Sieben Jahre Ewigkeit
Im Nachkriegsdeutschland: Edith verliebt sich in einen jungen Mann. Sieben Jahre lang treffen sie sich. Heimlich, denn der Mann ist mitverantwortlich für den Tod von Hunderttausenden. In versteckten Briefen ihrer Mutter entdeckte die Autorin diese Liebe zwischen Schuld und Glück.
Im Nachkriegsdeutschland: Edith verliebt sich in einen jungen Mann. Sieben Jahre lang treffen sie sich. Heimlich, denn der Mann ist mitverantwortlich für den Tod von Hunderttausenden. In versteckten Briefen ihrer Mutter entdeckte die Autorin diese Liebe zwischen Schuld und Glück.
Deutschland und Italien nach dem Krieg, die Zeit des Neuanfangs - auch für Edith. Doch die Schatten der jüngsten Vergangenheit zwingen sie zu einem Doppelleben.
Nürnberg, wenige Jahre zuvor: Im Justizgefängnis, wo Edith als Zeugin interniert ist, begegnet sie einem Mann, der sie fasziniert. Es ist der Anfang einer romantischen Liebe und einer tiefen Beziehung, die Haft und Flucht des Geliebten nach Rom überdauert - sieben Jahre lang treffen sich die beiden heimlich und schwören sich in ihren Briefen ewige Liebe. Doch der Mann war ein hoher Regierungsbeamter und SS-Standartenführer, mitverantwortlich für den Tod von Hunderttausenden.
Gisela Heidenreichs Spurensuche nach dem verborgenen Leben ihrer Mutter führt mitten hinein in das Schweigen der 50er Jahre, das aus Schuld und Verdrängung erwuchs.
Sieben Jahre Ewigkeit von Gisela Heidenreich
LESEPROBE
1. Kapitel
»Ein Frühling ohnegleichen«
Es muss sein.
Seit Jahrzehnten habe ich diesenKeller nicht mehr ausgeräumt.
»Speicherräumen« und »Kellerräumen«,das waren Programmpunkte im Haushaltskalender meiner Großmutter, sie gehörtenebenso zum Jahresplan wie »Frühjahrsputz«.
Eine ordentliche Hausfrau machte dasso: Speicher im Frühjahr kehren, Sommersachen aus dem alten Kleiderschrankholen und lüften. Keller im Herbst, um Platz zu schaffen für die neue Holz- undKohlelieferung. Den Rest des Jahres wurde gesammelt und alles aufgehoben, was»man mal brauchen« könnte, jede Tüte, jede Schachtel, jeder Karton - falls manmal ein Paket verschicken wollte. Dabei verschickten wir eigentlich keinePakete, an wen schon.
Wir bekamen gelegentlich welche, vonGroßmutters Schwägerin aus Schweinfurt zum Beispiel. Die wusste nicht, wohinmit dem Obst aus dem großen Garten, und schickte im Sommer einen großen Kartonvoll Zwetschgen - »Vorsicht! Glas« stand darauf in dicken Buchstaben, was michwunderte. Im Herbst kam das Paket mit Äpfeln und an Weihnachten das mit einemgroßen, schweren Christstollen und einer BlechdosePlätzchen.
Tante Rosina war eine wunderbareBäckerin, was man von meiner Großmutter nicht sagen konnte. Sie kochte gut,aber das Backen war nichts für sie, das hatte sie auch nicht gelernt zu Hauseim Lehrerhaushalt in der Rhön.
»Meinst du, meine Mutter hätteKuchen gebacken für sieben Kinder? Die war froh, wenn es genug Brot gab füralle.«
Einfachen Ölteig für denApfelstrudel konnte sie herstellen und Hefeteig für den Zwetschgendatschi imSommer und Rohrnudeln im Winter. Bei zunehmend besserer wirtschaftlicher Lagegab es gelegentlich einen sonntäglichen Hefezopf, aber Stollen zu Weihnachten?
Nein, das aufwendige Kneten undSchlagen des Teiges mochte sie ihren Handgelenken nicht mehr antun. Die warendick und geschwollen, steckten in ihren letzten Lebensjahren auch im Sommer inhandgestrickten Stulpen.
