Seidenwind - Die Prinzessin im Schlangenpalast
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Produktinformationen zu „Seidenwind - Die Prinzessin im Schlangenpalast “
Klappentext zu „Seidenwind - Die Prinzessin im Schlangenpalast “
Im Herzen Kalkuttas wachsen Sudha und Anju im angesehenen Hause Chatterjee gemeinsam auf und werden mit den Jahren zu unzertrennlichen Freundinnen. Durch diese Vergangenheit sind ihre Schicksale miteinander verbunden, ihre Zukunft ist scheinbar vorherbestimmt. Doch dann bringt Sudha aus Liebe zu einem nicht standesgemäßen Mann die Familienidylle ins Wanken. Sie bricht mit allen Konventionen und die Zukunft entwickelt sich ganz anders als erwartet...
Lese-Probe zu „Seidenwind - Die Prinzessin im Schlangenpalast “
Die Prinzessin im Schlangenpalast von Chitra Banerjee Divakaruni1
Sudha
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IN DEN ALTEN SAGEN heißt es, daß in der ersten Nacht, nachdem ein Kind geboren wurde, der Bidha-
ta Purush selbst auf die Erde herunterkommt, um über dessen Schicksal zu entscheiden. Daher badet man die Babys in Sandelholzwasser und wickelt sie in weiche, rote malmal, rot - die Farbe des Glücks. Und aus eben diesem Grund hinterläßt man auch Süßigkeiten neben der Wiege. Silberblättriges sandesh, dunkle pantuas, die in goldenem Sirup schwimmen, jilipis, orangefarben wie das Herz des Feuers und mit einer Honigschicht überzogen. Wenn das Kind ausgesprochenes Glück hat, sind all die Schleckereien am Morgen verschwunden.
»Das liegt daran, daß sich die Dienstboten in der Nacht hereinschleichen und sie aufessen«, sagt Anju und schüttelt ungeduldig den Kopf, während ihr Abha Pishi das Haar einölt. So ist sie, meine Cousine, immer muß sie spotten, und sie weigert sich, an etwas zu glauben. Aber sie weiß genausogut wie ich, daß kein Dienstbote in ganz Kalkutta sich trauen würde, Süßigkeiten zu essen, die für einen Gott bestimmt sind.
Und in den alten Sagen heißt es weiter, daß im Gefolge von Bidhata Punish die Dämonen kommen, denn das liegt in der Natur der Dinge: Gutes und Böses treten immer gemeinsam auf. Das ist auch der Grund, warum man eine Öllampe brennen läßt. Und ein geweihtes tulsi-Blatt zum Schutz unter das Kopfkissen des Kindes legt. In reicheren Haushalten wie dem, in dem meine Mutter aufwuchs, heuert man einen Brahmanen an, der die ganze Nacht im Korridor sitzt und verheißungsvolle Gebete spricht - so hat es mir meine Mutter erzählt.
»Was für ein Nonsens«, behauptet Anju. »Es gibt keine Dämonen.«
Da bin ich mir nicht so sicher. Möglicherweise haben sie keine riesigen Zähne, keine gebogenen, bluttriefenden Klauen und hervorquellende rote Augen wie in unseren Kinder-Ramayana-Bilderbüchern, aber irgendwie habe ich das Gefühl, als würden sie tatsächlich existieren. Habe ich denn nicht schon ihren Atem gespürt, wie schleimschwarze Finger, die über mein Rückgrat hinwegstreichen? Später, wenn wir allein sind, werde ich Anju davon erzählen.
Aber in der Gegenwart anderer verhalte ich mich ihr gegenüber immer loyal. Daher antworte ich tapfer: »Das stimmt. Das sind nichts weiter als Märchen.«
Es ist früher Abend, und wir sitzen auf unserer Terrasse, deren Ziegelsteine mit Moos überwachsen sind. Es ist die Zeit, wenn die Sonne ganz tief am Horizont steht, halb verdeckt von den pipal-Bäumen, die entlang unserer hohen Mauern laufen und die Auffahrt bis zu dem verriegelten gußeisernen Tor hinunter säumen. Unser Urgroßvater hat sie vor hundert Jahren pflanzen lassen, um die Frauen seines Hauses vor den Blicken Fremder zu schützen. Abha Pishi, eine unserer drei Mütter, hat uns dies erzählt.
Ja, wir haben drei Mütter - möglicherweise um den Umstand auszugleichen, daß wir keine Väter haben.
Da wäre Pishi, unsere Witwe-Tante, die sich Hals über Kopf in den Haushalt ihres jüngeren Bruders gestürzt hat, als sie im Alter von achtzehn Jahren ihren Mann verlor. Sie ist immer in karges Weiß gekleidet, und ihr ergrauendes Haar ist im orthodoxen Stil ganz nah am Schädel abgeschnitten, so daß die stoppeligen Enden meine Handflächen kitzeln, wenn ich mit den Händen darüber streiche. Pishi ist die einzige, die darauf achtet, daß wir für die Schule angemessen gekleidet sind und unsere zweieinhalb Zentimeter. unterhalb der Knie endenden Uniformen tragen, auf die die Nonnen bestehen. Sie stöbert immer wieder unsere verlorengegangenen Füllhalter und Tintenfäßchen und fehlenden Hausaufgabenseiten auf - wie sie das anstellt, ist mir ein Rätsel - und bereitet unsere Lieblingsgerichte zu: luchis, die ausgerollt und dann zu einem aufgeblähten Goldbraun fritiert werden, Kartoffel- und Blumenkohlcurry, das sie für uns ohne Chilis kocht, und zähflüssiges, süßes paesh, hergestellt aus der Milch der Budhi-Kuh, deren Besitzer sie jeden Morgen zu unserem Haus bringt, damit sie unter Pishis strengem Blick, dem nichts entgeht, gemolken werden kann. In den Ferien flicht sie Jasmin in unser Haar. Aber vor allem ist Pishi für uns eine echte Quelle von Informationen, sie ist diejenige, die uns die Geschichten erzählt, die unsere Mütter nicht verraten, die geheimen, herrlichen, verbotenen Geschichten über unsere Vergangenheit.
