Shanghai Tango
Mein Leben als Soldat und Tänzerin
Jin Xing, 1967 in Shenyang geboren, ging als Kind zum Militär, um in klassischem Tanz ausgebildet zu werden. Mit 17 war er an der Spitze des chinesischen Balletts - und Oberst der Armee. Er setzte ein Stipendium für Modern Dance in New York durch, arbeitete...
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
4.95 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Shanghai Tango “
Jin Xing, 1967 in Shenyang geboren, ging als Kind zum Militär, um in klassischem Tanz ausgebildet zu werden. Mit 17 war er an der Spitze des chinesischen Balletts - und Oberst der Armee. Er setzte ein Stipendium für Modern Dance in New York durch, arbeitete dann in Rom und Brüssel. 1994 kehrte er mit dem Entschluss, sein Geschlecht zu ändern, in seine Heimat zurück. Heute lebt Jin Xing mit ihrem deutschen Ehemann und drei adoptierten Kindern in Shanghai. Sie leitet ihre unabhängige Kompagnie, das "Jin Xing Dance Theatre", und arbeitet weltweit als renommierte Choreografin.
Klappentext zu „Shanghai Tango “
Märchenhaft schön, zutiefst anrührend und schonungslos offen: die faszinierende Lebensgeschichte der internationalen Startänzerin!
Mchenhaft sch, zutiefst anrrend und schonungslos offen: die faszinierende Lebensgeschichte der internationalen Startzerin!
Lese-Probe zu „Shanghai Tango “
ERSTER TEILDas weißhaarige Mädchen
Der Jeep parkt vor der Haustür meiner Mutter in Peking. Ich sitze hinten, auf dem Sitz neben mir ist die Filmausrüstung verstaut: Videokameras, Kabel, Mikros, Beleuchtungsutensilien. Li Xiaoming hat mit einer Kamera in der Hand auf dem Beifahrersitz Platz genommen. Er dreht sich zu mir, um mich zu filmen. Li Jian, der am Steuer sitzt, wird ungeduldig. Wir werden zu spät kommen. Li Xiaoming bittet ihn um ein wenig Geduld. Mama ist herausgekommen, um sich noch ein letztes Mal von mir zu verabschieden, und er richtet die Kamera auf sie. Sie hält sich an der Tür fest. Ich sehe Tränen über ihre Wangen fließen, obwohl sie doch sonst nie weint! Sie wischt sie nicht weg. Mein Herz krampft sich zusammen bei dem Anblick. Sie hat mir ihre ganze Liebe geschenkt, mir, ihrem einzigen Sohn. In China ist es der Sohn, der die Familie fortleben lässt. Es ist der Sohn, den man mit Liebesbeweisen überschüttet. Es ist der Sohn, der zählt. Und jetzt wird sie ihren Sohn verlieren und an seiner Stelle eine weitere Tochter bekommen.
Li Jian tippt auf das Zifferblatt der Uhr.
"Wir müssen los."
Auf mein zustimmendes Zeichen hin dreht er den Zündschlüssel. Der Jeep springt an. Ich drehe mich wieder zu meiner Mutter. Sie steht immer noch da, stocksteif und mit tränennassem Gesicht. Und plötzlich muss auch ich weinen. Li Xiaoming filmt mich. Hinter einem Schleier aus Tränen zieht die Straße an mir vorbei. Ich rede mir ein, dass ich um meine Mutter weine. Aber das stimmt nur halb. Ich weine auch um mich. Ein Abschnitt meines Lebens geht zu Ende: Mein Leben an der Militärakademie, wo ich den Rang eines Obersts bekleide, mein gesamtes Leben als Junge und Mann, das einzige Leben, das ich kenne. In ein paar Stunden wird es zu Ende sein, und es wird kein Zurück mehr geben. Ich stürze mich kopfüber ins Unbekannte. Obwohl ich gut vorgesorgt und immer wieder über die Gründe nachgedacht habe, die dafür und dagegen sprechen, mir über die Einzelheiten der
... mehr
Operation klar geworden bin, mir sogar in den schicken Boutiquen von Las Vegas eine ganze Kollektion weiblicher Dessous gekauft habe, fehlt mir jedes sichere Wissen über das, was die Zukunft für mich bereithält.
Eben erst haben wir das chinesische Neujahrsfest gefeiert. Wir schreiben das Jahr 1995. Im August werde ich achtundzwanzig Jahre alt sein. Schon vor zwei Jahren bin ich aus Europa zurückgekehrt, schon zwei Jahre warte ich auf diesen Augenblick. Aber in Wahrheit sind es über zwanzig Jahre. Es ist kalt. Außerhalb der Stadt ist die Erde vom Winter ausgetrocknet, die Bäume sind kahl. Die sonst so liebliche Landschaft sieht heute düster aus. Ob wir schnell fahren, ob wir am Rand von Peking in Staus geraten - all das bemerke ich nicht.