»Ich habe mein Leben lang genugWäsche gewrungen«, sagte sie, wenn sie den Mürbeteig für die Plätzchenzubereitete, das war nicht so schmerzhaft. Und ich war glücklich, dass ich dieHerzen und Sterne ausstechen durfte. Mit Eigelb bestreichen, bunteZuckerstreusel darauf und ab in den Ofen. Die letzten Reste des ausgerolltenTeiges, aus dem man auch mit der winzigsten Form keinen Stern mehr ausstechenkonnte, wurden am Blechrand mitgebacken und durftengleich gegessen werden. Die Plätzchen wurden in Blechdosen verpackt und auf demKleiderschrank im kühlen Schlafzimmer aufbewahrt. Einige durfte man an denAdventssonntagen essen, aber Tante Rosinas Blechdose wurde verschnürt und erstam Heiligen Abend geöffnet. Die feine Variation diverser Teigarten und Formengehörte zum Schönsten unterm Lichterbaum: Vanillekipferl, Nusshäufchen, mitMarmelade gefüllte Doppelkekse, mit Schokolade bestrichenes Sandgebäck, das aufder Zunge zerging. Am meisten faszinierten mich die schwarz-weißen Plätzchenmit Schachbrettmuster.
Speicherräumen war schlimm genug,aber wenigstens wurde man von Ziegelstaub und Spinnweben nicht ganz so schmutzigwie im Keller.
Dort hieß es den uraltenTrainingsanzug anziehen, dessen Hose längst zu kurz war. Beim Zerreißen derverrußten Kartons, die nach Jahren aussortiert wurden, und beim Kehren wurde soviel schwarzer Staub aufgewirbelt, dass er danach in den Haaren saß. Man sollteein Kopftuch aufsetzen, das hasste ich. In die Badewanne musste ich sowieso,und die wöchentliche Prozedur des Haarewaschens standauch an. Viel Arbeit war das, solange ich noch hüftlange Zöpfe trug. Ich saßauf einem Stuhl, Strähne für Strähne wurde von meiner Mutter glattgekämmt, das Ausrupfen nicht mehr entwirrbarer»Nester« tat weh.
Wenn ich jammerte, sagte meineMutter: »Stell dich nicht so an, meine Mutter hat sich nicht soviel Zeitgenommen für mich damals.«
Weil sie sich die Haare wegen derDauerwellen nicht selbst waschen konnte und alle zwei Wochen zum Friseur ging,musste sie immer ein Kopftuch aufsetzen: die Dreiecksspitze über die Stirn, diebeiden Enden vom Hinterkopf nach oben geschlungen, die drei Zipfel dann festineinander verknotet, fertig war eine eng anliegende Haube mit Schleife überder Stirn. Ich fand, das sah blöd aus, sie wahrscheinlich auch, denn sie nahmdas Tuch mit in den Keller und zog es vom Kopf, ehe sie wieder ins Treppenhausging.
Ich fand es auch ganz und garunsinnig, dass der Boden gekehrt werden musste, schließlich wurden ohnehinwieder neue Kohlen auf die freie Fläche in der Kellerecke geschüttet. Aber wokäme man da hin, den Kohlestaub liegenzulassen Jahrfür Jahr? Ich musste sogar in den Verschlag für die Eierbriketts schlüpfen, dieglatten, gepressten Kohlestückchen machten zwar nicht so viel Dreck wie dieBruchstücke, dennoch musste auch dort der Boden sauber sein, ehe der rußverschmierte Kohlenmann in schwarzer Arbeitskluft kam,den braunschwarzen Rupfensack von der Schulter gleiten ließ und rücklings denInhalt entleerte.
Als meine Großmutter zu alt und zuschwach war für den jährlichen Kellerputz, gab es im Kellerverschlag bald nurnoch einen schmalen Pfad zu Holz und Kohlen, und den versperrten die Fahrräder.Später, als eine Gasetagenheizung installiert worden war, als meine Großmutterlängst tot war, wuchs der Keller zu, Stück für Stück: die kaputte Stehlampe,der Stuhl mit dem abgebrochenen Bein, Großmutters Küchenhocker, an dem man sichLaufmaschen holte.
Als er bis unter die Decke gefülltwar und sie nicht mehr Fahrrad fahren konnte, benutzte meine Mutter den Kellernicht mehr. Irgendwann hat sie die Lattentür fest zugezogen und dasHängeschloss verriegelt, die letzen Kartons wären ihr entgegengefallen,hätte sie die Tür wieder aufgeschlossen.