Dann wäre da Anjus Mutter, die ich Gouri Ma nenne, und deren feine Wangenknochen und königliche Stirn auf Generationen vornehmer Abstammung schließen lassen, denn sie kommt aus einer Familie, die so alt und respektiert ist wie die der Chatterjees, in die sie hineingeheiratet hat. Ihr Gesicht ist nicht im traditionellen Sinne schön - selbst ich, die ich noch so jung bin, weiß das. Tiefe Falten haben sich um ihren Mund und auf ihrer Stirn eingegraben, denn sie war diejenige, die nach jenem Tag vor zwölf Jahren, als der Donnerschlag ertönte und sie vom Tode unserer Väter erfuhr, die Last auf sich genommen hat, für die Sicherheit der Familie zu sorgen. Aber ihre Augen, diese dunklen Augen mit der unendlichen Tiefe - sie bringen mich dazu, an Kalodighi zu denken, den riesigen See hinter dem Landhaus, das vor Anjus und meiner Geburt einmal unserer Familie gehört hatte. Wenn Gouri Ma mich mit ihren Augen anlächelt, setze ich mich gerader hin. Ich möchte ebenso vornehm und tapfer sein wie sie.
Und schließlich (ich benutze dieses Wort mit leicht schlechtem Gewissen) wäre da noch meine eigene Mutter, Nalini. Ihre Haut besitzt immer noch einen Goldton, denn obwohl Mutter Witwe ist, trägt sie doch jeden Tag etwas Gelbwurzpaste auf ihr Gesicht auf. Ihre perfekt geformten Lippen glitzern rot von den paan, die sie so gern kaut - wohl hauptsächlich wegen der Farbe, die sie auf ihrem Mund hinterlassen, denke ich. Sie lacht sehr oft, meine Mutter, ganz besonders, wenn ihre Freundinnen auf einen Tee und einen kleinen Plausch vorbeikommen. Ihr Lachen hat einen funkelnden, klingelnden Ton wie die Glöckchen an ihren Fußgelenkkettchen, sagen die Leute, obgleich ich es mehr wie dünnes Glas empfinde, gegen das ein Löffel schlägt. Ihre Wange fühlt sich bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie ihr Gesicht gegen das meine preßt, so sanft an wie die Lotusblume, nach der sie genannt ist. Aber wenn sie mich anschaut, zerklüftet für gewöhnlich ein Runzeln ihre Stirn zwischen den Augenbrauen, die so schön wie Flügel sind. Ob es aus Sorge oder aus Mißfallen geschieht, das weiß ich nie. Dann fällt ihr ein, daß Stirnrunzeln zu Altersfalten führt, und sie glättet die Haut rasch mit dem Finger.
Pishi hört auf, Anjus Haar einzuölen und wirft uns ein wissendes Lächeln zu. Ihre Stimme nimmt einen tiefen und zittrigen Klang an, ganz so, wie wenn sie uns Geistergeschichten erzählt. »Sie lauschen, müßt ihr wissen. Die Dämonen lauschen. Und sie mögen es gar nicht, wenn kleine, achtjährige Mädchen so reden. Wartet nur bis heute abend ...«
Verängstigt unterbreche ich sie mit dem ersten Gedanken, der mir in den Sinn kommt. »Pishi-ma, sag, sind die Süßigkeiten bei uns verschwunden gewesen?«
Der Kummer legt sich wie Rauchschwaden über Pishis Gesicht. Ich merke ihr an, daß sie gern eine dieser unglaublichen Geschichten erfinden würde, die sie mit solcher Begeisterung erzählt, Geschichten voller magischer Schimmer und Hoffnung. Aber schließlich erwidert sie mit ausdrucksloser Stimme: »Nein, Sudha. Ein solches Glück hattet ihr nicht.«
Soviel weiß ich bereits. Anju und ich haben das Getuschel gehört. Trotzdem muß ich noch einmal nachfragen.
»Hast du in jener Nacht irgendetwas gesehen?« erkundige ich mich. Denn sie ist diejenige gewesen, die in der Nacht unserer Geburt bei uns blieb, während unsere Mütter im Bett lagen und immer noch unter dem Schock standen, den das schreckliche Telegramm, das bei beiden am Morgen zu früh die Wehen in Gang setzte, ausgelöst hatte. Unsere Mütter, die in Betten lagen, die sie niemals wieder mit ihren Ehemännern teilen würden. Meine Mutter weinte. Ihr wundervolles Haar hing wirr um ihr geschwollenes Gesicht, und sie schlug mit der Faust auf ein Kissen ein, bis es platzte und die ganze Baumwollfüllung, weiß wie die Trauer, hervorquoll. Gouri Ma dagegen lag still und schweigsam da und starrte in die Dunkelheit, die sich genauso erdrückend um sie legte wie all die Verantwortung. Sie wußte, daß niemand sonst in der Familie imstande sein würde, sie auf sich zu nehmen.
