregter Stimmen, rannte die Treppe hinunter und über das taufeuchte Gras zum Ufer, wo sie eben meinen Vater aus dem Wasser gezogen hatten. Meine Mutter kniete neben ihm im flachen Uferschlamm und berührte mit den Fingerspitzen seine Wange. Seine Lippen und sein Gesicht waren blau angelaufen. In den Mundwinkeln hing ein wenig Schaum, und seine Augenlider sahen silbrig aus, schillernd fast. Wie ein Fisch, dachte ich, ein verrückter Gedanke, doch er half, andere, viel schlimmere zurückzudrängen, die mich seither nie mehr losgelassen haben: Ich hätte mitgehen sollen. Ich hätte bei ihm sein sollen. Hätte ich doch nur ja gesagt.
Neben mir auf dem Futon regte sich Yoshi und seufzte im Schlaf. Seine Hand glitt von meiner Hüfte. Das helle Rechteck des Mondlichts auf dem Boden vibrierte leicht von der fernen Brandung und dem nächtlichen Wind. Allmählich wurden die Vibrationen stärker. Es begann verhalten, wie das Grollen von Güterzügen. Dann fingen meine tibetischen Klangschalen von allein an zu summen. Die Kiesel, die ich im Regal aufgereiht hatte, fielen wie Regentropfen auf die Reisstrohmatten. Im Erdgeschoss stürzte etwas zu Boden und zerbrach. Ich hielt ganz still, als könnte ich damit auch die Welt zur Ruhe bringen, doch das Beben wurde stärker und stärker. Die Regale wankten und spien Bücher aus. Dann lief ein Zittern durch die Wände, der Boden hob und senkte sich in einer einzigen großen Wellenbewegung, als wälzte sich unter uns ein riesiges Tier, als wäre die Erde selbst lebendig und der Boden ihre rissige Haut.
Plötzlich hörte es auf. Alles war merkwürdig still. Irgendwo tropfte Wasser in eine Pfütze. Yoshi atmete gleichmäßig und tief.
Ich rüttelte ihn an der Schulter, bis er schläfrig die Augen öffnete. Solche kleineren Erdstöße bemerkte er kaum, auch wenn wir den Frühling über Hunderte davon erlebt hatten.
»Ein Erdbeben?«, murmelte er.
»Ein ziemlich heftiges. Unten ist irgendetwas zu Bruch gegangen.«
»Tatsächlich? Aber jetzt ist es ja vorbei. Komm, schlaf wieder ein.«
Er schloss die Augen und zog mich an sich. Kurz darauf atmete er wieder tief und regelmäßig. Durch das halboffene Fenster konnte ich über dem Dach des Hauses gegenüber die Sterne sehen.
»Yoshi?«, sagte ich. Als er nicht antwortete, stand ich leise auf und ging hinunter in die Küche.
Die Aloe war vom Fensterbrett gefallen, der Übertopf zerbrochen. Ich setzte Teewasser auf und begann die Erde, die Scherben und abgebrochenen Blätter aufzukehren. Wahrscheinlich taten japanische Hausfrauen im ganzen Ort gerade dasselbe, ein Gedanke, der mich erbitterte. Ich hatte eindeutig schon viel zu lange keinen ordentlichen Job. Es gefiel mir gar nicht, von Yoshi abhängig zu sein, kein eigenes Einkommen zu haben und keine sinnvolle Beschäftigung. Ich bin Hydrologin, das heißt, ich untersuche die Kreisläufe des Wassers, ob überirdisch oder unter der Oberfläche. Als ich Yoshi in Jakarta kennenlernte, arbeitete ich seit fast fünf Jahren in den Forschungsabteilungen internationaler Konzerne. Wir hatten uns ineinander verliebt, wie man es nur fern der Heimat kann. Von allen vertrauten Einflüssen abgeschnitten, hatten wir uns ein eigenes Traumland geschaffen, ganz nach unseren Wünschen. Dies ist der einzige Kontinent, der zählt, sagte Yoshi, wenn er die Formen meines Körpers erkundete. Dies ist unsere Welt. Ein Jahr, zwei Jahre lang waren wir glücklich. Dann liefen unsere Verträge aus, und bevor ich etwas Neues fand, bekam Yoshi eine verlockende Stelle als Ingenieur angeboten. Also waren wir nach Japan gezogen, ein ganz neues Land für mich und, wie sich herausstellen sollte, nicht das meiner Träume.