»Hilfst du mir beim Kellerräumen?« fragte sie zwar gelegentlich, und ich antwortete: »Ja,ja, wenn ich mal Zeit habe.«
Ich hatte nie Zeit, und so war derKeller so geblieben, jahrzehntelang. Jetzt aber, nach dem Tod meiner Mutter,muss es sein. Die Wohnung ist ausgeräumt, die neuen Mieter verlangen einenbesenreinen Keller.
Vorsichtig öffne ich die Tür, stemmemich gegen den Kartonstapel, fange sofort an, die zu zerreißen, die mir entgegenfallen.
Das klapprige Fahrrad zur Seite, einverrosteter Heizkörper, die Stehlampe mit dem zerrissenen Pergamentschirm,uralte Holzskier mit abgeblättertem blauem Lack. Es waren ihre Skier, die siean mich weitergab, als wir ins Skilager fuhren mit der Klasse. Ich habe sieangestrichen, dass man nicht auf den ersten Blick sah, wie alt sie schon waren.Die leuchtende Farbe half freilich nicht, die längst veraltete Telemarkbindungzu verbessern. Es war mühsam, die Metallkabel in die beiden Seitenklammern anden Skiern einzufädeln, den starken Mittelteil in die Absatzrille einzupassenund zuletzt die Feder straff nach vorne zu spannen, bis sie einrastete. Daskostete viel Kraft, aber wenn die Bindung zu locker eingestellt war, ging siebei jedem stärkeren Schwung auf. Lange habe ich mich über die altmodischeBindung geärgert - meine Freundinnen hatten längst neue, signalfarbene Skiermit den ersten Sicherheitsbindungen.
Ich hätte die uralten »Brettln« ja schließlich auch wegwerfen können, als ichauszog damals und meine neuen silberfarbenen Kneisslskiermitnahm, die ich mir vom ersten selbstverdienten Geld gekauft hatte. Fast dieganzen Sommerferien hatte ich dafür in einer Papierfabrik gearbeitet, aber imnächsten Winter sind mir die Freundinnen nicht mehr davongefahren.
Das Gitterbett. Sie hat meinKinderbett aufgehoben. Die zerlegten Einzelteile lehnen hinter den altenBrettern, mit denen ich mir damals ein Bücherregal selbst gebaut hatte:Obstkisten in zwei Türmen übereinandergestapelt,Bretter als Brücken dazwischen. Man musste nur darauf achten, dass in denoffenen Kisten die schweren Lexika standen, dann hielt die Konstruktion rechtgut. Die Obstkisten hat meine Mutter wohl verfeuert, die Bretter waren zuschade dafür.
Dicke, schwere Kartons stehen imWeg, ich entziffere Fragmente von ehemals grünen Zollaufklebern. Natürlich, icherinnere mich an die heißbegehrten Kleiderpakete ausCleveland. Dort lebten die »reichen Verwandten«, die sich in den fünfzigerJahren ihrer deutschen Wurzeln besannen. Genaugenommenwar es mein Vetter zweiten Grades Charles, der das amerikanische Priesterkollegin Rom besuchte und auf der Suche nach Verwandten unsere Adresse in Tölzherausfand.
Im Dezember 1951 flatterte ein Briefmit einer Vatikanmarke ins Haus, in dem er sich als Sohn der Cousine meinerMutter vorstellte und uns bat: »I would love to spend Christmas with my German family, as I cannot afford theflight home for the season.«
Der Brief löste Entrüstung aus.
»Jetzt fällt es ihnen ein, dass esuns gibt«, war der bittere Kommentar der Großmutter, »im Krieg, wo wirgehungert haben, da hätten sie uns mal etwas schicken können, Reis und Mehl undKaffee, der ist doch billig da drüben, wo er auch wächst. Jetzt sollen wir denjungen Ami verpflegen, womit denn?«
Noch schwieriger war die Frage derUnterkunft, es gab nur ein einziges Schlafzimmer in unserer kleinen Wohnung,meine Großmutter schlief sowieso auf der Ottomane in der Küche. Da blieb nurder Gasthof Zantl nebenan; der »Pfarrer«, wie er inder Familie schon ab dem ersten Semester Priesterseminar genannt wurde, warselbstverständlich bereit, dort zu wohnen, die Kosten schienen ihn nicht zustören.