Um sie aus meinem Kopf zu verbannen frage ich mit dringlicher Stimme: »Hast du wenigstens etwas gehört?«
Pishi schüttelt bedauernd den Kopf. »Vielleicht kommt der Bidhata Purush nicht für Mädchen.« In ihrer Freundlichkeit läßt sie den Rest unausgesprochen, aber ich habe das Getuschel oft genug gehört, um den Satz in meinem Kopf vervollständigen zu können. Für Mädchen, die ein solches Unglück bringen, daß sie ihren Vätern schon vor ihrer Geburt den Tod einhandeln.
Anju schaut finster drein, und ich weiß, daß sie wie immer mit dem Röntgenblick ihrer wilden, liebevoll dreinschauenden Augen in meinen Kopf hineinsieht und meine Gedanken liest. »Vielleicht gibt es ja auch keinen Bidhata Purush«, bemerkt sie und zieht ihr Haar unter Pishis Händen fort, obwohl es erst halb fertiggeflochten ist. Sie ignoriert Pishis Schimpfen und stolziert zu ihrem Zimmer, wo sie die Tür hinter sich zuknallen wird.
Doch ich sitze ganz still da, während Pishis Finger das Hibiskusöl in meine Kopfhaut massieren und sie die Knoten mit diesem langen, beruhigenden Rhythmus auskämmt, den ich kenne, so lange ich mich erinnern kann. Die Sonne trägt ein tiefes, trauriges Rot, und ich rieche Holzrauch. Er liegt ganz leicht in der Ab endluft. Die Obdachlosen, die auf dem Gehsteig hausen, entzünden ihre Kochfeuer. Ich habe sie schon viele Male gesehen, wenn Singhji, unser Chauffeur, uns zur Schule fährt: eine Mutter in einem abgetragenen, grünen Sari, die sich über einen Gewürzmahlstein beugt, die Tochter, die auf das Baby aufpaßt, damit es nicht in den Rinnstein fällt. Der Vater ist niemals da. Möglicherweise läuft er in seinem roten Turban auf einem Bahnsteig der Howrah Station auf und ab, die Schultern ganz knotig von all den Jahren, in denen er Kisten und zusammengerolltes Bettzeug geschleppt hat, und er ruft: »Coolie chahiye, brauchen Sie einen coolie, memsaab?« Oder vielleicht ist er auch tot, wie mein eigener Vater.
Wann immer mir dieser Gedanke kam, begannen meine Augen vor Mitleid zu brennen, und wenn Ramur Ma, das säuerliche alte Dienstmädchen, das uns überall beaufsichtigt, zufällig nicht mit im Wagen saß, bat ich Singhji anzuhalten, damit ich dem Mädchen eine Süßigkeit aus meiner Butterbrotdose geben konnte. Und das tat er auch.
Von all unseren Dienstboten mag ich Singhji am liebsten - nein, das stimmt nicht ganz, denn eigentlich ist er für mich gar kein richtiger Dienstbote. Das liegt wohl daran, daß ich ihm vertrauen kann und er mich nicht an die Mütter verrät, wie es Ramur Ma immer tut. Vielleicht hat dies seinen Grund darin, daß es sich bei ihm um einen Mann des Schweigens handelt, der nur spricht, wenn es absolut nötig ist - eine Eigenschaft, die ich in einem Haus, in dem so viele Frauen klatschen und tratschen, sehr zu schätzen weiß. Möglicherweise ist es aber auch der Schleier des Mysteriums, der ihn umgibt.
Als Anju und ich ungefähr fünf Jahre alt waren, tauchte Singhji eines Morgens an unserem Tor auf - ein Geschenk des Himmels, wie Pishi immer sagt. Er war auf der Suche nach einer Chauffeurstelle. Unser alter Chauffeur hatte sich gerade zur Ruhe gesetzt, und die Mütter benötigten dringend einen neuen, konnten es sich aber eigentlich nicht leisten. Seit dem Tod der Väter war das Geld knapp. In seinem gebrochenen Bengali erklärte Singhji Gouri Ma, daß sie ihm für seine Arbeit nur das geben sollte, was sie erübrigen konnte. Die Mütter waren ein wenig mißtrauisch, doch sie vermuteten, daß er wegen seines bedauerlichen Aussehens so willig war. Es ist wohl wahr, daß sein Gesicht auf den ersten Blick scheußlich wirkt - es macht mich immer noch verlegen, wenn ich mich daran erinnere, daß ich als kleines Mädchen schreiend vor ihm weggerannt bin, wenn ich ihn sah. Er ist wohl vor Jahren in ein schreckliches Feuer geraten, denn die Haut der gesamten oberen Gesichtshälfte, bis zu seinem Turban hinauf, besteht aus dem nackten, runzeligen Rosa einer alten Verbrennung. Das Feuer hatte auch seine Augenbrauen weggeschmort und seine Augenlider zu schmalen Schlitzen verzogen, was ihm einen seltsam orientalischen Ausdruck verleiht, der so gar nicht zu dem dichten, schwarzen Schnäuze und dem Bart paßt, der den Rest seines Gesichts bedeckt.
