Shakespeares Hamlet
Zeit seines Lebens war für Dietrich Schwanitz das Werk William Shakespeares Dreh- und Angelpunkt seiner literarischen, philologischen und philosophischen Aktivitäten. Nach seiner Emeritierung begann er in den Jahren 2002/2003 mit einem einzigartigen Projekt: der erläuternden Nacherzählung sämtlicher Shakespeare-Dramen. Dabei konnte sich seine profunde Kenntnis des Werkes mit seiner plastischen Erzählgabe auf unvergleichliche Weise verbinden. Was uns heute als fragmentarisches Vermächtnis Schwanitz` vorliegt, ist eine Einführung in vier zentrale Werke Shakespeares, deren Lektüre das Glück der Erkenntnis bereitet.
Shakespeares Hamlet von DietrichSchwanitz
LESEPROBE
Wenn wir in einer klarenNacht unsere Augen zum Himmel erheben und auf einen der Millionen Lichtpunktekonzentrieren, schauen wir vielleicht in die Vergangenheit. Vielleicht ist derStern, den wir da anstarren, viele tausend Lichtjahre entfernt und schon längsterloschen. Dann sehen wir, was nicht mehr existiert, und sehen nicht, daß wir das sehen.
An sich sind wirSüchtige nach Sights, nach Sehenswürdigkeiten. Wirbesteigen schneebedeckte Berge, wo das Atmen zur Qual wird, nur um einen gutenRundblick zu haben. Wir schwärmen aus, durchqueren tödliche Wüstenzonen,tauchen in abgrundtiefe Gewässer und lassen uns, in stählerne Zigarren gepfercht,wie Galeerensklaven durch den Hexenkessel dampfender Tropengewitter fliegen,nur um in fernen Ländern immer neue Städte, Menschen, Bauwerke und Naturwunderzu sehen. Wir blicken durch Elektronenmikroskope in das Innere der Materie, wirschielen der Natur unter die Röcke, und wir haben in unseren Wohnzimmern flimmerndeKästen installiert, mit deren Hilfe wir jederzeit in jeden Kontinent und jedeKlimazone der Welt blicken können. Ja, wir können in die Kapitänskajüte derTitanic schauen, in den Uterus unserer Frauen und auf die Rückseite des Mondes.
Doch sehen wir, was wir sehen?
Was sieht man dagegen,wenn man in ein Buch blickt? Nehmen wir Shakespeares »Hamlet«. Wir sehen den Fjordvon [Helsingör], und wir sehen einen jungen Mann in Schwarz. Wir sehen über2500 Jahre hinweg nach Athen, wo die Tragödie entstand. »Hamlet« ist nach 2000Jahren wieder die erste europäische große Tragödie. Und so sehen wir das Londonvon 1602: Es ist Nachmittag, und am südlichen Themse-Ufer hat sich das Globe Theater gefüllt. Auf den drei umlaufenden Galerienplaudern und scherzen die Vornehmen. Die Vertreter aller Stände derGesellschaft haben sich hier eingefunden. Wozu? Was treibt sie her? Nun, mitdem Theater betreten sie eine Institution, die sie in eine andere Weltentführt, die doch der ihren gleicht. Warum? Was haben sie davon? Nun, zumersten Mal entkommen sie der Monopolwirtschaft Gottes und vergleichen.
Nicht mehr lange, unddie Trompete wird erschallen, und die Flagge wird hochgehen: das Zeichen, daß das Stück beginnt. Und wenn wir dann in eine andere Weltentführt werden, werden wir zum ersten Mal das Sehen sehen.Kein Vorhang wird aufgehen, und kein Saallicht verlöschen, während das Bühnenlichtangeht, um das zu bewirken. Das wird allein durch das Wort geschehen, ohneHilfe von Kulissen. Deshalb ist die Sprache Shakespeares immer so nah an derBeschwörung. Sie hat magische Kraft.
Doch nun müssen wirunser Geplauder beenden. Gerade hat die Trompete geschmettert, und die Menge iststill geworden. Und wir sehen, wie Shakespeare, der Magier, eine Wortkulisseerbaut, durch die er uns zeigt, wo wir sind.
Wir hören Stimmen, kurze Rufe vonMännern.