Und das Ansehen der Familie stieggewaltig in Tölz, seit bekannt wurde, dass der Pfarrer aus Rom mit uns verwandtwar.
Charles entstammte schon der zweitenGeneration der in den USA Geborenen und erinnerte sich nur noch an wenigedeutsche Worte aus seiner Kindheit, die er von seinem Großvater gehört hatte.So begrüßte er uns zu unserer Verblüffung mit »Griaßdi Gott«, konnte aber weiter nicht viel mehr als »Bitte« und »Danke« und »GuteNackt«, was mich sehr erheiterte. Glücklicherweise sprach meine Mutter gutEnglisch (sie hatte ja bei den Amerikanern in der Kaserne gearbeitet), undCharles war begierig, Deutsch zu lernen - und ich lernte meine erstenenglischen Wörter. Die Methode war einfach: wenn ich sowieso lesen üben musste,setzte er sich neben mich und hörte mir zu, wie ich laut vorlas. Dann deuteteer auf ein Bild im Buch, ließ sich den deutschen Namen sagen und nannte mir denenglischen, am nächsten Tag haben wir uns gegenseitig abgefragt.
Ich war glücklich über die Zuwendungdes freundlichen jungen Mannes, noch nie hatte mir jemand soviel Zeit gewidmet.Außerdem gefiel er mir vom ersten Moment an, beinahe hätte ich mich in ihnverliebt, aber die Vorstellung, ihn mal zu heiraten, musste ich mir natürlichsofort aus dem Kopf schlagen, schließlich wollte er Priester werden.
Bereits im Sommer danach kamen seineEltern und Geschwister mit ihm zusammen aus Rom. Sie waren mit der »AndreaDoria« von New York nach Genua gefahren, hatten Charles in Rom besucht undkamen dann mit ihm von dort mit dem Nachtzug. Meine Großmutter hatte wiedervergeblich auf »ein Pfund guten Bohnenkaffee« gehofft, das Mitbringsel kamdirekt aus Rom: ein großes Farbfoto von Papst Pius XII. in weißem Rahmen mitGoldleiste.
»Da kann ich mir auch nix davonabbeißen«, war der trockene Kommentar meiner Oma, aufgehängt wurde das Bilddennoch, aber sofort nach Abreise der Verwandten wieder abgenommen, dasAquarell von der Alpspitze mit den Enzianen wieder aufgehängt. Ein Ritual, dassich nun jährlich wiederholen sollte.
Sie mussten unendlich reich sein,diese Verwandten, in wechselnder Zusammensetzung der umfangreichen Sippe kamensie Jahr für Jahr, auch als Charles längst Priester und Lehrer an einem Collegein Cleveland war. Sie besuchten uns auch in München noch, wohnten dann in derFrühstückspension »Josephine« an der Barer Straße. EinDoppelzimmer mit Frühstück kostete dort zehn Mark für jede Nacht!
Ich wusste freilich nicht, wiebillig das zu jener Zeit für die Amerikaner war, jeder »buck«war noch vier Mark wert.
»How was your night at Josephine s?«pfl egte meine Mutter zuscherzen, wenn sie am Morgen zu uns kamen, die älteren Männer lachten über dieBemerkung, die jungen erröteten, was mich erkennen ließ, dass die Fragepeinlich war.
Und sie gingen jeden Tag insWirtshaus, weil sie meiner Großmutter keine Arbeit machen wollten - die hätteohnehin nicht gewusst, wie sie für so viele Leute hätte kochen sollen - unserEsstisch reichte gerade noch für die vielen Tassen, wenn die Gäste gelegentlichzum Kaffee kamen und begeistert waren von Omas Zwetschgendatschi undApfelstrudel.
»Das schmeckt wie daheim«,erinnerten sich die Tanten, denen allmählich auch wieder eingefallen war, dasssie deutschsprachig aufgewachsen waren.
Manchmal haben sie uns mitgenommenzum Abendessen, und ich aß zum ersten Mal im Leben im vornehmen Restaurant»Ratskeller« unter dem Rathaus am Marienplatz Rumpsteak mit Pommes frites.