Ich schenkte mir eine Tasse Tee ein, ging ins Wohnzimmer, zog die Jalousien hoch und öffnete die Fenster. Kühle, frische Nachtluft wogte herein. Es war noch dunkel, doch in den Häusern ringsum begann schon der Tag; von nah und fern hörte ich Wasser rauschen und das Geklapper von Geschirr. Über die schmale Gasse gingen die leisen Gespräche von Nachbarn hin und her.
Das Haus erzitterte von der Brandung und beruhigte sich wieder. Ich setzte mich an den niedrigen Tisch, nippte an meinem Tee und dachte an den kommenden Tag, an die Bergtour, die wir uns schon so lange vorgenommen hatten. In Indonesien hatten Yoshi und ich darüber nachgedacht, zu heiraten, vielleicht sogar Kinder zu bekommen. Ich hatte in diesen vagen Phantasien immer befriedigende Arbeit gehabt oder meine Erfüllung darin gefunden, Japanisch zu lernen, Ikebanas zu arrangieren und viel spazieren zu gehen. Ich hatte nicht geahnt, wie einsam mich die Arbeitslosigkeit machen könnte und wie viel Zeit Yoshi mit seinem eigenen Job zubringen würde. Wir stritten uns häufig in letzter Zeit, aus jedem noch so nichtigen Anlass. Auch wie hartnäckig mich die Vergangenheit verfolgen würde, hatte ich unterschätzt. Nach drei Monaten der Untätigkeit in Japan hatte ich angefangen, Englisch zu unterrichten, um überhaupt einmal andere Stimmen zu hören. Wenn ich mit meinen kleinen Schülern spazieren ging, um am Ufer des Meeres mit ihnen Vokabeln am konkreten Objekt einzuüben - Stein, Wasser, Welle -, sehnte ich mich...
MEIN NAME IST LUCY JARRETT, UND BEVOR ICH von jenem Mädchen am Fenster erfuhr, bevor ich in
meinem Elternhaus auf Bruchstücke ihrer Geschichte stieß und sie zusammenzufügen begann, lebte ich in Japan in einem kleinen Ort am Meer. Es war Frühling, ein Frühling voller Erdbeben, als ich eines Nachts jäh aus einem Traum gerissen wurde. Schritte verhallten auf der gepflasterten Gasse, und in der Ferne rumpelte ein Güterzug vorüber. Ich lauschte angestrengt, bis ich auch die Brandung hören konnte, doch sonst war alles still. Yoshis Hand ruhte auf meiner Hüfte wie am Abend zuvor, als wir in der dunklen Küche tanzten, zu leiser Musik aus dem Radio, immer langsamer tanzten und schließlich innehielten, um uns im Duft des Jasmins zu küssen.
Ich schmiegte mich an ihn. Im Traum war ich an den See meiner Kindheit zurückgekehrt. Ich wollte nicht dorthin, doch ich ging. Der Himmel war wolkenverhangen, die alte grüne Holzhütte, die ich nur aus meinen Träumen kannte, von Moosen und Ästen fast verdeckt. Ihre geborstenen Fenster waren blind von Staub und Schnee. Ich ging daran vorüber auf das Seeufer zu und auf die dicke, durchsichtige Eisschicht hinaus. Ich lief weiter, bis ich sie fand: so viele Menschen, und sie lebten unter dem Eis. Als ich sie entdeckte, fiel ich auf die Knie und presste die Hände auf die glasklare Oberfläche - so dick, so undurchdringlich und kalt. Ich selbst hatte die Menschen irgendwie hierher versetzt, das wusste ich. Ich hatte sie vor langer Zeit hier zurückgelassen. Ihr Haar wogte in der Strömung, und aus ihren Augen sprach eine Sehnsucht, die der meinen glich.