»Er hatte Glück, daß wir ihn überhaupt angestellt haben«, sagt Mutter immer wieder gern. »Die meisten Leute hätten das gar nicht getan, denn diese verbrannte Stirn ist ein sicheres Zeichen für lebenslanges Mißgeschick. Außerdem ist er häßlich.«
Ich stimme ihr da nicht zu. Schon so manches Mal, wenn er nicht weiß, daß ich ihn beobachte, habe ich in Singhjis Augen einen Ausdruck des Erinnern entdeckt, entrückt und eindringlich zugleich - jene Art von Blick, den ein verbannter König wohl haben mag, wenn er an das Land denkt, das er zurücklassen mußte. In solchen Momenten ist sein Gesicht überhaupt nicht häßlich, eher wie eine Bergspitze, die einem heftigen Eissturm widerstanden hat. Und irgendwie habe ich das Gefühl, als ob das Glück auf unserer Seite war, als er sich entschieden hat, zu uns zu kommen.
Einmal hörte ich, wie die Dienstboten untereinander darüber klatschten, daß Singhji irgendwo im Punjab Bauer gewesen sei, bis seine Familie bei einer Choleraepidemie den Tod fand und er begann, durch die Lande zu ziehen. Das machte mich furchtbar traurig. Und obwohl Mutter mir strikt untersagt hatte, mich mit einem der Dienstboten über persönliche Belange zu unterhalten, lief ich zum Wagen hinaus und sagte ihm, wie traurig ich über den Verlust sei, den er erlitten hat
te. Er nickte nur stumm. Die verbrannte Mauer seines Gesichts ließ keine weitere Erwiderung zu. Doch einige Tage später erzählte er mir, daß er einmal ein Kind gehabt habe.
Auch wenn Singhji nichts weiter über dieses Kind sagte, stellte ich mir sofort vor, daß es sich um ein kleines Mädchen meines Alters gehandelt hatte. Ich mußte einfach ständig an sie denken. Wie sie wohl ausgesehen haben mochte? Ob sie die gleichen Lieblingsgerichte gehabt hatte wie wir? Welche Spielsachen mochte Singhji ihr wohl vom Dorfbasar mitgebracht haben? Wochenlang wachte ich mitten in der Nacht weinend auf, weil ich von einem Mädchen geträumt hatte, das sich auf einer Matte herumwarf, ganz rasend vor Schmerz. In dem Traum hatte sie mein Gesicht.
»Also wirklich, Sudha!« mahnte Anju mich voller Sorge und Arger zugleich; denn wir teilten uns ein Schlafzimmer, und so fiel es oft ihr zu, mich zu trösten. »Wie kannst du dich nur derart in Dinge hineinsteigern, die nur in deiner Phantasie vorkommen?«
Das würde sie auch sagen, wenn sie jetzt gerade bei mir wäre. Denn es will mir scheinen, als ob ich mich zurückziehe, weg von Pishis fähigen Händen, weg von der Festigkeit der sonnenwarmen Ziegelsteine unter meinen Beinen, als ob ich zurückfalle in jene erste Nacht meiner Existenz, als Anju und ich zusammen in einer behelfsmäßigen Wiege in einem Haushalt liegen, der noch nicht für uns bereit ist, und wo wir an gezuckerten Schnullern saugen, die uns jemand in den Mund gesteckt hat, damit wir ruhig sind. Anjali und Basudha - auch wenn in dem Durcheinander, das um uns herrscht, noch niemand daran gedacht hat, uns einen Namen zu geben. Anjali - das bedeutet Opfer, denn eine gute Frau sollte ihr Leben anderen opfern. Und Basudha, damit ich so geduldig sein werde wie die Erdgöttin, nach der ich benannt bin. Pishi ist unter uns nichts weiter als eine dunkle Gestalt, die ausgestreckt auf dem Boden liegt. Sie ist in einen erschöpften Schlaf gefallen, und das trockene Salz der Tränen hat ihre Wangen überkrustet.
Der Bidhata Punish ist groß, und er hat einen langen Schappseidenbart wie der Astrologe, den Mutter jeden Monat besucht, um herauszufinden, was die Planeten für sie bereithalten. Er trägt eine Robe aus feinster weißer Baumwolle, aus seinen Fingern tropft Licht, und seine Füße schweben über dem Boden, während er auf uns zukommt. Als er sich über unsere Wiege beugt, ist sein Gesicht so blendend-hell, daß ich nicht sagen kann, was für Züge es trägt. Er berührt erst Anjus Stirn und dann die meine mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand. Es ist ein kribbeliges Gefühl, ganz so, wie wenn uns Pishi Tigerbalsam auf die Schläfen reibt. Ich glaube, ich weiß, was er für Anju schreibt. Du wirst tapfer und klug sein, du wirst gegen Ungerechtigkeit kämpfen, du wirst nicht nachgeben. Du wirst einen guten Mann heiraten und die Welt bereisen und viele Söhne haben. Du wirst glücklich sein.
Es ist schon schwieriger sich vorzustellen, was er für mich schreibt. Vielleicht lautet das Wort Schönheit, denn auch wenn ich mich selbst nicht so empfinde, so sagen die Leute doch, daß ich schön sei - sogar schöner noch als meine Mutter es in den ersten Jahren ihrer Ehe war. Vielleicht schreibt er Güte, denn auch wenn ich nicht so gehorsam bin, wie Mutter es gern sehen würde, so bemühe ich mich doch sehr, gut zu sein. Er schreibt noch ein drittes Wort, dessen harte Winkel wie Feuer brennen und mich zum Wimmern bringen, so daß sich Pishi aufrichtet und die Augen reibt. Aber der Bidhata Purush ist bereits fort, und alles, was sie sieht, ist ein Wirbel draußen vor dem Fenster - eine Wolke oder rieselnder Staub - ein verblassender Schimmer, wie Glühwürmchen.
