Septagon
In einem Keller im Norden Philadelphias wird die Leiche eines jungen Mädchens gefunden. Todesursache: Ertrinken - doch weit und breit gibt es kein Wasser. Die Detectives Jessica Balzano und Kevin Byrne stehen vor einem Rätsel.
Die Spur...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Septagon “
In einem Keller im Norden Philadelphias wird die Leiche eines jungen Mädchens gefunden. Todesursache: Ertrinken - doch weit und breit gibt es kein Wasser. Die Detectives Jessica Balzano und Kevin Byrne stehen vor einem Rätsel.
Die Spur führt sie zu einer exzentrischen alten Dame, aber auch sie überlebt nicht. Sie hinterlässt ein kryptisches Wort, gebildet aus vier Scrabble-Steinen: LUDO. Bald taucht eine weitere Tote auf, mit Säbeln durchbohrt - doch am Tatort gibt es keinen Tropfen Blut. Bei den Detectives wächst die Gewissheit, dass es ein Muster hinter diesen mysteriösen Morden gibt - und dass der Mörder ein grausames Spiel spielt. Um ihn zu stoppen, müssen sie es schaffen, ihm um einen Zug voraus zu sein...
»Stellen Sie sich darauf ein, die ganze Nacht wach zu bleiben!« (James Ellroy, Bestsellerautor)
Die Spur führt sie zu einer exzentrischen alten Dame, aber auch sie überlebt nicht. Sie hinterlässt ein kryptisches Wort, gebildet aus vier Scrabble-Steinen: LUDO. Bald taucht eine weitere Tote auf, mit Säbeln durchbohrt - doch am Tatort gibt es keinen Tropfen Blut. Bei den Detectives wächst die Gewissheit, dass es ein Muster hinter diesen mysteriösen Morden gibt - und dass der Mörder ein grausames Spiel spielt. Um ihn zu stoppen, müssen sie es schaffen, ihm um einen Zug voraus zu sein...
»Stellen Sie sich darauf ein, die ganze Nacht wach zu bleiben!« (James Ellroy, Bestsellerautor)
Lese-Probe zu „Septagon “
Septagon von Richard MontanariIn der Dunkelheit, in den schwarzblauen Tiefen der Nacht, hört er ein Raunen: leise, klagende Töne, die hinter der Holzvertäfelung, dem Sims und den ausgetrockneten, wurmstichigen Holzlatten hin und her huschen, zitternd und scharrend. Zuerst versteht er die Wörter nicht, so, als würden sie in einer fremden Sprache gesprochen, doch als die Abenddämmerung dem Morgengrauen weicht, erkennt er jede Stimme, jeden Ton und jeden Klang – wie eine Mutter, die ihr Kind auf einem vollen Spielplatz sofort an der Stimme erkennt.
In manchen Nächten hört er den Schrei, einen einzigen Schrei, der durch die Dielen nach oben schallt und ihn von Zimmer zu Zimmer verfolgt, die große Treppe hinunter und durch die Eingangshalle, durch die Küche und die Vorratskammer bis in die gesegnete Stille des Kellers. Dort, unter der Erde, unter den Gerippen Tausender Jahrhunderte begraben, akzeptiert er seine schrecklichen Sünden. Vielleicht ist es sogar die Feuchtigkeit, die anklagt – eisige Tropfen auf den Steinen, die wie Tränen auf Brokat schimmern.
Als die Erinnerungen lebendig werden, denkt er an Elise Beausoleil, das Mädchen aus Chicago. Er erinnert sich an ihren Stolz, ihre geschickten Hände und daran, wie sie in den letzten Sekunden verhandelt hat, als wäre sie noch immer das hübscheste Mädchen auf dem Highschool-Ball. Elise Beausoleil in ihren hohen Stiefeln und dem Trenchcoat. Sie hatte gerne gelesen. Jane Austen sei ihre Lieblingsschriftstellerin, hatte sie gesagt, dicht gefolgt von Charlotte Brontë. In ihrer Handtasche fand er ein vergilbtes Exemplar von Villette.
Er hielt Elise in der Bibliothek gefangen.
Manchmal erinnert er sich an Monica Renzi, an ihre dicken Arme und Beine und an die Körperbehaarung, an den wohligen Schauer des Hochgefühls, als Elise nach dem Warum fragte und er
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überschwänglich die Hand hob wie eine ihrer spöttelnden Mitschülerinnen. Monica war die Tochter eines Ladenbesitzers aus Scranton und bevorzugte rote Kleidung. Schüchtern und jungfräulich.