Die Jalousien erzitterten. Ich hielt, noch halb im Traum gefangen, den Atem an, doch es war nur wieder ein Güterzug, der in Richtung der Berge verschwand. Seit einer Woche schon träumte ich diesen Traum jede Nacht, drangen die Erschütterungen der rastlosen Erde bis in die Tiefen meiner Vergangenheit. Der Traum erinnerte mich an eine andere Frühlingsnacht, als ich, siebzehn Jahre alt, mich von dem Rücksitz eines Motorrads gleiten ließ, das einem Jungen gehörte - Keegan Fall -, und die Apfelblüten neigten sich über uns wie blasse Sterne. Ich presste beide Hände auf Keegans Brust, bevor er losfuhr und der Motor seiner Maschine die Nachtruhe zerriss. Als ich mich zum Haus umwandte, sah ich meinen Vater im Garten stehen. Im Mondlicht schimmerten die grauen Strähnen seines Haars, die Glut seiner Zigarette hob und senkte sich. Flieder und die ersten Rosen leuchteten im Dunkel. Nett, dass du auch noch kommst, sagte mein Vater. Tut mir leid, ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst, antwortete ich. Schweigen, die Gerüche von Seewasser, gemähtem Gras und frischen Trieben in der dunklen Erde, und dann sagte er: Gehen wir angeln, Lucy? Was meinst du? Das haben wir lange nicht mehr gemacht. Es klang wehmütig, und ich erinnerte mich, wie wir uns früher vor Sonnenaufgang auf den Weg zum Boot gemacht hatten, wie ich unter Mühen den Angelkoffer über den Rasen schleppte. Ich wollte mit ihm angeln gehen, seine Einladung annehmen, doch noch lieber wollte ich mich in mein Zimmer zurückziehen, um ungestört an Keegan Fall zu denken. Also wandte ich mich ab und wies ihn scharf zurecht: Also wirklich, Dad. Ich bin doch kein Kind mehr.
Das waren meine letzten Worte an ihn. Ein paar Stunden später, die Sonne stand schon hoch am Himmel, erwachte ich von dem Klang aufgeregter Stimmen, rannte die Treppe hinunter und über das taufeuchte Gras zum Ufer, wo sie eben meinen Vater aus dem Wasser gezogen hatten. Meine Mutter kniete neben ihm im flachen Uferschlamm und berührte mit den Fingerspitzen seine Wange. Seine Lippen und sein Gesicht waren blau angelaufen. In den Mundwinkeln hing ein wenig Schaum, und seine Augenlider sahen silbrig aus, schillernd fast. Wie ein Fisch, dachte ich, ein verrückter Gedanke, doch er half, andere, viel schlimmere zurückzudrängen, die mich seither nie mehr losgelassen haben: Ich hätte mitgehen sollen. Ich hätte bei ihm sein sollen. Hätte ich doch nur ja gesagt.
Neben mir auf dem Futon regte sich Yoshi und seufzte im Schlaf. Seine Hand glitt von meiner Hüfte. Das helle Rechteck des Mondlichts auf dem Boden vibrierte leicht von der fernen Brandung und dem nächtlichen Wind. Allmählich wurden die Vibrationen stärker. Es begann verhalten, wie das Grollen von Güterzügen. Dann fingen meine tibetischen Klangschalen von allein an zu summen. Die Kiesel, die ich im Regal aufgereiht hatte, fielen wie Regentropfen auf die Reisstrohmatten. Im Erdgeschoss stürzte etwas zu Boden und zerbrach. Ich hielt ganz still, als könnte ich damit auch die Welt zur Ruhe bringen, doch das Beben wurde stärker und stärker. Die Regale wankten und spien Bücher aus. Dann lief ein Zittern durch die Wände, der Boden hob und senkte sich in einer einzigen großen Wellenbewegung, als wälzte sich unter uns ein riesiges Tier, als wäre die Erde selbst lebendig und der Boden ihre rissige Haut.
Plötzlich hörte es auf. Alles war merkwürdig still. Irgendwo tropfte Wasser in eine Pfütze. Yoshi atmete gleichmäßig und tief.
Ich rüttelte ihn an der Schulter, bis er schläfrig die Augen öffnete. Solche kleineren Erdstöße bemerkte er kaum, auch wenn wir den Frühling über Hunderte davon erlebt hatten.
»Ein Erdbeben?«, murmelte er.