Jahre später werde ich mich fragen, wie wohl das letzte Wort gelautet haben mochte, das er schrieb - war es Kummer?
...
Übersetzung: Angelika Naujokat
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
IN DEN ALTEN SAGEN heißt es, daß in der ersten Nacht, nachdem ein Kind geboren wurde, der Bidha-
ta Purush selbst auf die Erde herunterkommt, um über dessen Schicksal zu entscheiden. Daher badet man die Babys in Sandelholzwasser und wickelt sie in weiche, rote malmal, rot - die Farbe des Glücks. Und aus eben diesem Grund hinterläßt man auch Süßigkeiten neben der Wiege. Silberblättriges sandesh, dunkle pantuas, die in goldenem Sirup schwimmen, jilipis, orangefarben wie das Herz des Feuers und mit einer Honigschicht überzogen. Wenn das Kind ausgesprochenes Glück hat, sind all die Schleckereien am Morgen verschwunden.
»Das liegt daran, daß sich die Dienstboten in der Nacht hereinschleichen und sie aufessen«, sagt Anju und schüttelt ungeduldig den Kopf, während ihr Abha Pishi das Haar einölt. So ist sie, meine Cousine, immer muß sie spotten, und sie weigert sich, an etwas zu glauben. Aber sie weiß genausogut wie ich, daß kein Dienstbote in ganz Kalkutta sich trauen würde, Süßigkeiten zu essen, die für einen Gott bestimmt sind.
Und in den alten Sagen heißt es weiter, daß im Gefolge von Bidhata Punish die Dämonen kommen, denn das liegt in der Natur der Dinge: Gutes und Böses treten immer gemeinsam auf. Das ist auch der Grund, warum man eine Öllampe brennen läßt. Und ein geweihtes tulsi-Blatt zum Schutz unter das Kopfkissen des Kindes legt. In reicheren Haushalten wie dem, in dem meine Mutter aufwuchs, heuert man einen Brahmanen an, der die ganze Nacht im Korridor sitzt und verheißungsvolle Gebete spricht - so hat es mir meine Mutter erzählt.
»Was für ein Nonsens«, behauptet Anju. »Es gibt keine Dämonen.«
Da bin ich mir nicht so sicher. Möglicherweise haben sie keine riesigen Zähne, keine gebogenen, bluttriefenden Klauen und hervorquellende rote Augen wie in unseren Kinder-Ramayana-Bilderbüchern, aber irgendwie habe ich das Gefühl, als würden sie tatsächlich existieren. Habe ich denn nicht schon ihren Atem gespürt, wie schleimschwarze Finger, die über mein Rückgrat hinwegstreichen? Später, wenn wir allein sind, werde ich Anju davon erzählen.
Aber in der Gegenwart anderer verhalte ich mich ihr gegenüber immer loyal. Daher antworte ich tapfer: »Das stimmt. Das sind nichts weiter als Märchen.«
Es ist früher Abend, und wir sitzen auf unserer Terrasse, deren Ziegelsteine mit Moos überwachsen sind. Es ist die Zeit, wenn die Sonne ganz tief am Horizont steht, halb verdeckt von den pipal-Bäumen, die entlang unserer hohen Mauern laufen und die Auffahrt bis zu dem verriegelten gußeisernen Tor hinunter säumen. Unser Urgroßvater hat sie vor hundert Jahren pflanzen lassen, um die Frauen seines Hauses vor den Blicken Fremder zu schützen. Abha Pishi, eine unserer drei Mütter, hat uns dies erzählt.
Ja, wir haben drei Mütter - möglicherweise um den Umstand auszugleichen, daß wir keine Väter haben.
Da wäre Pishi, unsere Witwe-Tante, die sich Hals über Kopf in den Haushalt ihres jüngeren Bruders gestürzt hat, als sie im Alter von achtzehn Jahren ihren Mann verlor. Sie ist immer in karges Weiß gekleidet, und ihr ergrauendes Haar ist im orthodoxen Stil ganz nah am Schädel abgeschnitten, so daß die stoppeligen Enden meine Handflächen kitzeln, wenn ich mit den Händen darüber streiche. Pishi ist die einzige, die darauf achtet, daß wir für die Schule angemessen gekleidet sind und unsere zweieinhalb Zentimeter. unterhalb der Knie endenden Uniformen tragen, auf die die Nonnen bestehen. Sie stöbert immer wieder unsere verlorengegangenen Füllhalter und Tintenfäßchen und fehlenden Hausaufgabenseiten auf - wie sie das anstellt, ist mir ein Rätsel - und bereitet unsere Lieblingsgerichte zu: luchis, die ausgerollt und dann zu einem aufgeblähten Goldbraun fritiert werden, Kartoffel- und Blumenkohlcurry, das sie für uns ohne Chilis kocht, und zähflüssiges, süßes paesh, hergestellt aus der Milch der Budhi-Kuh, deren Besitzer sie jeden Morgen zu unserem Haus bringt, damit sie unter Pishis strengem Blick, dem nichts entgeht, gemolken werden kann. In den Ferien flicht sie Jasmin in unser Haar. Aber vor allem ist Pishi für uns eine echte Quelle von Informationen, sie ist diejenige, die uns die Geschichten erzählt, die unsere Mütter nicht verraten, die geheimen, herrlichen, verbotenen Geschichten über unsere Vergangenheit.