»Wer da?«
»Nein, Ihr habt zu antworten. Bleibtstehn und weist Euch aus!«
»Lang lebe der König!«
»Bernardo?«
»Er selbst.«
»Ihr seid pünktlich.«
Und langsam erkennenwir: Es handelt sich um eine Wachablösung, denn es ist kurz vor Mitternacht,zwischen den Tagen, im Niemandsland zwischen Himmel und Erde, oben auf derPlattform oberhalb der Befestigungsanlagen des dänischen Königsschlosses von HeIsingör.
Wachablösung? Sind wirwirklich in Dänemark und nicht vielmehr in London? Auch hier wartet man auf einegefährliche Wachablösung: Das sechzehnte Jahrhundert ist gerade zu Endegegangen. Wir befinden uns zwischen den Jahrhunderten, und die Queen Elizabeth- Gott segne sie - wird bald sterben. Und sie hat keinen leiblichen Erben! Dasganze Volk ist unruhig. Wird die Ablösung gutgehen?
»Wer da?«
»Nein, Ihr habt zu antworten. Stehtund weist Euch aus!«
»Lang lebe der König!«
»James der Erste von Schottland?«
»Er selbst.«
Ja, James von Schottland ist derdesignierte Nachfolger auf den Thron von England.
Mitten in diese Zeit derUnsicherheit hinein, in diese Zeitenwende, schreibt das größte Medientalent derZeit ein Drama, dessen Held, Hamlet, sich in der gleichen Situation befindetwie der Thronfolger von England. Auch James ist, wie Hamlet, Protestant. Und wieHamlet hat auch er katholische Eltern: Maria Stuart und DarnleyStuart. Und wie Hamlets Mutter heiratet auch James' Mutter den Mörder ihresMannes und ihren Geliebten. Das soll nicht aufgefallen sein? Ähnlichkeiten mitlebenden Personen sind nicht zufällig und vom Autor beabsichtigt. Und um dasganz klar zu machen, führt er uns in seinem Stück ein Stück vor, das zwecksAngleichung an die Wirklichkeit umgeschrieben wird. Deutlicher kann man jawohl nicht werden!
Schließlich warteten dieFeinde der Reformation nur auf eine Gelegenheit zu intervenieren. Wie viele Plänehaben sie schon geschmiedet, um Elizabeth zu ermorden! Und gäbe es nicht Walsinghams vorzüglichen Geheimdienst - auch derShakespeare-Kollege Christopher Marlowe hat sich da betätigt -, wäre Elizabethlängst einem Terroranschlag zum Opfer gefallen. Die Katholiken sind Jünger desTerrorismus, und das sogar im Auftrage seiner Heiligkeit, des Ajatollah vonRom. Religion und Terrorismus scheinen sich irgendwie anzuziehen.
Und hat deshalb nichtvor kurzem der Earl of Essex im Interesse von Jameseinen Aufstand unternommen, um an Stelle der alternden schwachen Queen ihm die Nachfolgezu sichern? Er war das Haupt der Hofclique, zu der auch Shakespeare gehörte.Und hatte man nicht am Tage vor dem Aufstand als Stimmungsaufreißer seinen»Richard Il.« gespielt, weil da ein König abgesetztwurde? Trotzdem war der Aufstand fehlgeschlagen, und Essexwurde geköpft. Sein Haupt stak noch auf einer Stange auf der Themsebrücke, diehinüber zum Südufer mit dem Theater führte. Und Hamlet, so sagte man, sei einPorträt des Grafen Essex.
Doch nun müssen wirzurück nach [Helsingör]. Auf der Bühne sind zwei neue Gestalten erschienen:Horatio und Marcellus. Sie haben sich um Mitternacht mit den Wachen hierverabredet, denn das war die Zeit, als Marcellus und Bernardoeinen Geist gesehen haben, der dem toten König Hamlet, des Prinzen Vater,glich. Und gerade wollen sie noch mal erzählen, wie sich das alles zugetragenhat, da erscheint er selbst, der Geist.
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© Eichborn Verlag
- Autor: Dietrich Schwanitz
- 2006, 161 Seiten, Maße: 12,5 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben: Matthias Bischoff
- Verlag: Eichborn
- ISBN-10:
- ISBN-13: 2000000023601
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