Außer Schweinebraten mit Knödelkannte ich nichts auf der Speisekarte, und weil ich mir aussuchen durfte, wasich wollte, deutete ich tapfer irgendwohin und bestätigte brav dieunverständliche Frage: »Like itmedium?« mit Kopfnicken. Eshat mir so gut geschmeckt, dass ich mir später von meiner Firmpatin wünschte,mit ihr nach der Kirche in den Ratskeller zu gehen. Sie bestellte sichnatürlich den »Schweinsbrat n« und wunderte sich,dass ich das »blutige Trumm Fleisch« und die ihr völlig unbekannten »Kartoffelstangerl« mochte.
Als der Dollar keine vier Mark mehrwert war und die Preise auch bei Josephine und im Ratskeller stiegen, wurdendie amerikanischen Besuche seltener, Kleidersendungen kamen noch eine Weile.
Hatten sie anfangs Kleiderzurückgelassen, weil es praktisch war, dann Platz zu haben für einen Maßkrugaus dem Hofbräuhaus und Krippenfiguren aus Oberammergau, so sahen sie auch, wiefroh wir darüber waren, und schickten Pakete mit abgelegter Kleidung. Ich warglücklich, wenn von Cousine Mary auch etwas dabei war, sie war die Kleinste undsehr schlank, deren Röcke konnte ich anziehen. Auch wenn ich sie im Bundanfangs mehrmals umschlagen musste, den Saum umzunähen lohnte sich nicht, weilich so schnell wuchs.
Meine Großmutter freute sich überdie Blechdose Kaffee, die irgendwann zwischen den Kleidern lag, weil den Tantenaufgefallen war, wie teuer der Kaffee bei uns war. Die bunten Klamottenhingegen empfand sie als Zumutung: »So ein kitschiges Zeug zieh ich nicht an.«
Bis eines Tages tatsächlich einschlichtes schwarzes Kleid dabei war, mit einer silbergrauen Seidenborte amHalsausschnitt. Das fand sie »sehr elegant« und trug es an Weihnachten undspäter bei meiner Hochzeit.
Meine Mutter war besonders dankbarfür die pflegeleichten Sommerkleider, sie waren sehr praktisch für die Reise,sie knitterten nicht im Koffer, waren leicht zu waschen und »bügelfrei«: Daswar neu bei uns in den fünfziger Jahren.
Die dickwandigen Kartons dieserspäten, innerfamiliären »Care-Pakete« aus Amerikawurden immer aufgehoben, waren sie doch besonders stabil und groß. Man konnteandere darin stapeln, und sie waren gut geeignet für Zerbrechliches wieChristbaumschmuck und Einmachgläser.
Und es passten wieder alte Klamottenhinein: Ich finde Unterwäsche und Kleider meiner vor vierzig Jahren gestorbenenGroßmutter!
Die meisten kann ich zurKleidersammlung geben, keine Spuren von Motten. Ich zögere, das elegante Kleidmit der Seidenborte wegzulegen, zu deutlich sehe ich die alte, gebeugte Fraudarin vor mir.
Diese Kartons kann ich nichtzerreißen, ich werde ein Messer brauchen.
Mühsam habe ich mich vorgearbeitetzu dem Regal mit dem Ein gemachten. Ich kann es nicht fassen. Es gibt nochverschimmelte Marmelade, mehrere Weckgläser mit schwärzlichen kleinen Kugeln ineiner trüben Flüssigkeit.
Die Gummilasche ist mürb, unter derdicken Rußschicht entziffere ich: »August 1964.« Esist meine Schrift - ich erinnere mich: Wir durften Mirabellen ernten im Gartenvon Freunden, und ich habe sie eingeweckt. Meine Großmutter war im selben Jahrgestorben, sie hatte mir gezeigt, wie man im Einmachtopf Unterdruck erzeugte.Anscheinend habe ich es richtig gemacht: Vierzig Jahre später sind die Gläsernoch dicht verschlossen, wenn auch der Inhalt nicht mehr appetitlich aussieht.
Der hohe Aluminiumtopf steht auchnoch da, leere Einmachgläser darin, die Metallklammern zum Festhalten derGläser verrostet. Daneben Kaffeedosen mit krummen Nägeln, ausgeleiertenSchrauben: Tchibo-Dosen aus den ersten Jahren des Kaffeeversandhauses inHamburg. Zunächst in Taschentücher oder Servietten ein genäht, wurde der Kaffeespäter in Dosen mit wechselndem Design verschickt.