Dann wäre da Anjus Mutter, die ich Gouri Ma nenne, und deren feine Wangenknochen und königliche Stirn auf Generationen vornehmer Abstammung schließen lassen, denn sie kommt aus einer Familie, die so alt und respektiert ist wie die der Chatterjees, in die sie hineingeheiratet hat. Ihr Gesicht ist nicht im traditionellen Sinne schön - selbst ich, die ich noch so jung bin, weiß das. Tiefe Falten haben sich um ihren Mund und auf ihrer Stirn eingegraben, denn sie war diejenige, die nach jenem Tag vor zwölf Jahren, als der Donnerschlag ertönte und sie vom Tode unserer Väter erfuhr, die Last auf sich genommen hat, für die Sicherheit der Familie zu sorgen. Aber ihre Augen, diese dunklen Augen mit der unendlichen Tiefe - sie bringen mich dazu, an Kalodighi zu denken, den riesigen See hinter dem Landhaus, das vor Anjus und meiner Geburt einmal unserer Familie gehört hatte. Wenn Gouri Ma mich mit ihren Augen anlächelt, setze ich mich gerader hin. Ich möchte ebenso vornehm und tapfer sein wie sie.
Und schließlich (ich benutze dieses Wort mit leicht schlechtem Gewissen) wäre da noch meine eigene Mutter, Nalini. Ihre Haut besitzt immer noch einen Goldton, denn obwohl Mutter Witwe ist, trägt sie doch jeden Tag etwas Gelbwurzpaste auf ihr Gesicht auf. Ihre perfekt geformten Lippen glitzern rot von den paan, die sie so gern kaut - wohl hauptsächlich wegen der Farbe, die sie auf ihrem Mund hinterlassen, denke ich. Sie lacht sehr oft, meine Mutter, ganz besonders, wenn ihre Freundinnen auf einen Tee und einen kleinen Plausch vorbeikommen. Ihr Lachen hat einen funkelnden, klingelnden Ton wie die Glöckchen an ihren Fußgelenkkettchen, sagen die Leute, obgleich ich es mehr wie dünnes Glas empfinde, gegen das ein Löffel schlägt. Ihre Wange fühlt sich bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie ihr Gesicht gegen das meine preßt, so sanft an wie die Lotusblume, nach der sie genannt ist. Aber wenn sie mich anschaut, zerklüftet für gewöhnlich ein Runzeln ihre Stirn zwischen den Augenbrauen, die so schön wie Flügel sind. Ob es aus Sorge oder aus Mißfallen geschieht, das weiß ich nie. Dann fällt ihr ein, daß Stirnrunzeln zu Altersfalten führt, und sie glättet die Haut rasch mit dem Finger.
Pishi hört auf, Anjus Haar einzuölen und wirft uns ein wissendes Lächeln zu. Ihre Stimme nimmt einen tiefen und zittrigen Klang an, ganz so, wie wenn sie uns Geistergeschichten erzählt. »Sie lauschen, müßt ihr wissen. Die Dämonen lauschen. Und sie mögen es gar nicht, wenn kleine, achtjährige Mädchen so reden. Wartet nur bis heute abend ...«
Verängstigt unterbreche ich sie mit dem ersten Gedanken, der mir in den Sinn kommt. »Pishi-ma, sag, sind die Süßigkeiten bei uns verschwunden gewesen?«
Der Kummer legt sich wie Rauchschwaden über Pishis Gesicht. Ich merke ihr an, daß sie gern eine dieser unglaublichen Geschichten erfinden würde, die sie mit solcher Begeisterung erzählt, Geschichten voller magischer Schimmer und Hoffnung. Aber schließlich erwidert sie mit ausdrucksloser Stimme: »Nein, Sudha. Ein solches Glück hattet ihr nicht.«
Soviel weiß ich bereits. Anju und ich haben das Getuschel gehört. Trotzdem muß ich noch einmal nachfragen.
»Hast du in jener Nacht irgendetwas gesehen?« erkundige ich mich. Denn sie ist diejenige gewesen, die in der Nacht unserer Geburt bei uns blieb, während unsere Mütter im Bett lagen und immer noch unter dem Schock standen, den das schreckliche Telegramm, das bei beiden am Morgen zu früh die Wehen in Gang setzte, ausgelöst hatte. Unsere Mütter, die in Betten lagen, die sie niemals wieder mit ihren Ehemännern teilen würden. Meine Mutter weinte. Ihr wundervolles Haar hing wirr um ihr geschwollenes Gesicht, und sie schlug mit der Faust auf ein Kissen ein, bis es platzte und die ganze Baumwollfüllung, weiß wie die Trauer, hervorquoll. Gouri Ma dagegen lag still und schweigsam da und starrte in die Dunkelheit, die sich genauso erdrückend um sie legte wie all die Verantwortung. Sie wußte, daß niemand sonst in der Familie imstande sein würde, sie auf sich zu nehmen.
Um sie aus meinem Kopf zu verbannen frage ich mit dringlicher Stimme: »Hast du wenigstens etwas gehört?«
Pishi schüttelt bedauernd den Kopf. »Vielleicht kommt der Bidhata Purush nicht für Mädchen.« In ihrer Freundlichkeit läßt sie den Rest unausgesprochen, aber ich habe das Getuschel oft genug gehört, um den Satz in meinem Kopf vervollständigen zu können. Für Mädchen, die ein solches Unglück bringen, daß sie ihren Vätern schon vor ihrer Geburt den Tod einhandeln.