Monica hatte ihm einmal gesagt, er erinnere sie an einen jungen Banker in einem dieser alten Filme, die sie sich samstagabends mit ihrer Großmutter anschaute.
Das Solarium war Monicas Zimmer.
Er erinnert sich an den Nervenkitzel der Jagd, an den bitteren Kaffee, den er in Bahnhöfen und an Endhaltestellen von Bussen trank, und an die Hitze, den Lärm und Staub der Vergnügungsparks, an die Nationalfeiertage, die Jahrmärkte und die kalten Vormittage im Auto. Er erinnert sich an die Erregung auf den Fahrten durch die Stadt, die zarte Beute in Händen, als das verlockende Rätsel beginnt.
In der winzigen Zeitspanne zwischen Licht und Schatten, im grauen Beichtstuhl der Morgendämmerung, erinnert er sich manchmal an alles.
Jeden Morgen tritt im Haus Stille ein. Der Staub legt sich, die Schatten weichen, die Stimmen verhallen.
An diesem Morgen duscht er, zieht sich an, frühstückt und geht durch die Eingangstür hinaus auf die Veranda. Die ersten Knospen sprießen, und die Narzissen am Gartenzaun begrüßen ihn. Ein Hauch von Frühling liegt in der Luft.
Hinter ihm erhebt sich ein stattliches viktorianisches Haus, dessen Schönheit längst verblüht ist. Die Gärten rings um das Haus sind überwuchert, die Gehwege von Unkraut bewachsen, die grün angelaufenen Dachrinnen voller Schmutz und verrottetem Laub. Dieses Haus ist das Museum seines Lebens, zu einer Zeit erbaut, als solchen herrschaftlichen Häusern mit eigenem Charakter noch Namen gegeben wurden, die in das Bewusstsein der Gegend, in die Seele der Stadt und die Geschichte der Region eingingen.
An diesem verrückten Ort, wo Mauern sich bewegen und Treppen ins Nirgendwo führen, wo man durch Wandschränke in verborgene Werkstätten gelangt und Porträts einander mit ernsten Mienen in der mittäglichen Stille beobachten, kennt er jeden Korridor, jede Türangel, jede Schwelle, jedes Fenster, jedes Ornament. Dieser Ort heißt Faerwood. In jedem dieser Räume wohnt eine rastlose Seele. Und in jeder Seele wohnt ein Geheimnis.
Er steht inmitten eines belebten Einkaufszentrums und nimmt die unterschiedlichen Düfte wahr, die die Luft erfüllen: die Gastronomiemeile mit ihren unzähligen Schätzen; das Kaufhaus mit den Lotionen und Pudern und scheußlichen Toilettenartikeln; der Duft junger Frauen. Er beobachtet das übergewichtige Paar in den Zwanzigern, das einen Kinderwagen schiebt, und bedauert die unmerklich ältere Frau.
Um zehn vor neun am Abend huscht er in ein kleines Geschäft.
Es ist hell erleuchtet, und die Luft ist noch immer heiß. Die Regale sind vom Boden bis zur Decke mit Keramikfiguren und Rosen aus Kunstseide voll gepackt. Eine ganze Wand wird von Ständern eingenommen, in denen Glückwunschkarten stecken.
In dem Geschäft ist nur eine Kundin. Er ist ihr schon den ganzen Abend gefolgt, hat die Traurigkeit in ihren Augen gesehen, die Last auf ihren Schultern bemerkt und die Müdigkeit in ihren Schritten.
Sie ist die Ertrinkende.
Langsam nähert er sich ihr, wählt ein paar Karten aus, kichert leise, als er sie betrachtet, und stellt sie zurück in den Ständer. Er schaut sich um. Niemand beobachtet sie.
Es ist Zeit.
»Du siehst verwirrt aus«, sagt er.
Sie hebt den Blick. Sie ist groß und dünn. Ihre Haut hat eine wunderschöne Blässe. Ihre aschblonde Haarpracht ist lässig hochgesteckt und wird von einer weißen Plastikspange gehalten. Ihr Hals ist wie aus Elfenbein geschnitzt. Sie trägt einen lila Rucksack. Sie antwortet nicht.