Im Krankenhaus in den Duftbergen zeigt uns Frau Dr. Yang ihre Sammlung von Silikonbrüsten. Es gibt Brüste in allen Größen: zweihundert Gramm schwer, zweihundertfünfzig, von winzig bis extrem schwer. Ich wiege sie in der Hand. Ich kann auswählen wie in einem Laden. Es ist betörend. Die größte berühre ich mit einem Finger. Sie ist straff und glatt und bezaubernd gewölbt, ich will sie und keine andere. Doch Dr. Yang versucht mich davon abzubringen und preist die Eigenschaften der kleinsten, die ich lächerlich platt finde. Eine Brust für junge Mädchen von kaum achtzehn Jahren. Kommt nicht in Frage! Ich brauche die Brüste einer richtigen Frau. Li Xiaoming ist meiner Meinung. Von seinem männlichen Standpunkt aus betrachtet sind ohne Zweifel die voluminösesten Brüste die schönsten. Doch Dr. Yang hört nicht auf ihn. "Solche Brüste werden Sie beim Tanzen stören", sagt sie mit ihrer ganzen medizinischen Autorität. Ich glaube allerdings, dass sie die großen einfach unpassend findet, zu sehr ins Auge fallend. Eine junge Chinesin soll diskrete Brüste haben. Schließlich, nach langen Diskussionen, entscheiden wir uns für einen Kompromiss: eine mittlere Größe.
So fängt es an. Mit den Brüsten. Eine ganz einfache Sache, von den drei Eingriffen, die ich durchzustehen habe, die am wenigsten schmerzhafte Operation. Zudem bin ich in guten Händen: Frau Dr. Yang Peiying ist Schönheitschirurgin und hat die Brustoperation in China eingeführt; ihre Reputation auf diesem Gebiet ist unangefochten.
Ich habe ein Zimmer für mich. Darauf musste ich lange warten, und es ging nicht ohne Warten und harte Verhandlung ab. Normalerweise liegen die Patienten zu fünft oder gar zu siebt in einem Zimmer. Die Einzelzimmer sind amtlichen Würdenträgern und höheren Offizieren vorbehalten. Die Verwaltung hatte mich gewarnt: Wenn Sie allein sein wollen, werden Sie teuer dafür bezahlen müssen. Das war mir egal. Wenn nötig, würde ich auch das Dreifache zahlen. In einem Zimmer mit nur einem Bett fühlt man sich wie im Hotel. Man hat seine Ruhe, sein privates Bad, eine eigene Schwester, Fernsehen, Telefon, also den größtmöglichen Luxus. Ich will mich wie zu Hause fühlen. Li Xiaoming und das Fernsehteam haben das Zimmer daneben gemietet und ihre Ausrüstung darin untergebracht (es sind drei Kameras da und sechs Journalisten). Li Xiaoming könnte auch in dem Zimmer übernachten: Das Krankenhaus lässt keine Möglichkeit der zusätzlichen Geldeinnahme ungenutzt, man sieht ein Zimmer nicht gern unbelegt. Kurz nach dem Neujahrsfest gibt es nicht allzu viele Patienten auf der Abteilung Schönheitschirurgie.
Zunächst muss ich den psychologischen Test absolvieren, der im Krankenhaus Nummer drei in Peking stattfindet. Eine Formalität, verglichen mit den im Westen verlangten zwei Jahren Psychotherapie, gefolgt von der Prüfung des "wirklichen Lebens", bei der man als Frau gekleidet seinen Alltag bewältigen muss, um die Ärzte von der Ernsthaftigkeit und Fundiertheit seines Anliegens zu überzeugen; erst dann nehmen sie das Skalpell in die Hand. Entschlossen widme ich mich der Liste mit den über tausend Fragen - denkbar trockenen Fragen, bei denen man nur Ja oder Nein ankreuzen kann. Um den Probanden auszutricksen, kehren die gleichen Fragen in veränderter Form immer wieder. Ich gebe mir Mühe. Nur jetzt, so kurz vor dem Ziel, nicht noch Schiffbruch erleiden... Bei nur 60 Prozent "weiblichen" Antworten gilt die Operation als nicht gerechtfertigt. Bei 75 Prozent wird eine Behandlung zur Stärkung der Männlichkeit des Patienten befürwortet, das wäre im akademischen Leben die Chance zur Wiederholungsprüfung für den Kandidaten. Bei über 80 Prozent wird die Operation empfohlen. Ich peile also die 80 Prozent an. Das Ergebnis übertrifft meine Hoffnungen: 94 Prozent. Die medizinischen Experten geben mir grünes Licht.