Anju schaut finster drein, und ich weiß, daß sie wie immer mit dem Röntgenblick ihrer wilden, liebevoll dreinschauenden Augen in meinen Kopf hineinsieht und meine Gedanken liest. »Vielleicht gibt es ja auch keinen Bidhata Purush«, bemerkt sie und zieht ihr Haar unter Pishis Händen fort, obwohl es erst halb fertiggeflochten ist. Sie ignoriert Pishis Schimpfen und stolziert zu ihrem Zimmer, wo sie die Tür hinter sich zuknallen wird.
Doch ich sitze ganz still da, während Pishis Finger das Hibiskusöl in meine Kopfhaut massieren und sie die Knoten mit diesem langen, beruhigenden Rhythmus auskämmt, den ich kenne, so lange ich mich erinnern kann. Die Sonne trägt ein tiefes, trauriges Rot, und ich rieche Holzrauch. Er liegt ganz leicht in der Ab endluft. Die Obdachlosen, die auf dem Gehsteig hausen, entzünden ihre Kochfeuer. Ich habe sie schon viele Male gesehen, wenn Singhji, unser Chauffeur, uns zur Schule fährt: eine Mutter in einem abgetragenen, grünen Sari, die sich über einen Gewürzmahlstein beugt, die Tochter, die auf das Baby aufpaßt, damit es nicht in den Rinnstein fällt. Der Vater ist niemals da. Möglicherweise läuft er in seinem roten Turban auf einem Bahnsteig der Howrah Station auf und ab, die Schultern ganz knotig von all den Jahren, in denen er Kisten und zusammengerolltes Bettzeug geschleppt hat, und er ruft: »Coolie chahiye, brauchen Sie einen coolie, memsaab?« Oder vielleicht ist er auch tot, wie mein eigener Vater.
Wann immer mir dieser Gedanke kam, begannen meine Augen vor Mitleid zu brennen, und wenn Ramur Ma, das säuerliche alte Dienstmädchen, das uns überall beaufsichtigt, zufällig nicht mit im Wagen saß, bat ich Singhji anzuhalten, damit ich dem Mädchen eine Süßigkeit aus meiner Butterbrotdose geben konnte. Und das tat er auch.
Von all unseren Dienstboten mag ich Singhji am liebsten - nein, das stimmt nicht ganz, denn eigentlich ist er für mich gar kein richtiger Dienstbote. Das liegt wohl daran, daß ich ihm vertrauen kann und er mich nicht an die Mütter verrät, wie es Ramur Ma immer tut. Vielleicht hat dies seinen Grund darin, daß es sich bei ihm um einen Mann des Schweigens handelt, der nur spricht, wenn es absolut nötig ist - eine Eigenschaft, die ich in einem Haus, in dem so viele Frauen klatschen und tratschen, sehr zu schätzen weiß. Möglicherweise ist es aber auch der Schleier des Mysteriums, der ihn umgibt.
Als Anju und ich ungefähr fünf Jahre alt waren, tauchte Singhji eines Morgens an unserem Tor auf - ein Geschenk des Himmels, wie Pishi immer sagt. Er war auf der Suche nach einer Chauffeurstelle. Unser alter Chauffeur hatte sich gerade zur Ruhe gesetzt, und die Mütter benötigten dringend einen neuen, konnten es sich aber eigentlich nicht leisten. Seit dem Tod der Väter war das Geld knapp. In seinem gebrochenen Bengali erklärte Singhji Gouri Ma, daß sie ihm für seine Arbeit nur das geben sollte, was sie erübrigen konnte. Die Mütter waren ein wenig mißtrauisch, doch sie vermuteten, daß er wegen seines bedauerlichen Aussehens so willig war. Es ist wohl wahr, daß sein Gesicht auf den ersten Blick scheußlich wirkt - es macht mich immer noch verlegen, wenn ich mich daran erinnere, daß ich als kleines Mädchen schreiend vor ihm weggerannt bin, wenn ich ihn sah. Er ist wohl vor Jahren in ein schreckliches Feuer geraten, denn die Haut der gesamten oberen Gesichtshälfte, bis zu seinem Turban hinauf, besteht aus dem nackten, runzeligen Rosa einer alten Verbrennung. Das Feuer hatte auch seine Augenbrauen weggeschmort und seine Augenlider zu schmalen Schlitzen verzogen, was ihm einen seltsam orientalischen Ausdruck verleiht, der so gar nicht zu dem dichten, schwarzen Schnäuze und dem Bart paßt, der den Rest seines Gesichts bedeckt.
»Er hatte Glück, daß wir ihn überhaupt angestellt haben«, sagt Mutter immer wieder gern. »Die meisten Leute hätten das gar nicht getan, denn diese verbrannte Stirn ist ein sicheres Zeichen für lebenslanges Mißgeschick. Außerdem ist er häßlich.«
Ich stimme ihr da nicht zu. Schon so manches Mal, wenn er nicht weiß, daß ich ihn beobachte, habe ich in Singhjis Augen einen Ausdruck des Erinnern entdeckt, entrückt und eindringlich zugleich - jene Art von Blick, den ein verbannter König wohl haben mag, wenn er an das Land denkt, das er zurücklassen mußte. In solchen Momenten ist sein Gesicht überhaupt nicht häßlich, eher wie eine Bergspitze, die einem heftigen Eissturm widerstanden hat. Und irgendwie habe ich das Gefühl, als ob das Glück auf unserer Seite war, als er sich entschieden hat, zu uns zu kommen.