»Ein ziemlich heftiges. Unten ist irgendetwas zu Bruch gegangen.«
»Tatsächlich? Aber jetzt ist es ja vorbei. Komm, schlaf wieder ein.«
Er schloss die Augen und zog mich an sich. Kurz darauf atmete er wieder tief und regelmäßig. Durch das halboffene Fenster konnte ich über dem Dach des Hauses gegenüber die Sterne sehen.
»Yoshi?«, sagte ich. Als er nicht antwortete, stand ich leise auf und ging hinunter in die Küche.
Die Aloe war vom Fensterbrett gefallen, der Übertopf zerbrochen. Ich setzte Teewasser auf und begann die Erde, die Scherben und abgebrochenen Blätter aufzukehren. Wahrscheinlich taten japanische Hausfrauen im ganzen Ort gerade dasselbe, ein Gedanke, der mich erbitterte. Ich hatte eindeutig schon viel zu lange keinen ordentlichen Job. Es gefiel mir gar nicht, von Yoshi abhängig zu sein, kein eigenes Einkommen zu haben und keine sinnvolle Beschäftigung. Ich bin Hydrologin, das heißt, ich untersuche die Kreisläufe des Wassers, ob überirdisch oder unter der Oberfläche. Als ich Yoshi in Jakarta kennenlernte, arbeitete ich seit fast fünf Jahren in den Forschungsabteilungen internationaler Konzerne. Wir hatten uns ineinander verliebt, wie man es nur fern der Heimat kann. Von allen vertrauten Einflüssen abgeschnitten, hatten wir uns ein eigenes Traumland geschaffen, ganz nach unseren Wünschen. Dies ist der einzige Kontinent, der zählt, sagte Yoshi, wenn er die Formen meines Körpers erkundete. Dies ist unsere Welt. Ein Jahr, zwei Jahre lang waren wir glücklich. Dann liefen unsere Verträge aus, und bevor ich etwas Neues fand, bekam Yoshi eine verlockende Stelle als Ingenieur angeboten. Also waren wir nach Japan gezogen, ein ganz neues Land für mich und, wie sich herausstellen sollte, nicht das meiner Träume.
Ich schenkte mir eine Tasse Tee ein, ging ins Wohnzimmer, zog die Jalousien hoch und öffnete die Fenster. Kühle, frische Nachtluft wogte herein. Es war noch dunkel, doch in den Häusern ringsum begann schon der Tag; von nah und fern hörte ich Wasser rauschen und das Geklapper von Geschirr. Über die schmale Gasse gingen die leisen Gespräche von Nachbarn hin und her.
Das Haus erzitterte von der Brandung und beruhigte sich wieder. Ich setzte mich an den niedrigen Tisch, nippte an meinem Tee und dachte an den kommenden Tag, an die Bergtour, die wir uns schon so lange vorgenommen hatten. In Indonesien hatten Yoshi und ich darüber nachgedacht, zu heiraten, vielleicht sogar Kinder zu bekommen. Ich hatte in diesen vagen Phantasien immer befriedigende Arbeit gehabt oder meine Erfüllung darin gefunden, Japanisch zu lernen, Ikebanas zu arrangieren und viel spazieren zu gehen. Ich hatte nicht geahnt, wie einsam mich die Arbeitslosigkeit machen könnte und wie viel Zeit Yoshi mit seinem eigenen Job zubringen würde. Wir stritten uns häufig in letzter Zeit, aus jedem noch so nichtigen Anlass. Auch wie hartnäckig mich die Vergangenheit verfolgen würde, hatte ich unterschätzt. Nach drei Monaten der Untätigkeit in Japan hatte ich angefangen, Englisch zu unterrichten, um überhaupt einmal andere Stimmen zu hören. Wenn ich mit meinen kleinen Schülern spazieren ging, um am Ufer des Meeres mit ihnen Vokabeln am konkreten Objekt einzuüben - Stein, Wasser, Welle -, sehnte ich mich...
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Autoren-Porträt von Kim Edwards
Kim Edwards unterrichtet Kreatives Schreiben an der University of Kentucky.Gesine Schröder, geboren 1976, studierte in Kiel und Berlin. Sie ist Übersetzerin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kim Edwards
- 2011, 477 Seiten, Maße: 13,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schröder, Gesine
- Übersetzer: Gesine Schröder
- Verlag: Rütten & Loening
- ISBN-10: 3352008094
- ISBN-13: 9783352008092
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