Er hat sie eingeschüchtert.
Geh weiter.
»Die Auswahl ist einfach zu groß«, sagt sie nervös. Er hat damit gerechnet. Schließlich ist er ein Unbekannter auf ihrem Spielbrett fremder Figuren. Sie kichert und kaut an einem Fingernagel. Süß. Er schätzt sie auf siebzehn. Das beste Alter.
»Sag mir, für welchen Anlass«, bittet er sie. »Vielleicht kann ich helfen.«
Argwohn flackert in ihren Augen. Jetzt geht sie auf Distanz. Sie wirft einen Blick durch den Laden, um sich zu vergewissern, dass niemand zuhört. »Na ja, ich …«, beginnt sie. »Mein Freund ist …«
Schweigen.
»Er ist was?«, fragt er, um das Gespräch in Gang zu halten.
Zuerst will sie es ihm nicht sagen, dann aber redet sie doch. »Er ist eigentlich gar nicht mein Freund. Er betrügt mich.« Sie steckt eine Haarsträhne hinters Ohr. »Na ja … so richtig betrügt er mich nicht. Noch nicht.« Sie wendet sich zum Gehen, dreht sich dann aber wieder um. »Er hat sich mit Courtney verabredet, meiner besten Freundin. Diese Schlampe.« Ein roter Schimmer erscheint auf ihrem makellosen Teint. »Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle.«
Heute Abend ist er leger gekleidet: verwaschene Jeans, schwarzes Leinenjackett, Mokassins, ein bisschen mehr Gel im Haar als sonst, eine silberne Halskette mit einem ägyptischen Schlaufenkreuz, dem Symbol des Lebens, eine schicke Brille. Er sieht noch ziemlich jung aus. Außerdem flößt er anderen Menschen Vertrauen ein. So war es schon immer.
»So ein Schuft.«
Das falsche Wort? Nein. Sie lächelt. Eine Siebzehnjährige, reif für ihr Alter.
»Eher ein Idiot«, sagt sie und kichert nervös. »Ein Volltrottel.«
Er beugt sich ein Stück zurück, vergrößert den Abstand zwischen ihnen um ein paar wichtige Zentimeter. Und schon entspannt sie sich. Sie ist zu dem Schluss gekommen, dass er keine Bedrohung darstellt.
»Glaubst du, eine ironische Karte wäre das Richtige?«
Sie denkt darüber nach. »Wahrscheinlich«, sagt sie. »Vielleicht.
Ich weiß nicht. Ja, glaub schon.«
»Bringt er dich zum Lachen?«
Jungen, mit denen man sich anfreundet, tun das meistens. Sogar die, die ein bildschönes siebzehnjähriges Mädchen betrügen.
»Ja«, sagt sie. »Er ist ziemlich lustig. Manchmal.« Sie hebt den Blick, schaut ihm in die Augen. Ihm zerspringt beinahe das Herz.
»Aber in letzter Zeit nicht mehr.«
»Ich finde die hier nicht schlecht«, sagt er. »Sie könnte genau das richtige Gefühl ausdrücken.« Er nimmt die Karte aus dem Ständer, betrachtet sie noch einmal kurz und reicht sie ihr dann. Die Karte ist ein bisschen gewagt. Durch sein Zögern will er ihrem Altersunterschied Rechnung tragen und ihr zu verstehen geben, dass er sich durchaus bewusst ist, ihr noch nie begegnet zu sein. Sie nimmt die Karte, klappt sie auf, liest den Text und muss lachen. Sie legt eine Hand auf den Mund. Nur ein leises Prusten ist jetzt noch zu hören. Sie errötet verlegen.
In diesem Augenblick verschwimmt ihr Bild, wie er es jedes Mal erlebt. Ihr Gesicht zerfließt, als würde man es durch eine Fensterscheibe betrachten, über die Regen läuft.
»Die ist perfekt«, sagt sie. »Super. Danke.«
Er beobachtet sie, als sie zur nicht besetzten Ladenkasse und dann zur Videokamera schaut. Sie dreht der Kamera den Rücken zu, steckt die Karte in ihre Tasche und schaut ihn lächelnd an. Er kann sich keine reinere Liebe vorstellen.