Einmal hörte ich, wie die Dienstboten untereinander darüber klatschten, daß Singhji irgendwo im Punjab Bauer gewesen sei, bis seine Familie bei einer Choleraepidemie den Tod fand und er begann, durch die Lande zu ziehen. Das machte mich furchtbar traurig. Und obwohl Mutter mir strikt untersagt hatte, mich mit einem der Dienstboten über persönliche Belange zu unterhalten, lief ich zum Wagen hinaus und sagte ihm, wie traurig ich über den Verlust sei, den er erlitten hat
te. Er nickte nur stumm. Die verbrannte Mauer seines Gesichts ließ keine weitere Erwiderung zu. Doch einige Tage später erzählte er mir, daß er einmal ein Kind gehabt habe.
Auch wenn Singhji nichts weiter über dieses Kind sagte, stellte ich mir sofort vor, daß es sich um ein kleines Mädchen meines Alters gehandelt hatte. Ich mußte einfach ständig an sie denken. Wie sie wohl ausgesehen haben mochte? Ob sie die gleichen Lieblingsgerichte gehabt hatte wie wir? Welche Spielsachen mochte Singhji ihr wohl vom Dorfbasar mitgebracht haben? Wochenlang wachte ich mitten in der Nacht weinend auf, weil ich von einem Mädchen geträumt hatte, das sich auf einer Matte herumwarf, ganz rasend vor Schmerz. In dem Traum hatte sie mein Gesicht.
»Also wirklich, Sudha!« mahnte Anju mich voller Sorge und Arger zugleich; denn wir teilten uns ein Schlafzimmer, und so fiel es oft ihr zu, mich zu trösten. »Wie kannst du dich nur derart in Dinge hineinsteigern, die nur in deiner Phantasie vorkommen?«
Das würde sie auch sagen, wenn sie jetzt gerade bei mir wäre. Denn es will mir scheinen, als ob ich mich zurückziehe, weg von Pishis fähigen Händen, weg von der Festigkeit der sonnenwarmen Ziegelsteine unter meinen Beinen, als ob ich zurückfalle in jene erste Nacht meiner Existenz, als Anju und ich zusammen in einer behelfsmäßigen Wiege in einem Haushalt liegen, der noch nicht für uns bereit ist, und wo wir an gezuckerten Schnullern saugen, die uns jemand in den Mund gesteckt hat, damit wir ruhig sind. Anjali und Basudha - auch wenn in dem Durcheinander, das um uns herrscht, noch niemand daran gedacht hat, uns einen Namen zu geben. Anjali - das bedeutet Opfer, denn eine gute Frau sollte ihr Leben anderen opfern. Und Basudha, damit ich so geduldig sein werde wie die Erdgöttin, nach der ich benannt bin. Pishi ist unter uns nichts weiter als eine dunkle Gestalt, die ausgestreckt auf dem Boden liegt. Sie ist in einen erschöpften Schlaf gefallen, und das trockene Salz der Tränen hat ihre Wangen überkrustet.
Der Bidhata Punish ist groß, und er hat einen langen Schappseidenbart wie der Astrologe, den Mutter jeden Monat besucht, um herauszufinden, was die Planeten für sie bereithalten. Er trägt eine Robe aus feinster weißer Baumwolle, aus seinen Fingern tropft Licht, und seine Füße schweben über dem Boden, während er auf uns zukommt. Als er sich über unsere Wiege beugt, ist sein Gesicht so blendend-hell, daß ich nicht sagen kann, was für Züge es trägt. Er berührt erst Anjus Stirn und dann die meine mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand. Es ist ein kribbeliges Gefühl, ganz so, wie wenn uns Pishi Tigerbalsam auf die Schläfen reibt. Ich glaube, ich weiß, was er für Anju schreibt. Du wirst tapfer und klug sein, du wirst gegen Ungerechtigkeit kämpfen, du wirst nicht nachgeben. Du wirst einen guten Mann heiraten und die Welt bereisen und viele Söhne haben. Du wirst glücklich sein.
Es ist schon schwieriger sich vorzustellen, was er für mich schreibt. Vielleicht lautet das Wort Schönheit, denn auch wenn ich mich selbst nicht so empfinde, so sagen die Leute doch, daß ich schön sei - sogar schöner noch als meine Mutter es in den ersten Jahren ihrer Ehe war. Vielleicht schreibt er Güte, denn auch wenn ich nicht so gehorsam bin, wie Mutter es gern sehen würde, so bemühe ich mich doch sehr, gut zu sein. Er schreibt noch ein drittes Wort, dessen harte Winkel wie Feuer brennen und mich zum Wimmern bringen, so daß sich Pishi aufrichtet und die Augen reibt. Aber der Bidhata Purush ist bereits fort, und alles, was sie sieht, ist ein Wirbel draußen vor dem Fenster - eine Wolke oder rieselnder Staub - ein verblassender Schimmer, wie Glühwürmchen.
Jahre später werde ich mich fragen, wie wohl das letzte Wort gelautet haben mochte, das er schrieb - war es Kummer?
...
Übersetzung: Angelika Naujokat
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- 461 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- ISBN-10:
- ISBN-13: 4026411114880
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