Im OP. Blendendes Licht. Überall laufen Männer in weißen Kitteln umher. Wozu all diese Ärzte? Aber nein! Es sind die Filmleute, allesamt mit mir befreundet, denen man die hier angemessene OP-Kleidung gegeben hat. Sie installieren ihre Lampen so, dass der Operationstisch gut zu sehen ist. Frau Dr. Yang hat ihnen die Erlaubnis zum Drehen gegeben. Schon vor Monaten hat Li Xiaoming angefangen mit seinem Dokumentarfilm über mich, in dem meine Operation den Hauptteil bilden wird. Ich fühle mich besser, als ich sehe, mit welchem Eifer sie sich ins Zeug legen - als würden sie die Bühne für eine Aufführung vorbereiten. Ich muss nur noch mein Tanztrikot überziehen, und schon geht's los! Ich straffe mich.
" Shang tai!", sagt Dr. Yang. Rauf mit Ihnen!
Ich lache laut. Der gleiche Ausdruck heißt auf Chinesisch auch: Auf die Bühne!
Na gut, auf die Bühne! Nehmen wir an, es ist meine erste Vorstellung.
Dr. Yang beugt sich zu mir. "Sind Sie bereit?" Ich sehe ihr in die Augen. "Ja, ich bin bereit."
Sie nickt. Ich strecke mich aus. Die Kameras sind auf mich gerichtet. Ich habe keine Angst mehr. "Gut. Film ab!"
Am nächsten Tag sehe ich mein Profil im Spiegel meines Zimmers im Krankenhaus, und was ich erblicke, ist das Bild einer Frau. Ich umfasse meine Brüste mit den Händen, wie es Männer tun, wenn sie eine Frau zärtlich streicheln. Der erste Schritt ist getan. Ich weiß, dass es nichts ist gegen das, was noch folgen wird. Man hat mich gewarnt: Nach der zweiten Operation werden die Schmerzen schrecklich sein, nach der dritten (und letzten) kaum auszuhalten. Aber daran denke ich nicht. Ich berühre ganz sacht die Spitzen meiner Brüste. Ich bewundere ihre anmutige Form und bin entzückt. Endlich verwirklicht sich der Traum meiner Kindheit.
Ich bin sechs Jahre alt und habe gerade eine Vorstellung des Weißhaarigen Mädchens gesehen, einem der ersten großen Ballettwerke des kommunistischen China. Es ist die Geschichte eines jungen Mädchens, das sich vor den Misshandlungen eines Großgrundbesitzers in eine Höhle flüchtet, wo seine Haare mit einem Schlag weiß werden - es wird dann natürlich von den Revolutionären der Volksbefreiungsarmee gerettet. Ich bin wie berauscht vor Freude, hingerissen von der Vorstellung, von den fließenden Bewegungen der Tänzerin, der Geschmeidigkeit ihrer Sprünge, den Entrechats, dem Zauber ihrer duftigen und glitzernden Kostüme, ihren langen Zöpfen, die ihren Bewegungen schimmernd folgen, der geheimnisvollen Aura ihres bleich geschminkten Gesichts. Wie viel schöner war dieser Tanz als dieRollen, die ich im Kindergarten spielen durfte - zum Beispiel wenn ich stocksteif auf der Bühne stehend den Ruhm des revolutionären Helden Li Yuhe mit einem Lied aus der Oper Die rote Laterne verkündete.
Eben erst haben wir das chinesische Neujahrsfest gefeiert. Wir schreiben das Jahr 1995. Im August werde ich achtundzwanzig Jahre alt sein. Schon vor zwei Jahren bin ich aus Europa zurückgekehrt, schon zwei Jahre warte ich auf diesen Augenblick. Aber in Wahrheit sind es über zwanzig Jahre. Es ist kalt. Außerhalb der Stadt ist die Erde vom Winter ausgetrocknet, die Bäume sind kahl. Die sonst so liebliche Landschaft sieht heute düster aus. Ob wir schnell fahren, ob wir am Rand von Peking in Staus geraten - all das bemerke ich nicht.