»Ich brauche noch eine andere Karte«, sagt sie. »Aber ich weiß nicht, ob Sie mir da auch helfen können.«
»Du würdest dich wundern, was ich alles kann.«
»Sie ist für meine Eltern.« Sie stemmt die Hände in die Hüften.
Erneut steigt Röte in ihr hübsches Gesicht, doch sie verblasst sofort wieder. »Ich bin nämlich …«
Er hebt eine Hand, um sie zu unterbrechen. Es ist besser so. »Ich verstehe.«
»Echt?«
»Ja.«
»Wieso?«
Er lächelt. »Ich war auch mal so jung wie du.«
Sie öffnet den Mund, um zu antworten, schweigt dann aber.
»Es wird alles wieder gut«, sagt er. »Du wirst sehen. So ist es immer.«
Sie wendet kurz den Blick ab. Es scheint, als hätte sie soeben eine Entscheidung getroffen und als wäre ihr eine schwere Last von den Schultern genommen worden. Sie schaut ihn wieder an, lächelt traurig und sagt: »Danke.«
Anstatt etwas zu erwidern, schaut er sie nur liebevoll an. Die Deckenbeleuchtung zaubert einen goldenen Schimmer in ihr Haar. Im nächsten Moment weiß er es.
Er wird sie in der Speisekammer gefangen halten.
Zehn Minuten später folgt er ihr unbemerkt auf den Parkplatz. Er achtet genau auf den Schatten, das Licht und das schwarzblaue Halbdunkel des Abends. Regen hat eingesetzt, ein leichter Nieselregen, und es sieht nicht so aus, als würde ein Schauer daraus.
Er blickt ihr nach, als sie die Straße überquert und sich unterstellt.
Kurz darauf steigt sie in einen Bus, der zum Bahnhof fährt.
Er legt eine cd ein, und die Klänge von Vedrai, Carino erfüllen das Wageninnere. Sie erfreuen seine Seele, wieder einmal, und versüßen ihm den Augenblick, wie nur Mozart es vermag. Er folgt dem Bus in die Stadt. Mit entflammtem Herzen nimmt er die Jagd wieder auf.
Sie ist Emma Bovary. Sie ist Elizabeth Bennet. Sie ist Cassiopeia und Cosette.
Sie gehört ihm.
Übersetzung: Karin Meddekis
Copyright © 2009 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Monica hatte ihm einmal gesagt, er erinnere sie an einen jungen Banker in einem dieser alten Filme, die sie sich samstagabends mit ihrer Großmutter anschaute.
Das Solarium war Monicas Zimmer.
Er erinnert sich an den Nervenkitzel der Jagd, an den bitteren Kaffee, den er in Bahnhöfen und an Endhaltestellen von Bussen trank, und an die Hitze, den Lärm und Staub der Vergnügungsparks, an die Nationalfeiertage, die Jahrmärkte und die kalten Vormittage im Auto. Er erinnert sich an die Erregung auf den Fahrten durch die Stadt, die zarte Beute in Händen, als das verlockende Rätsel beginnt.
In der winzigen Zeitspanne zwischen Licht und Schatten, im grauen Beichtstuhl der Morgendämmerung, erinnert er sich manchmal an alles.
Jeden Morgen tritt im Haus Stille ein. Der Staub legt sich, die Schatten weichen, die Stimmen verhallen.
An diesem Morgen duscht er, zieht sich an, frühstückt und geht durch die Eingangstür hinaus auf die Veranda. Die ersten Knospen sprießen, und die Narzissen am Gartenzaun begrüßen ihn. Ein Hauch von Frühling liegt in der Luft.
Hinter ihm erhebt sich ein stattliches viktorianisches Haus, dessen Schönheit längst verblüht ist. Die Gärten rings um das Haus sind überwuchert, die Gehwege von Unkraut bewachsen, die grün angelaufenen Dachrinnen voller Schmutz und verrottetem Laub. Dieses Haus ist das Museum seines Lebens, zu einer Zeit erbaut, als solchen herrschaftlichen Häusern mit eigenem Charakter noch Namen gegeben wurden, die in das Bewusstsein der Gegend, in die Seele der Stadt und die Geschichte der Region eingingen.
An diesem verrückten Ort, wo Mauern sich bewegen und Treppen ins Nirgendwo führen, wo man durch Wandschränke in verborgene Werkstätten gelangt und Porträts einander mit ernsten Mienen in der mittäglichen Stille beobachten, kennt er jeden Korridor, jede Türangel, jede Schwelle, jedes Fenster, jedes Ornament. Dieser Ort heißt Faerwood. In jedem dieser Räume wohnt eine rastlose Seele. Und in jeder Seele wohnt ein Geheimnis.