Sie wurden alle aufgehoben, die mitder bordeauxroten Samtapplikation und der goldenen Mäanderbordüre sah besonderskostbar aus; jetzt sind versteinerte Lebkuchen darin.
Eine uralte Flasche Hennessy, einArmagnac Vieux mit zerfressenen Etiketten ausFrankreich. Wie kam sie dazu?
In dickem Zeitungspapiereingepackte, zerborstene Weinflaschen, die Flüssigkeit längstverdampft. Warum haben wir den Wein nicht getrunken, warum hat sie ihn nichtden seltenen Gästen serviert?
Ich bin jetzt schon erschöpft, derStaub reizt Augen und Lungen.
Warum hat sie das alles aufgehoben,alle die Fragmente eines unglücklichen, eines nie wirklich gelebten Lebens?
»Es war alles doch so anders gedacht.«
Und: »Soviel Schmerz in einemeinzigen Leben.«
Und: »Wozu das denn alles?«
Ich habe die Sätze im Ohr, die siein den letzten Tagen ihres Lebens immerzu wiederholt hat.
Aber auch den: »Ich bin so froh,dass wir unseren Frieden miteinander gemacht haben.«
Das habe ich auch so empfunden,sonst hätte ich sie nicht begleiten können in den letzten Wochen ihres Lebens,als sie nicht loslassen konnte von dieser Welt, obwohl sie sich das schon langegewünscht hatte.
Ja, ich bin auch froh, dass ichmeinen Frieden mit ihr gefunden habe, bin froh, dass kein Ärger, kein Zornaufsteigt in mir, weil sie es mir überlassen hat, die verrotteten Restbeständeihres Lebens zu beseitigen.
Freilich hätte sie das zuletzt auchnicht mehr gekonnt, aber vor zehn Jahren war sie noch fi t, damals hat sie diefünf Stockwerke bis zu ihrer Wohnung ohne Lift noch spielend gemeistert. Hättesie nicht ab und zu das eine oder andere Teil in die Mülltonne werfen können?
Und hat nicht der erwachsene Enkeljahrelang hier bei ihr gewohnt, warum hat sie ihn nicht beauftragt, er hättedoch leicht den Keller räumen können?
Nun trifft es mich, fast empfindeich es als Strafe dafür, dass ich nicht alles für sie getan habe, was ich hättetun können.
Ich habe sie am Ende nicht bei mirzu Hause gepflegt, wie andere Töchter ihre Mütter. Sie hat sich von mirverstoßen gefühlt, als ich sie in ein Altenheim brachte. Aber habe ich ihrnicht angeboten, zurückzukehren nach einem Jahr, als ich sah, dass sie sichnicht einleben wollte im Seniorenstift am See, dass ihr der Blick auf dasWasser und die früher so geliebten Berge nicht half, sich dort wohl zu fühlen?Sie hatte es abgelehnt, es sei ihr zu laut bei uns, die Musik, die Julian mitseiner Band im Keller probte, sei ja nicht auszuhalten, der lautstarke Streitder Kinder, die Unruhe mit meinen Klienten im Haus. Nein, wenn ich sie allepaar Tage besuchte, um mit ihr spazierenzugehen, sieab und zu über das Wochenende nach Hause holte, so wäre das schon in Ordnungfür sie.
Ich habe getan, was sie wollte. Siehat trotzdem gelitten. Aber habe ich sie je anders als leidend gekannt?
Ich sitze auf Großmutters Hocker, vornübergebeugt wie sie, überlege aufzuhören, ich habeDurst, sehne mich nach einer heißen Dusche, will mich in einen Sessel kuscheln,vielleicht einen schönen Film sehen, am besten einen mit langen Stränden antürkisfarbenem Meer oder einem weiten Blick über Berggipfel.
Es nützt nichts, bald kommen dieSöhne mit dem geliehenen Anhänger, um zur Sperrmülldeponie zu fahren. Dann mussich alles rausgeschafft haben. Eine kurze Pause muss genügen, ich gehe hinaufin die Wohnung, wasche die Hände, trinke eine Wasserflasche leer, nehme einKüchenmesser mit hinunter zum Zerschneiden der stärksten Kartons.
© DroemerKnaurVerlag
- Autor: Gisela Heidenreich
- 2007, 431 Seiten, Maße: 14,7 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426273810
- ISBN-13: 9783426273814
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