Im Krankenhaus in den Duftbergen zeigt uns Frau Dr. Yang ihre Sammlung von Silikonbrüsten. Es gibt Brüste in allen Größen: zweihundert Gramm schwer, zweihundertfünfzig, von winzig bis extrem schwer. Ich wiege sie in der Hand. Ich kann auswählen wie in einem Laden. Es ist betörend. Die größte berühre ich mit einem Finger. Sie ist straff und glatt und bezaubernd gewölbt, ich will sie und keine andere. Doch Dr. Yang versucht mich davon abzubringen und preist die Eigenschaften der kleinsten, die ich lächerlich platt finde. Eine Brust für junge Mädchen von kaum achtzehn Jahren. Kommt nicht in Frage! Ich brauche die Brüste einer richtigen Frau. Li Xiaoming ist meiner Meinung. Von seinem männlichen Standpunkt aus betrachtet sind ohne Zweifel die voluminösesten Brüste die schönsten. Doch Dr. Yang hört nicht auf ihn. "Solche Brüste werden Sie beim Tanzen stören", sagt sie mit ihrer ganzen medizinischen Autorität. Ich glaube allerdings, dass sie die großen einfach unpassend findet, zu sehr ins Auge fallend. Eine junge Chinesin soll diskrete Brüste haben. Schließlich, nach langen Diskussionen, entscheiden wir uns für einen Kompromiss: eine mittlere Größe.
So fängt es an. Mit den Brüsten. Eine ganz einfache Sache, von den drei Eingriffen, die ich durchzustehen habe, die am wenigsten schmerzhafte Operation. Zudem bin ich in guten Händen: Frau Dr. Yang Peiying ist Schönheitschirurgin und hat die Brustoperation in China eingeführt; ihre Reputation auf diesem Gebiet ist unangefochten.
Ich habe ein Zimmer für mich. Darauf musste ich lange warten, und es ging nicht ohne Warten und harte Verhandlung ab. Normalerweise liegen die Patienten zu fünft oder gar zu siebt in einem Zimmer. Die Einzelzimmer sind amtlichen Würdenträgern und höheren Offizieren vorbehalten. Die Verwaltung hatte mich gewarnt: Wenn Sie allein sein wollen, werden Sie teuer dafür bezahlen müssen. Das war mir egal. Wenn nötig, würde ich auch das Dreifache zahlen. In einem Zimmer mit nur einem Bett fühlt man sich wie im Hotel. Man hat seine Ruhe, sein privates Bad, eine eigene Schwester, Fernsehen, Telefon, also den größtmöglichen Luxus. Ich will mich wie zu Hause fühlen. Li Xiaoming und das Fernsehteam haben das Zimmer daneben gemietet und ihre Ausrüstung darin untergebracht (es sind drei Kameras da und sechs Journalisten). Li Xiaoming könnte auch in dem Zimmer übernachten: Das Krankenhaus lässt keine Möglichkeit der zusätzlichen Geldeinnahme ungenutzt, man sieht ein Zimmer nicht gern unbelegt. Kurz nach dem Neujahrsfest gibt es nicht allzu viele Patienten auf der Abteilung Schönheitschirurgie.
Zunächst muss ich den psychologischen Test absolvieren, der im Krankenhaus Nummer drei in Peking stattfindet. Eine Formalität, verglichen mit den im Westen verlangten zwei Jahren Psychotherapie, gefolgt von der Prüfung des "wirklichen Lebens", bei der man als Frau gekleidet seinen Alltag bewältigen muss, um die Ärzte von der Ernsthaftigkeit und Fundiertheit seines Anliegens zu überzeugen; erst dann nehmen sie das Skalpell in die Hand. Entschlossen widme ich mich der Liste mit den über tausend Fragen - denkbar trockenen Fragen, bei denen man nur Ja oder Nein ankreuzen kann. Um den Probanden auszutricksen, kehren die gleichen Fragen in veränderter Form immer wieder. Ich gebe mir Mühe. Nur jetzt, so kurz vor dem Ziel, nicht noch Schiffbruch erleiden... Bei nur 60 Prozent "weiblichen" Antworten gilt die Operation als nicht gerechtfertigt. Bei 75 Prozent wird eine Behandlung zur Stärkung der Männlichkeit des Patienten befürwortet, das wäre im akademischen Leben die Chance zur Wiederholungsprüfung für den Kandidaten. Bei über 80 Prozent wird die Operation empfohlen. Ich peile also die 80 Prozent an. Das Ergebnis übertrifft meine Hoffnungen: 94 Prozent. Die medizinischen Experten geben mir grünes Licht.