Er steht inmitten eines belebten Einkaufszentrums und nimmt die unterschiedlichen Düfte wahr, die die Luft erfüllen: die Gastronomiemeile mit ihren unzähligen Schätzen; das Kaufhaus mit den Lotionen und Pudern und scheußlichen Toilettenartikeln; der Duft junger Frauen. Er beobachtet das übergewichtige Paar in den Zwanzigern, das einen Kinderwagen schiebt, und bedauert die unmerklich ältere Frau.
Um zehn vor neun am Abend huscht er in ein kleines Geschäft.
Es ist hell erleuchtet, und die Luft ist noch immer heiß. Die Regale sind vom Boden bis zur Decke mit Keramikfiguren und Rosen aus Kunstseide voll gepackt. Eine ganze Wand wird von Ständern eingenommen, in denen Glückwunschkarten stecken.
In dem Geschäft ist nur eine Kundin. Er ist ihr schon den ganzen Abend gefolgt, hat die Traurigkeit in ihren Augen gesehen, die Last auf ihren Schultern bemerkt und die Müdigkeit in ihren Schritten.
Sie ist die Ertrinkende.
Langsam nähert er sich ihr, wählt ein paar Karten aus, kichert leise, als er sie betrachtet, und stellt sie zurück in den Ständer. Er schaut sich um. Niemand beobachtet sie.
Es ist Zeit.
»Du siehst verwirrt aus«, sagt er.
Sie hebt den Blick. Sie ist groß und dünn. Ihre Haut hat eine wunderschöne Blässe. Ihre aschblonde Haarpracht ist lässig hochgesteckt und wird von einer weißen Plastikspange gehalten. Ihr Hals ist wie aus Elfenbein geschnitzt. Sie trägt einen lila Rucksack. Sie antwortet nicht.
Er hat sie eingeschüchtert.
Geh weiter.
»Die Auswahl ist einfach zu groß«, sagt sie nervös. Er hat damit gerechnet. Schließlich ist er ein Unbekannter auf ihrem Spielbrett fremder Figuren. Sie kichert und kaut an einem Fingernagel. Süß. Er schätzt sie auf siebzehn. Das beste Alter.
»Sag mir, für welchen Anlass«, bittet er sie. »Vielleicht kann ich helfen.«
Argwohn flackert in ihren Augen. Jetzt geht sie auf Distanz. Sie wirft einen Blick durch den Laden, um sich zu vergewissern, dass niemand zuhört. »Na ja, ich …«, beginnt sie. »Mein Freund ist …«
Schweigen.
»Er ist was?«, fragt er, um das Gespräch in Gang zu halten.
Zuerst will sie es ihm nicht sagen, dann aber redet sie doch. »Er ist eigentlich gar nicht mein Freund. Er betrügt mich.« Sie steckt eine Haarsträhne hinters Ohr. »Na ja … so richtig betrügt er mich nicht. Noch nicht.« Sie wendet sich zum Gehen, dreht sich dann aber wieder um. »Er hat sich mit Courtney verabredet, meiner besten Freundin. Diese Schlampe.« Ein roter Schimmer erscheint auf ihrem makellosen Teint. »Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle.«
Heute Abend ist er leger gekleidet: verwaschene Jeans, schwarzes Leinenjackett, Mokassins, ein bisschen mehr Gel im Haar als sonst, eine silberne Halskette mit einem ägyptischen Schlaufenkreuz, dem Symbol des Lebens, eine schicke Brille. Er sieht noch ziemlich jung aus. Außerdem flößt er anderen Menschen Vertrauen ein. So war es schon immer.
»So ein Schuft.«
Das falsche Wort? Nein. Sie lächelt. Eine Siebzehnjährige, reif für ihr Alter.
»Eher ein Idiot«, sagt sie und kichert nervös. »Ein Volltrottel.«
Er beugt sich ein Stück zurück, vergrößert den Abstand zwischen ihnen um ein paar wichtige Zentimeter. Und schon entspannt sie sich. Sie ist zu dem Schluss gekommen, dass er keine Bedrohung darstellt.