Im OP. Blendendes Licht. Überall laufen Männer in weißen Kitteln umher. Wozu all diese Ärzte? Aber nein! Es sind die Filmleute, allesamt mit mir befreundet, denen man die hier angemessene OP-Kleidung gegeben hat. Sie installieren ihre Lampen so, dass der Operationstisch gut zu sehen ist. Frau Dr. Yang hat ihnen die Erlaubnis zum Drehen gegeben. Schon vor Monaten hat Li Xiaoming angefangen mit seinem Dokumentarfilm über mich, in dem meine Operation den Hauptteil bilden wird. Ich fühle mich besser, als ich sehe, mit welchem Eifer sie sich ins Zeug legen - als würden sie die Bühne für eine Aufführung vorbereiten. Ich muss nur noch mein Tanztrikot überziehen, und schon geht's los! Ich straffe mich.
" Shang tai!", sagt Dr. Yang. Rauf mit Ihnen!
Ich lache laut. Der gleiche Ausdruck heißt auf Chinesisch auch: Auf die Bühne!
Na gut, auf die Bühne! Nehmen wir an, es ist meine erste Vorstellung.
Dr. Yang beugt sich zu mir. "Sind Sie bereit?" Ich sehe ihr in die Augen. "Ja, ich bin bereit."
Sie nickt. Ich strecke mich aus. Die Kameras sind auf mich gerichtet. Ich habe keine Angst mehr. "Gut. Film ab!"
Am nächsten Tag sehe ich mein Profil im Spiegel meines Zimmers im Krankenhaus, und was ich erblicke, ist das Bild einer Frau. Ich umfasse meine Brüste mit den Händen, wie es Männer tun, wenn sie eine Frau zärtlich streicheln. Der erste Schritt ist getan. Ich weiß, dass es nichts ist gegen das, was noch folgen wird. Man hat mich gewarnt: Nach der zweiten Operation werden die Schmerzen schrecklich sein, nach der dritten (und letzten) kaum auszuhalten. Aber daran denke ich nicht. Ich berühre ganz sacht die Spitzen meiner Brüste. Ich bewundere ihre anmutige Form und bin entzückt. Endlich verwirklicht sich der Traum meiner Kindheit.
Ich bin sechs Jahre alt und habe gerade eine Vorstellung des Weißhaarigen Mädchens gesehen, einem der ersten großen Ballettwerke des kommunistischen China. Es ist die Geschichte eines jungen Mädchens, das sich vor den Misshandlungen eines Großgrundbesitzers in eine Höhle flüchtet, wo seine Haare mit einem Schlag weiß werden - es wird dann natürlich von den Revolutionären der Volksbefreiungsarmee gerettet. Ich bin wie berauscht vor Freude, hingerissen von der Vorstellung, von den fließenden Bewegungen der Tänzerin, der Geschmeidigkeit ihrer Sprünge, den Entrechats, dem Zauber ihrer duftigen und glitzernden Kostüme, ihren langen Zöpfen, die ihren Bewegungen schimmernd folgen, der geheimnisvollen Aura ihres bleich geschminkten Gesichts. Wie viel schöner war dieser Tanz als dieRollen, die ich im Kindergarten spielen durfte - zum Beispiel wenn ich stocksteif auf der Bühne stehend den Ruhm des revolutionären Helden Li Yuhe mit einem Lied aus der Oper Die rote Laterne verkündete.
... weniger
Autoren-Porträt von Jin Xing
Jin Xing (3. August 1967 in Shenyang) ist eine chinesische Tänzerin und Choreografin des Modern Dance, die sich mit 28 Jahren einer geschlechtsangleichenden Operation unterzog. Sie lebt mit ihren drei adoptierten Kindern und ihrem deutschen Ehemann in Shanghai und führt dort das Jin Xing Dance Theatre.Catherine Texier, geboren in Frankreich und dort aufgewachsen, hat vier Romane, eine Anthologie amerikanischer Literatur und ein Buch über ihre Ehe veröffentlicht. Ihre Werke wurden in zehn Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt in New York.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jin Xing
- 2008, 222 Seiten, mit farbigen Abbildungen, mit Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 11,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Mit Catherine Texier. Aus d. Französ. v. Anne Spielmann
- Übersetzer: Anne Spielmann
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442368499
- ISBN-13: 9783442368495
Rezension zu „Shanghai Tango “
"Jin Xing ist das kulturelle Aushängeschild Shanghais, und Shanghai ist das Versuchslabor Chinas. Wenn sich etwas verändert in China, dann zuerst dort. Die Rolle der Frau etwa: Es gibt viele ,neue Frauen' in China, aber Jin Xing ist eine Allegorie auf die Verwandlung, eine sichtbare Parabel auf Chinas Metamorphose. "
Kommentar zu "Shanghai Tango"
0 Gebrauchte Artikel zu „Shanghai Tango“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Shanghai Tango".
Kommentar verfassen