»Glaubst du, eine ironische Karte wäre das Richtige?«
Sie denkt darüber nach. »Wahrscheinlich«, sagt sie. »Vielleicht.
Ich weiß nicht. Ja, glaub schon.«
»Bringt er dich zum Lachen?«
Jungen, mit denen man sich anfreundet, tun das meistens. Sogar die, die ein bildschönes siebzehnjähriges Mädchen betrügen.
»Ja«, sagt sie. »Er ist ziemlich lustig. Manchmal.« Sie hebt den Blick, schaut ihm in die Augen. Ihm zerspringt beinahe das Herz.
»Aber in letzter Zeit nicht mehr.«
»Ich finde die hier nicht schlecht«, sagt er. »Sie könnte genau das richtige Gefühl ausdrücken.« Er nimmt die Karte aus dem Ständer, betrachtet sie noch einmal kurz und reicht sie ihr dann. Die Karte ist ein bisschen gewagt. Durch sein Zögern will er ihrem Altersunterschied Rechnung tragen und ihr zu verstehen geben, dass er sich durchaus bewusst ist, ihr noch nie begegnet zu sein. Sie nimmt die Karte, klappt sie auf, liest den Text und muss lachen. Sie legt eine Hand auf den Mund. Nur ein leises Prusten ist jetzt noch zu hören. Sie errötet verlegen.
In diesem Augenblick verschwimmt ihr Bild, wie er es jedes Mal erlebt. Ihr Gesicht zerfließt, als würde man es durch eine Fensterscheibe betrachten, über die Regen läuft.
»Die ist perfekt«, sagt sie. »Super. Danke.«
Er beobachtet sie, als sie zur nicht besetzten Ladenkasse und dann zur Videokamera schaut. Sie dreht der Kamera den Rücken zu, steckt die Karte in ihre Tasche und schaut ihn lächelnd an. Er kann sich keine reinere Liebe vorstellen.
»Ich brauche noch eine andere Karte«, sagt sie. »Aber ich weiß nicht, ob Sie mir da auch helfen können.«
»Du würdest dich wundern, was ich alles kann.«
»Sie ist für meine Eltern.« Sie stemmt die Hände in die Hüften.
Erneut steigt Röte in ihr hübsches Gesicht, doch sie verblasst sofort wieder. »Ich bin nämlich …«
Er hebt eine Hand, um sie zu unterbrechen. Es ist besser so. »Ich verstehe.«
»Echt?«
»Ja.«
»Wieso?«
Er lächelt. »Ich war auch mal so jung wie du.«
Sie öffnet den Mund, um zu antworten, schweigt dann aber.
»Es wird alles wieder gut«, sagt er. »Du wirst sehen. So ist es immer.«
Sie wendet kurz den Blick ab. Es scheint, als hätte sie soeben eine Entscheidung getroffen und als wäre ihr eine schwere Last von den Schultern genommen worden. Sie schaut ihn wieder an, lächelt traurig und sagt: »Danke.«
Anstatt etwas zu erwidern, schaut er sie nur liebevoll an. Die Deckenbeleuchtung zaubert einen goldenen Schimmer in ihr Haar. Im nächsten Moment weiß er es.
Er wird sie in der Speisekammer gefangen halten.
Zehn Minuten später folgt er ihr unbemerkt auf den Parkplatz. Er achtet genau auf den Schatten, das Licht und das schwarzblaue Halbdunkel des Abends. Regen hat eingesetzt, ein leichter Nieselregen, und es sieht nicht so aus, als würde ein Schauer daraus.
Er blickt ihr nach, als sie die Straße überquert und sich unterstellt.
Kurz darauf steigt sie in einen Bus, der zum Bahnhof fährt.
Er legt eine cd ein, und die Klänge von Vedrai, Carino erfüllen das Wageninnere. Sie erfreuen seine Seele, wieder einmal, und versüßen ihm den Augenblick, wie nur Mozart es vermag. Er folgt dem Bus in die Stadt. Mit entflammtem Herzen nimmt er die Jagd wieder auf.
Sie ist Emma Bovary. Sie ist Elizabeth Bennet. Sie ist Cassiopeia und Cosette.
Sie gehört ihm.
Übersetzung: Karin Meddekis
Copyright © 2009 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
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Bibliographische Angaben
- 2009, 461 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- ISBN-10:
- ISBN-13: 4250968802802
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